# taz.de -- Thermometerfabrik in Indien: Tödliche Quecksilbervergiftungen | |
> Seit Jahren kämpfen Aktivisten und Arbeiter einer ehemaligen Fabrik gegen | |
> Unilever. Der Konzern soll Böden und Menschen vergiftet haben. | |
Bild: In dieser Fabrik in Kodaikanal wurden die Thermometer produziert. | |
CHENNAI/KODAIKANAL taz | Mitten im Gespräch steckt RV Ravi seinen Daumen in | |
den geöffneten Mund, kurz darauf liegt sein Gebiss in der Hand. Dem | |
46-Jährigen fehlen sämtliche oberen Zähne und auch unten sind es nur noch | |
wenige. RV Ravi, der keinen Nachnamen hat, sagt, er sei über Jahre hinweg | |
von Quecksilber vergiftet worden, und schuld sei sein früherer Arbeitgeber, | |
Unilever, in dessen Thermometerfabrik er fünf Jahre lang arbeitete. Er habe | |
15 Kilo an Gewicht verloren und seine Tochter sei behindert – auch das, so | |
Ravi, eine Folge des Gifts, dem der Konzern ihn ausgesetzt habe. | |
In der südindischen Gebirgsstadt Kodaikanal, in einem malerischen Wald auf | |
2.200 Metern gelegen, spielt sich seit 15 Jahren ein Konflikt um die | |
einstige Unilever-Fabrik ab. Damals wurde die Fabrik von der Umweltbehörde | |
des Bundesstaats Tamil Nadu geschlossen, weil mehrere Tonnen | |
quecksilberverseuchten Mülls auf einem nahe gelegenen Schrottplatz entdeckt | |
wurden. Die Firma musste 300 Tonnen Mülls und Bodens zur Entsorgung in die | |
USA exportieren. | |
Der Konzern, der in Deutschland Marken wie Rama, Langnese und Knorr | |
vertreibt, behauptet, die Umwelt sei nur teilweise und die Arbeiter gar | |
nicht vergiftet worden. Da es in Indien keine etablierten | |
Sanierungsstandards für Quecksilber gibt, streiten sich Umweltschützer und | |
Konzern wegen der Dekontaminierung des Bodens. Vor dem Hohen Gericht von | |
Madras klagen seit knapp zehn Jahren die ehemaligen Arbeiter auf | |
Entschädigung. | |
Doch Behörden und Gericht arbeiten langsam und die Geschichte verschwindet | |
immer wieder mal aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit. In diesem Sommer | |
wurde der Fall weltweit bekannt, als die Rapperin Sofia Ashraf ihm ein | |
eigenes Video widmete. Sogar Firmenchef Paul Polman sah sich zu einer | |
Reaktion genötigt: [1][Er twitterte, dass Unilever seit Jahren an einer | |
Lösung arbeite, und kritisierte „falsche Emotionen“] – vermutlich aufsei… | |
der Kritiker. | |
Die ehemalige Hindustan Unilever Thermometerfabrik liegt auf einem | |
Gebirgskamm im Süden von Kodaikanal, zwischen Wohnhäusern und einer Kirche. | |
Die Haupthalle steht seit über einem Jahrzehnt leer, aber am Tor hängt noch | |
das Eingangsschild, Sicherheitsleute verwehren den Zugang. Am Hang hinter | |
der Fabrik beginnt der geschützte Wald Pambar Shola. | |
Anfang der 80er Jahre, als Gesetze für den Umgang mit Quecksilber in den | |
USA verschärft wurden, verschob die Kosmetikafirma Chesebrough-Pond’s ihre | |
Thermometerfabrik nach Indien. Die Maschinen wurden in Watertown ab- und in | |
Kodaikanal wieder aufgebaut. In der kleinen Stadt war dies die erste | |
Industrieansiedlung und viele jungen Männer bewarben sich. | |
„Man hat mehr verdient als mit anderer Arbeit“, sagt Raja Mohammad, | |
Generalsekretär der Arbeitergewerkschaft. „Wir haben gehofft, in der | |
internationalen Firma Karriere machen zu können.“ 1986 kaufte Unilever die | |
Firma auf, bis 2001 produzierte sie rund 165 Millionen | |
Quecksilberthermometer. Nun klagt die Gewerkschaft im Namen von mehr als | |
500 Arbeitern auf Entschädigung. | |
Umweltschützer und ehemalige Arbeiter werfen der Fabrikleitung einen sehr | |
laxen Umgang mit einem der giftigsten Stoffe der Welt vor. So seien die | |
Beschäftigten gar nicht über die Wirkungen von Quecksilber aufgeklärt | |
worden und unzureichend vor Vergiftung geschützt worden. Ehemalige Arbeiter | |
leiden an zitternden Händen, Nierenbeschwerden, Gedächtnis- und | |
Gewichtsverlust, Zahnausfall und Fehlgeburten – Symptome, die auf | |
Quecksilbervergiftung hinweisen. 45 sind inzwischen gestorben, viele von | |
ihnen erreichten nicht einmal das 30. Lebensjahr. | |
## Illegal auf Schrottplätzen entsorgt | |
Die Firma soll außerdem tonnenweise mit Quecksilber durchsetzten Glasmüll | |
illegal auf Schrottplätzen entsorgt haben. Nach eigenen Berechnungen von | |
Unilever sind mehr als zwei Tonnen Quecksilber in die Umwelt entwichen, und | |
im Boden des Fabrikgeländes sind noch immer 360 Kilo des Stoffes enthalten. | |
Aktuelle Studien von Flechten im Wald unterhalb der Fabrik weisen noch hohe | |
Quecksilberwerte auf, laut Umweltschützern ein Indiz, dass die Umgebung | |
noch verseucht ist. Für die Sanierung des Gebietes will Unilever einen | |
Richtwert von 20 Milligramm Quecksilber pro Kilo Erde anwenden, der in | |
Deutschland für Wohngebiete gilt – Umweltschützer argumentieren aber, dass | |
die sensible Natur in der Umgebung einen viel strengeren Standard | |
erfordere. | |
Quecksilber ist das einzige Metall, das auf der Erde in flüssiger Form zu | |
finden ist. Bei Raumtemperatur bildet es giftige Dämpfe und kann bei | |
Menschen kurzfristig Schwindel und Übelkeit auslösen. Ehemalige Arbeiter | |
erzählen, dass verschüttetes Quecksilber oft bis zum Ende des Arbeitstages | |
liegen blieb. Wegen ihres Unwissens hantierten sie mit dem Stoff auch frei. | |
## Mit Quecksilber beworfen | |
„In der Fabrik war es laut, um die Aufmerksamkeit von jemandem zu bekommen, | |
bewarfen wir ihn oft mit Quecksilber”, erzählt einer der Arbeiter. Ein | |
anderer erzählt, wie sich das Schwermetall auf Augenbrauen und Schnurrbart | |
ablegten und es so auch in ihre Wohnungen gelangte. Viele erzählen, dass | |
sie mit der Zeit Schwächeanfälle bekamen und Blut brachen. | |
Laut Unilever wurden die Arbeiter regelmäßig auf Quecksilber untersucht und | |
versetzt, wenn sie zu hohe Werte aufwiesen. Der Konzern bestreitet, dass | |
die Symptome der Arbeiter oder die Todesfälle etwas mit der Fabrik zu tun | |
haben, und schreibt in einer Erklärung: „Wir würden niemals zulassen, dass | |
die Gesundheit unserer Angestellten beeinträchtigt würde, ohne dies | |
anzugehen.“ Der Konzern verweist auf mehrere medizinische Gutachten, die | |
aber wegen des laufenden Gerichtsverfahrens nicht einzusehen seien. Bis auf | |
[2][eine allgemeine Erklärung] hat sich Unilever geweigert, Fragen der taz | |
zu beantworten. | |
Zwei Gutachten, die vor dem Hohen Gericht von Madras eingereicht wurden, | |
liegen der taz vor und verdeutlichen die zwei Argumentationen. Für beide | |
untersuchten Ärzte die ehemaligen Arbeiter vor Ort. Das eine Gutachten, das | |
immer wieder von Unilever bemüht wird, weist darauf hin, dass die Symptome | |
der Arbeiter zwar von Quecksilbervergiftung stammen könnten, aber nicht | |
zwangsläufig. Hinzu zieht es interne medizinische Dokumente von Unilever, | |
denen zufolge es keine außerordentliche Belastung bei den Arbeitern gab. | |
Fazit: Die Symptome müssen von einer anderen Quelle stammen. | |
## Stapelweise Studien und Gegenstudien | |
Das andere, vom Arbeitsministerium der indischen Bundesregierung erstellt, | |
basiert auf den Aussagen der ehemaligen Beschäftigten über ihre | |
Arbeitsbedingungen – Aussagen, die seit 14 Jahren in ähnlicher Form | |
geäußert werden – und argumentiert, dass sie [3][offensichtlich von | |
Quecksilber belastet sein müssten]. Fazit: Ein Großteil der ehemaligen | |
Arbeiter sind vergiftet und ihnen steht Entschädigung zu. | |
Wenige Minuten vom Strand im Süden Chennais entfernt hat Nityanand | |
Jayaraman ein kleines Zweiraumbüro. Darin stapeln sich die Studien und | |
Gegenstudien, die seit 2001 rund um die Thermometerfabrik entstanden sind. | |
Jayaraman war der Journalist, der die illegale Verkippung des | |
Quecksilberschrotts 2001 aufdeckte. | |
Er organisierte damals den Protest und ist seitdem in das Geschehen | |
involviert, die Rapperin Sofia Ahraf ist eine Freundin von ihm. Noch bevor | |
die Fabrik geschlossen wurde, sei Unilever für ihn unglaubwürdig geworden: | |
[4][In einem Brief leugnete der Konzern (.pdf)] damals, dass die Verkippung | |
stattgefunden hatte – der einzige Punkt, den Unilever heute nicht | |
bestreitet. | |
## Quecksilber im Boden lassen | |
Die gesamte Geschichte sei voll von solchen Widersprüchen. „Kurz nach der | |
Schließung haben sie noch einen höheren Standard für die Sanierung | |
angeboten, den wir auch abgelehnt haben“, sagt Jayaraman. Doch dann | |
beauftragte Unilever eine Studie, die argumentiert, dass es besser für die | |
Natur sei, das Quecksilber im Boden zu belassen – die Entnahme des | |
verseuchten Bodens würde das sensible Ökosystem stören. | |
Seitdem befürwortet Unilever den schwächeren Standard für deutsche | |
Wohngebiete. Diese Studie, die ebenfalls der taz vorliegt, besagt außerdem, | |
dass die Mehrkosten für einen höheren Standard für den Milliardenkonzern | |
„unzumutbar“ seien. | |
Ende September fand erneut eine Sitzung der Umweltbehörde von Tamil Nadu | |
statt, zu der Unilever und Umweltaktivisten eingeladen wurden. Unilever | |
wiederholte das Bekenntnis zu dem schwachen Standard, die Umweltschützer | |
lehnten ihn erneut ab. Berichtet wurde wieder nur in der Lokalpresse, das | |
Interesse ist wieder abgeflaut. | |
17 Jan 2016 | |
## LINKS | |
[1] https://twitter.com/paulpolman/status/629124033716559873 | |
[2] https://www.unilever.com/news/news-and-features/2015/update-on-Kodaikanal-I… | |
[3] http://kodaimercury.org/final-report-of-the-goi-committee/ | |
[4] http://kodaimercury.org/backdoor/wp-content/uploads/2015/08/HLL_TO_NITY_7_M… | |
## AUTOREN | |
Lalon Sander | |
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