# taz.de -- Nach dem Putsch in der Türkei: Der Parallelfeind in dir | |
> Die Türkei driftet in zwei Universen ab. Im einen wird der | |
> Ausnahmezustand bejubelt. Im anderen ringt man um den Verstand, der das | |
> begreifen soll. | |
Bild: Das Erdogan-Universum hat großen Bedarf an Nationalflaggen | |
Wenn es ein Feind aus dem Ausland wäre, könnte man es nachvollziehen“, sagt | |
der Mann auf dem Istanbuler Taksim-Platz zu mir, „aber wenn einer aus | |
deiner Mitte deine eigene Waffe auf dich richtet, dann musst du den doch | |
hinrichten.“ Er schaut mir in die Augen. In der Nacht des Putschversuches | |
habe er seine Wohnung verlassen: „Wenn ich einen Panzer gesehen hätte, ich | |
hätte mich ihm in den Weg gestellt, und hätte es mich das Leben gekostet“, | |
sagt er. Zum „Fest der Demokratie“ auf dem Platz ist der Mann, Mitte 50, | |
gekommen. Auf Riesenleinwänden laufen die immergleichen Clips der AKP, aus | |
der Menge erheben sich Allahu-akbar-Rufe dazu. Der Mann fragt: „Hätten die | |
Verräter gesiegt, könnten du und ich dann hier frei sprechen?“ | |
Wären die Militärs am 15. Juli bei ihrem Versuch, „Demokratie“ zu | |
installieren, erfolgreich gewesen – nein, dann würden er und ich nicht frei | |
sprechen können. Die Bürger des Landes kennen den Preis für Militärcoups; | |
sie wissen, was ihnen zu Putschzeiten verboten war. | |
Seit jenem Freitag geschehen in der Türkei Dinge, die jenseits des | |
Verstandes liegen. Über Nacht sahen wir, wie ein amateurhafter Plan für | |
einen Militärputsch in ein Horrorszenario umschlug. Panzer rollten gegen | |
Zivilisten, Gewehre wurden in Tötungsabsicht abgefeuert. | |
In den kurdischen Provinzen sind die Menschen den trommelfellzerreißenden | |
Lärm der Kampfjets gewohnt – jetzt zerbarsten auch in Ankara | |
Fensterscheiben, als das Parlamentsgebäude bombardiert wurde. | |
In der Putschnacht starben 265 Menschen, 1.440 wurden verletzt. Darunter | |
die jungen Wehrpflichtigen, die, ohne von den Putschplänen zu wissen, auf | |
die Bevölkerung gehetzt und später gelyncht wurden. | |
## Jenseits des Verstandes | |
Der Putschversuch wurde erstickt, doch immer noch passieren Dinge, die | |
jenseits des Verstandes liegen. Weit über die Streitkräfte hinaus begann | |
eine Säuberungswelle, die bisher fast 60.000 Personen erfasste – von der | |
Justiz bis ins Familienministerium, von der Börse bis zu den Assistenten | |
des Staatspräsidenten. 95 Prozent aller Hochschuldekane sind zum Rücktritt | |
aufgefordert worden. Alle Beamten und Angestellten im öffentlichen Dienst | |
mussten ihren Urlaub abbrechen und sind mit Einschränkungen bei | |
Auslandsreisen konfrontiert. Es wird darüber geredet, den Erwerb von Waffen | |
für alle zu erleichtern – zum Schutz gegen Putschversuche. Es werden | |
Hotlines eingerichtet für Denunziationen. | |
Während Fotos von Soldaten geleakt werden, denen offensichtlich | |
Geständnisse unter Folter abgepresst wurden, wird der Vorschlag laut, den | |
Putschisten ein Ohr abzuschneiden, damit sie für immer zu erkennen sind. Es | |
wird darüber gesprochen, die Putschisten auf einem separaten Friedhof zu | |
beerdigen – ohne religiöse Bestattungsriten. | |
Der Machthaber macht hinter dem Putsch die Gülen-Gemeinde aus, gegen die | |
ohnehin permanent vorgegangen wird, seit die Weggemeinschaft zwischen | |
Erdoğan und Gülen zerbrochen ist. Seit Freitag hören wir, dass in manchen | |
Wohnungen voller Furcht Bücher von Gülen verbrannt werden. Viele Dinge, die | |
in der Türkei geschehen, liegen jenseits des Verstandes. | |
Der Mann, der mich auf dem Taksim-Platz fragte, ob wir, hätten die Verräter | |
gesiegt, noch frei sprechen könnten, wird kurz darauf sein Gesicht Erdoğan | |
zuwenden, der auf den Riesenleinwänden erscheint. Er wird applaudieren, als | |
der Staatspräsident den Ausnahmezustand verkündet. | |
Es wird von unserem Verstand verlangt, dass er damit klar kommt, dass der | |
Ausnahmezustand mit Applaus und Böllern begrüßt wird. Seit dem 15. Juli | |
verstummen die Hupen auf den Straßen nicht, die Allahu-Akbar-Rufe reißen | |
nicht ab. Statt Trauer um die Toten und Stolz, einen Putschversuch | |
abgewendet zu haben, hält die AKP mit dem „Fest der Demokratie“ ihre | |
Anhänger auf den Straßen. | |
## Polizeigewalt in kurdischen Provinzen | |
Hätte ich mich in jener Nacht einem Panzer entgegenstellen können? Ich bin | |
unsicher. Aber das liegt nicht zuletzt daran, wie viel Polizeigewalt wir | |
als Journalistinnen in den letzten Jahren erlebt haben, wenn wir über | |
soziale Proteste berichten wollten, und daran, wie sich unser Herzrhythmus | |
verändert hat durch das, was wir in den kurdischen Provinzen als | |
Augenzeugen sahen. | |
Doch ich weiß auch, dass die Vorstellung, sich Panzern in den Weg zu | |
stellen, zum Inventar der Träume gehört, die ich und viele andere über die | |
Verfasstheit der Menschheit hegen. Wieso aber fällt es manchen in der | |
Türkei dann so schwer, die Feiernden zu verstehen? Dass die einen ein „Fest | |
der Demokratie“ feiern und die anderen mahnen, auch dabei handele es sich | |
um einen zivilen Putsch, ist nur in Paralleluniversen möglich. | |
Im Nachhinein hat Erdoğan seinen Intimfeind Gülen beschuldigt, einen | |
“Parallelstaat“ errichten zu wollen. Aber können zwei Geraden, die sich an | |
einem Punkt im Universum berührt haben, Parallelen sein? | |
Doch selbst wenn sich alle politischen Parteien und die gesamte | |
Zivilgesellschaft darin einig sind, gegen den Putsch zu stehen, driften die | |
beiden Universen der Wähler Erdoğans und derjenigen, die es nicht sind, | |
immer weiter auseinander. Nur so lässt sich erklären, warum es uns so | |
schwer fällt zu verstehen, weshalb nachts um drei, als ich diesen Beitrag | |
fertig schreiben, Autos hupend den Ausnahmezustand feiern, der Grundrechte | |
und Freiheiten einschränkt und das Parlament außer Kraft setzt – was auch | |
eine Form ist, es zu bombardieren. | |
24 Jul 2016 | |
## AUTOREN | |
Pınar Öğünç | |
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