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# taz.de -- Flüchtlinge am Hamburger Hauptbahnhof: Das organisierte Chaos
> Täglich kommen 2.500 Flüchtlinge in die Hansestadt, die meisten wollen
> nach Schweden. Ehrenamtliche helfen, Behörden halten sich raus.
Bild: Flüchtlinge am Hauptbahnhof warten auf den Zug nach Skandinavien. Ein Sc…
HAMBURG taz | Ahmed Soliman muss sich erst einmal setzen und tief
durchatmen. Um ihn herum wuseln Menschen. Es ist chaotisch. Helfer in
neongelben Westen verteilen Obst, belegte Brötchen und Wasser an die
Ankommenden. Auf einem Zettel an einer Infowand ist die Zahl 1.000 mit
einem roten Filzstift übermalt worden: Rund 2.500 Flüchtlinge kommen laut
den Unterstützern derzeit täglich am Hamburger Hauptbahnhof an. Die meisten
wollen weiter. Nach Schweden, Finnland oder Norwegen.
Auch Soliman trägt an diesem Abend eine der grellen Westen. „Das sind meine
Leute“, sagt der 21-Jährige. Vor einem Jahr ist er selbst mit seiner
Familie geflohen, aus Aleppo, vor dem syrischen Bürgerkrieg. „Ich war wie
sie“, sagt er. Nun will er helfen. Er kann übersetzen: Sein Deutsch ist gut
und, noch viel wichtiger, Soliman spricht arabisch.
Soliman fragt die Ankommenden nach ihrem Ziel, bringt sie zum richtigen
Gleis – oder vermittelt ihnen Schlafplätze. „Ich sage ihnen auch, dass
Hamburg eine schöne Stadt ist, in der man gut leben kann.“ Einige hätten
sich dann schon entschieden zu bleiben, sagt er. Manchmal aber machten ihn
die Gespräche mit den Geflüchteten auch ganz schön fertig.
Gerade hat Soliman sich mit Ali unterhalten. Der möchte seinen Nachnamen
nicht nennen, aus Angst um seine Familie: Seine Mutter, seine Schwester und
seine Frau wurden verhaftet, erzählt Ali, er selbst konnte aus Damaskus
fliehen. Seinen neunjährigen Neffen Hussam hat er mitgenommen.
Ali zieht sein weißes Smartphone aus der Tasche seiner Winterjacke, zeigt
Fotos: von zerstörten Häusern, angeschossenen Menschen, Blutlachen – und
ein paar glückliche Familienbilder. „Das ist der Vater des Jungen“, sagt
er. „Der ist tot.“ So geht das weiter: Er zeigt ein Bild und sagt „tot“.
Sein Neffe steht mit großen Augen daneben und kaut auf einem bunt
verzierten Donut. Pläne für die Zukunft haben die beiden nicht. „Wir wollen
nur zusammenbleiben“, sagt Ali.
## „Wir kriegen das inzwischen besser hin“
Soliman nimmt so eine Geschichte mit. Er sitzt da, hat die Augen
geschlossen. „Es ist sehr hart“, sagt er. Dann rückt er sich die schmale
Brille zurecht und rafft sich wieder auf. Ein neuer Zug aus München ist
angekommen, Dutzende Menschen strömen zu dem improvisierten Infopunkt unter
einer Treppe, nicht weit weg vom Reisezentrum des Bahnhofs.
An den Telefonzellen hängen Zettel, „Flüchtlingshilfe“ steht darauf, auf
deutsch und in drei anderen Sprachen. Am Nachmittag haben Helfer draußen
vor dem Bahnhof zwei große Zelte aufgebaut. Die wurden gespendet, genau wie
das viele Essen, Windeln, Tampons, Babynahrung, Kleidung oder Medikamente.
Auf der Facebookseite „Antira HBF Support“ werden immer wieder lange Listen
veröffentlicht mit Dingen, die die Helfer und die Hilfsbedürftigen dringend
brauchen. Dass nicht auch noch das Lager, die Essensausgabe und die
Erste-Hilfe-Station unter der Treppe aufgebaut sind, sondern nach draußen
umgezogen, hat die Situation entzerrt.
„Wir kriegen das inzwischen besser hin“, sagt Pia Amerongen, eine von
denen, die die Hilfe organisieren. Schon deshalb, weil inzwischen genügend
Übersetzer dabei seien. „Vorher ging das mit Händen und Füßen.“ Seit dem
vergangenen Wochenende sind Ehrenamtliche am Bahnhof im Einsatz. „Hier kann
jeder helfen“, sagt Amerongen. „Man braucht nur starke Nerven.“ Ständig
kommen neue Freiwillige dazu.
## „Jetzt will ich endlich ankommen“
Manchmal geht die Hilfsbereitschaft der Leute aber daneben: Wenn abends
Feiernde vorbeikämen und die Situation sähen, wollten viele helfen, sagt
die Politikstudentin. „Die kaufen dann massenhaft Essen bei McDonald‘s.“
Viele der Tüten lagen unangetastet unter der Treppe. „Das mussten wir alles
wegschmeißen“, sagt Amerongen, „weil da Schweinefleisch drin ist.“
In der Wandelhalle ist es laut. An den Seiten haben sich Flüchtlinge auf
Isomatten, Decken und Taschen gesetzt. Einige versuchen zu schlafen. Jemand
ruft in die Menge: „Schweden!“ Ein Typ mit blondem Bart und roter Mütze
hält ein Schild mit dem Zielort in die Höhe, der nächste Zug in Richtung
Lübeck geht in Kürze. Von dort gibt es eine Fähre nach Schweden.
Der 17-jährige Hassan, ein langer Schlacks mit Bartschatten über der
Oberlippe, will da mit. Er ist mit seinem Vater aus Syrien geflohen, über
die Türkei, Griechenland, Serbien, Mazedonien, Ungarn und Österreich.
„Jetzt will ich endlich ankommen“, sagt er.
Die Gruppe setzt sich Richtung Gleis sechs in Bewegung. Noch fünf Minuten
bis zur Abfahrt. Trotzdem wird es eng. Hassan und sein Vater sind noch
nicht da. Über Lautsprecher wird schon die Abfahrt des Zuges durchgesagt,
als die beiden mit ihrem Gepäck in der Hand über den Bahnsteig rennen. Ein
Helfer hält die Tür auf – geschafft. Der Zug fährt los. Ein Flüchtling
kommt noch einmal ans Fenster und streicht sich mit den flachen Fingern
unter dem Kinn in Richtung der Helfer. Das heißt „Danke“.
## Der Deutschkurs beginnt
Elif Bittu grinst. „Schon wieder welche umsonst mitgeschickt“, sagt sie
zufrieden. Ein Bahnsprecher bestätigt, dass Flüchtlinge, die ohne Ticket
reisen, einen Ersatzfahrschein vom Schaffner erhalten. Das geht schon ein
paar Tage so. Am Infostand herrscht trotzdem Verwirrung. Es hält sich das
Gerücht, die Bahn hätte Flüchtlinge ohne Ticket zurückgeschickt. Die
meisten Freiwilligen kaufen deshalb zur Sicherheit Gruppentickets.
Draußen ist es dunkel geworden. Ein Helfer hält ein „Place to Sleep“-Schi…
hoch. Ein paar Flüchtlinge stellen sich dazu, junge Männer, aber auch
Familien mit kleinen Kindern. Sie sind erschöpft, brauchen eine Pause,
bevor sie ihre Fahrt nach Skandinavien fortsetzen. Andere haben sich noch
nicht entschieden, ob sie bleiben wollen. Hamburgs Innenbehörde hat die
Erstaufnahme dichtgemacht – keine Plätze mehr. Auch die Flüchtlinge, die in
Hamburg bleiben möchten, müssen am Bahnhof ausharren.
Heute Nacht können sie in der Al-Nour-Moschee unterkommen. 400 Schlafplätze
gibt es da. Auch das Schauspielhaus oder das „Kollektive Zentrum“ im
Münzviertel, Pfadfinderheime und Privatpersonen bieten für die Nacht einen
Platz.
Die Helfer sind trotzdem unzufrieden. In einer Pressemitteilung haben sie
die Stadt um Unterstützung gebeten, „um eine Katastrophe zu verhindern“.
Die Behörden halten sich zurück. Dies sei im Interesse der Flüchtlinge,
sagt der Sprecher des Hamburger Sozialsenators, Marcel Schweitzer. „Die
Menschen meiden den Staat, weil sie Angst haben, registriert zu werden.“
Von Beamten hinter dem Infotisch würden sich die Flüchtlinge nicht helfen
lassen, ist Schweitzer überzeugt. Deshalb helfe die Behörde durch Kontakte
und Spenden.
Soliman hat genug für heute. Morgen früh um neun beginnt sein Deutschkurs.
„In sechs oder sieben Monaten bin ich soweit“, sagt er. Dann möchte er
studieren und Informatik-Ingenieur werden. Das wollte er schon in Syrien.
Er tritt einen Schritt zur Seite, um eine Familie zum Infopunkt
durchzulassen. Morgen will er wieder kommen: „Es gibt genug zu tun.“
18 Sep 2015
## AUTOREN
Andrea Scharpen
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