| # taz.de -- Debatte Sprachkritik: Gefühlte Argumente | |
| > An US-Universitäten wird Sprachkritik zunehmend zur Wortpolizei. Selbst | |
| > hehre Absichten zerschellen an den Klippen der Empfindsamkeit. | |
| Bild: Sie sollten sich besser genau überlegen, welches Kostüm zu Halloween an… | |
| Der Besucher stößt im Dartmouth College in New Hampshire im Untergeschoss | |
| der Bibliothek auf ein Wandgemälde, das „The Epic of American Civilization“ | |
| heraufbeschwört, eine albtraumartige Vision des mexikanischen Künstlers | |
| José Orozco. In gewaltigen Ausmaßen wird die gewalttätige Geschichte | |
| Amerikas abgebildet, ohne einen einzigen verklärenden Farbklecks. Offenbar | |
| hatten die Verantwortlichen etwas anderes erwartet, denn das verstörende | |
| Werk provozierte und irritierte so sehr, dass sie bald darauf einen | |
| einheimischen Künstlers namens Walter Beach Humphrey beauftragten, ähnlich | |
| großflächig eine Wohlfühlversion der eigenen Geschichte zu malen. | |
| Leider gerieten die Bilder von noblen Wilden, die von einem Prediger zur | |
| Erleuchtung geführt werden, sowohl lächerlich als auch rassistisch. In | |
| einem der Gemälde sieht man ein halbes Dutzend kaum bekleidete | |
| Indianerinnen, in Posen, so unschuldig, dass sie fast lasziv wirken. Diese | |
| verstörende Heile-Welt-Romantik wurde weggesperrt, Neugierige benötigen | |
| eine besondere Zugangserlaubnis. | |
| Bei diesem Gefecht divergierender Darstellungen aus den dreißiger Jahren | |
| des letzten Jahrhunderts wurde ein Kampf vorgenommen, der inzwischen auf | |
| fast jedem Campus der USA entbrannt ist. Doch die Fronten zwischen | |
| progressiv und reaktionär sind keineswegs stets so klar, wie man meinen | |
| könnte. Immer öfter wird Sprachkritik zur Wortpolizei und diskursive | |
| Vielfalt zur dogmatischen Einfalt. Die aufgeheizte Stimmung firmiert unter | |
| dem nichtssagenden Titel der „politischen Korrektheit“. | |
| Landesweit bekannt wurde ein Fall an der renommierten Yale University vom | |
| letzten Herbst. Die universitäre Verwaltung hatte vor Halloween in einem | |
| Rundbrief die StudentInnen aufgefordert, auf potenziell beleidigende | |
| Kostüme zu verzichten (das bezog sich konkret auf das „blackfacing“, bei | |
| dem sich Weiße das Gesicht schwarz anmalen). Eine Dozentin verfasste | |
| daraufhin eine Mail, in der sie mehr Lockerheit anregte, die Fahne der | |
| freien Meinungsäußerung schwenkte und die Sorge äußerte, dass Colleges zu | |
| Horten der „Zensur und Entmündigung“ würden. „Gibt es keinen Platz mehr… | |
| einen jungen Menschen, ein wenig anstößig zu sein?“ | |
| ## Aggressive Forderungen | |
| Daraufhin tobte ein Shitstorm, und die Frau sowie ihr Ehemann, Professor an | |
| derselben Universität, sahen sich heftigsten Angriffen ausgesetzt. Die Mail | |
| der Dozentin übersieht fraglos, dass die von ihr geforderte Freiheit meist | |
| auf Kosten der Schwächeren und Machtlosen geht. Doch bezeichnend für die | |
| gegenwärtige Stimmung war nicht der selbstorganisierte Protest, der in der | |
| Folge den Anlass nutzte, um die systematische Benachteiligung von | |
| Minderheiten an der Universität zu bekämpfen, auch nicht der wütende Ton | |
| (eine Frage des Geschmacks), sondern die aggressive Forderung, das Ehepaar | |
| zu entlassen. Dies hätte bedeutet, Meinungen wie ihre in realiter zu | |
| verbieten. In diesem Fall hat der Präsident von Yale den Forderungen | |
| widerstanden, aber es gibt eine Reihe von Dozenten, deren Verträge wegen | |
| ähnlich gelagerter Fälle nicht verlängert wurden. | |
| Es kann der beste Lehrer nicht unterrichten, wenn die Klasse sich | |
| verweigert. Etwa zur selben Zeit kam es an dem renommierten Bard College zu | |
| folgendem Nichtverständnis: Der somalische Schriftsteller Nuruddin Farah | |
| wollte anhand des Romans „Winter in the Blood“ von James Welch | |
| Vergewaltigung als literarisches Thema behandeln. Die Studentinnen | |
| weigerten sich, mit der Behauptung, Vergewaltigung sei kein „Thema“, | |
| sondern eine brutale Realität, die sich der intellektuellen | |
| Auseinandersetzung entziehe. Mit anderen Worten: Allein ihre emotionale | |
| Reaktion ist legitim; sie ersetzt Analyse und Urteilskraft. | |
| Das ist kein Einzelfall. Gerade die Politik der eigenen Identität bedient | |
| sich der Gefühle als entscheidender Filter. Was als verletzend empfunden | |
| wird, ist anstößig. Und dagegen ist kein Argument gewachsen. Selbst die | |
| hehrsten Absichten zerschellen an den Klippen der Empfindsamkeit. Das gilt | |
| inzwischen für alle Gruppen, selbst für konservative Weiße. Als vor einigen | |
| Wochen einer der Richter am obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten, | |
| Antonin Scalia, im Alter von achtzig Jahren verstarb, formulierten einige | |
| Juraprofessoren eine Kritik seines reaktionären Lebenswerks. Empörte | |
| Reaktionen forderten die Rücknahme dieser Stellungnahme, weil sie die | |
| Gefühle von Studierenden verletzt habe, die Scalia bewunderten. Es kann | |
| also jeder im Saft der eigenen Überempfindlichkeit schmoren. | |
| ## Erfolgreiche Beschwerden | |
| Manche Vorfälle sind komplexer: Im Februar 2013 baute sich ein weißer | |
| Student in der Mensa der Washington University in St. Louis vor einem Tisch | |
| auf, an dem ausschließlich schwarze Kommilitonen saßen, und trug den Rap | |
| „Bitches Ain’t Shit“ von Dr. Dre vor. Es sollte sich herausstellen, dass | |
| dies seine Mutprobe war, um in einer der in den USA weitverbreiteten | |
| Studentenverbindungen aufgenommen zu werden. Die naheliegende Vermutung, | |
| die Anstifter hätten sich einen (wohl rassistischen) Spaß daraus gemacht, | |
| den üblichen Spieß (schwarzer Sänger, weißes Publikum) umzudrehen, wurde | |
| relativiert, als bekannt wurde, dass der Student auf dem Gymnasium intensiv | |
| Rap praktiziert hatte und – als einziger Weißer – mit der schulischen | |
| Truppe öffentlich aufgetreten sei. | |
| Man könnte in einem Seminar anhand dieses Falls das Auseinanderfallen von | |
| Signifikant und Signikat bei kommunikativen Inversionen studieren, | |
| enthielten solche Themen nicht so viel Sprengraft, dass die Lehrkörper sie | |
| überwiegend meiden. Wenn StudentInnen sich erfolgreich beschweren können, | |
| dass ihnen „anstößige“ Texte von Mark Twain und Edward Said (ein Beispiel | |
| von vielen) vorgesetzt worden seien, werden vorsichtige, karrierebewusste | |
| DozentInnen all jene Texte aussondern, die provozieren, verwirren und | |
| irritieren. | |
| Oft geht es nicht um politischen Widerstand, sondern um das Vermeiden | |
| emotionalen Unbehagens. Die Folge: Der pluralistische Diskursraum, eine der | |
| Voraussetzungen für die Veränderung sozialer und kultureller Realitäten, | |
| wird verengt, dominiert von vereinfachenden Zuordnungen, die als | |
| Selbstzweck einem reinen Sicherheits- und Wohlfühlbedürfnis genügen. | |
| 2 May 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Ilija Trojanow | |
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