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# taz.de -- Der Autor auf der Suche nach Stoff: See something, say something
> Zungenholprige Patrioten, präzise Putschbilder und die ständige
> Wiederholung unsinniger Warnungen: So findet der Autor zu seinen Themen.
Bild: In wem lauert ein Taschelzieher?
Jubiläum: Seit zehn Jahren schreibe ich das Schlagloch, alle fünf bis sechs
Wochen meist, bis zu zehn Stück im Jahr. Eine unzu(ver)lässige
Verkehrsstörung, seit einem Jahrzehnt. Ich habe mich darauf eingelassen,
ohne zu ahnen, was mich erwartet. Wie beim Marathonlauf. Man setzt einen
Schritt, dann einen weiteren, dann den nächsten – und irgendwann hat man
Athen erreicht und wundert sich über die zurückgelegte Strecke.
Doch wie entsteht ein Schlagloch?
Alle vier Wochen beginne ich, mich auf den Hauptstraßen der öffentlichen
Wahrnehmung und den Nebengassen des individuellen Interesses umzuschauen.
Bleibe irgendwo stehen, schaufele probehalber ein kleines Loch, steige
hinein und hinab, um zu sehen, ob ich die Welt noch im Blick behalten kann.
Probebohrungen, je nachdem, was mir entgegenweht, was mich in Beschlag
nimmt.
## Sprachliche Fehlpässe
Neulich zum Beispiel begann dieser Such-und Bohrungsprozess beim Halbfinale
und Finale der Europameisterschaft (im Herrenfußball, für
Nichteingeweihte). Die Kommentatoren – das sind jene seltenen Fernsehwesen,
die sich nicht auf ihr gutes Aussehen verlassen können – spielten einen
sprachlichen Fehlpass nach dem anderen. Der eine hatte offenbar noch nie
davon gehört, dass Länder im Deutschen meist sächlich sind (auch wenn dies
die superevidente Männlichkeit manch eines Stürmers beleidigen muss), ein
Satz somit, der mit Portugal beginnt, im Nebensatz mit „das“ weitergeführt
werden muss. Ein anderer Kommentator verwendete derart ausgefallene Verben,
er klang wie ein „Migrationsliterat“, der die Grenzen der deutschen Sprache
ausweitet.
Müsste ein Ereignis, das so starke nationalistische Emotionen weckt, nicht
von einem gepflegten Gebrauch der heimischen Sprache begleitet werden? Die
Frage vertiefte sich, als ich zufällig einige Tage später einen
AfD-Funktionär im Interview hörte und über seine Zungenholprigkeit bass
erstaunt war. Müsste nicht jemand, der das Reine des Deutschtums
verteidigen will, wenigstens das Wesentlichste dieser Nation ehren und
hegen und pflegen? Mit anderen Worten: Ein Patriot, der seine Sprache nicht
beherrscht, ist ein Widerspruch in sich und somit ein lächerliches
Phänomen. Andererseits entbehrt es nicht einer gewissen deftigen Ironie,
dass die Herren Müller, Maier oder Dampfplauderer dahergelaufene Ausländer
(wie mich) benötigen, um mit ihrem heiligsten Gut versöhnt zu werden.
Kaum hatte ich mich für dieses Thema entschieden, überrumpelte mich auf dem
Hauptbahnhof in Frankfurt eine öffentliche Ansage, ich soll auf mein Gepäck
aufpassen, weil Räuber unterwegs seien. Sofort war mir danach, meinen
Koffer eng zu umschlingen und mit ängstlichem Blick um mich zu schauen, so
martialisch war der Tonfall. O weh, das Privateigentum ist gefährdet, das
Abendland geht unter. Und das in Frankfurt, wo man bei Ankunft vor
Beutelschneidern ganz anderer Güte und Größe gewarnt werden sollte.
Das blieb nicht die einzige Ansage dieser Art. In Köln warnte man mich vor
Taschendieben, und ich begann, meine Mitmenschen mit misstrauischem Blick
zu taxieren: In wem lauert ein Taschelzieher (österreichischer
Sprachgebrauch) ?
Während des ganzen Frühjahrs hatte ich in den USA die forcierte Zurichtung
der Bürger in Zuträger und Denunzianten erlebt. Überall überfluten einen
dort nicht nur Ansagen, sondern auch gewaltige Schilder: SEE SOMETHING,
SAY SOMETHING. Die Crux liegt in der gefährlich vagen Formulierung:
something. So rufen etwa Bürger aus wohlhabenderen Wohngegenden die
Polizei, wenn ein Schwarzer in einem ramponierten Auto in ihrer Nähe kurz
anhält. Die ständige Wiederholung unsinniger Warnungen führt zu Hysterie,
und Hysterie ist eine fatale kognitive Schwäche.
Neulich fiel im ICE ein Koffer auf, der laut einem Passagier (in diesem
Fall treffen beide Bedeutungen von „laut“ zu) keinem Reisenden gehörte. Ein
Sturm der Erregung hob an, ein jeder fühlte sich bemüßigt, den Mund voller
Spekulationen, den Kommissar zu spielen. Der Schaffner rief den Besitzer
des Koffers auf, sich zu identifizieren. Niemand. Es wurden schon ein
Nothalt und ein Polizeieinsatz diskutiert. Interessanterweise verließ aber
niemand das Abteil.
Da reckte ein indischer Geschäftsmann seinen Hals und erkundigte sich nach
dem Grund für diese tamasha (Hindi für deutsche Aufregung). Es war sein
Koffer, er war nur eingeschlafen. „Seien Sie wachsam“ erhielt eine neue
Bedeutung: Kampf dem Nickerchen.
## Aufstand in Echtzeit
Dieses wichtige Thema wurde am Freitagabend von den Ereignissen in der
Türkei weggeblasen. Es ist nicht häufig im Leben, dass man eine Revolution
oder einen Aufstand oder einen Putsch in Echtzeit im Internet miterleben
kann. Im Herbst 1989 erhielten wir bei den blutigen Ereignissen in Rumänien
nur wenige Bilder und noch weniger Informationen. Doch das wenige hat
gereicht, um zu beurteilen, dass manches vor sich ging, gewiss (und leider)
aber keine Revolution. Über Webseiten wie breakingnews.com konnte man sich
dieses Mal während der Nacht ein schnelles und erstaunlich präzises Bild
über den dilettantisch organisierten Putsch machen.
Unvergesslich das Bild des allmächtigen Präsidenten, der wie ein
Freischärler oder Aktivist über sein Handy einen Aufruf zum Widerstand
lanciert, mithilfe jener Medien, die er seit Jahr und Tag verteufelt.
Zukünftige Revolutionäre werden die Ereignisse des vergangenen Wochenendes
studieren müssen, um zu begreifen, wie man in Zeiten vielfältiger und
komplexer Kommunikation die herrschende Macht in die Knie zwingt. Und
klassische Putschisten werden es zukünftig, das haben wir nun erfahren,
schwerer haben. Wahrlich, dieses Thema lohnt ein Schlagloch, aber die Zeit
ist um, der Platz schon vollgeschrieben, das Loch tief genug.
Bleibt jetzt nur noch die Frage: Was ist eine Kolumne? Die kleine Schwester
des Essays. Eigenwillig und dickschädlig einerseits, flink und assoziativ
wendig andererseits, das Spezifische als Krönung des Allgemeingültigen,
manchmal als Narrenkappe.
22 Jul 2016
## AUTOREN
Ilija Trojanow
## TAGS
Schwerpunkt AfD
Schlagloch
Schwerpunkt Türkei
Lesestück Recherche und Reportage
Schwerpunkt Türkei
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Schwerpunkt Olympische Spiele 2024
Schwerpunkt Rassismus
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Raif Badawi
Schwerpunkt Flucht
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