| # taz.de -- Migranten auf dem Weg durch die Sahara: Auf der Route des Löwen | |
| > Lieber auf riskantem Weg nach Europa als in Gambia bleiben, sagt Mohammad | |
| > Cisse. Dass viele umkommen, hält ihn nicht ab. | |
| Bild: Auf LKWs und Pickups durch die Wüste nach Libyen, Europa entgegen. Schle… | |
| Niamey/Agadez taz | Muhammad Cisse* hat sich sein Basecap tief ins Gesicht | |
| gezogen und trägt eine Daunenjacke. Er musste die Nacht im Freien | |
| verbringen und hat nicht geschlafen. Ihm ist kalt und schlägt die | |
| schlacksigen Arme um die Brust. Ab und zu redet er ein wenig mit ein paar | |
| anderen Männern. Er ist größer als die meisten und die Zähne seines | |
| Unterkiefers stehen hervor. Alle sprechen Mandinka und ein wenig Englisch. | |
| Jeder der Passagiere merkt sofort, dass keiner unter ihnen aus dem Niger | |
| stammt. | |
| Um halb vier am Morgen ist es soweit. „Muhammad Cisse!“, ruft ein | |
| Mitarbeiter des Busunternehmens. Der 23-Jährige nimmt seinen Rucksack und | |
| muss noch einmal das Ticket vorzeigen. 20.500 CFA-Franc, umgerechnet 31 | |
| Euro, hat es gekostet. In vielen Ländern der Region ein halber Mindestlohn. | |
| Cisse klettert in den Überlandbus und sitzt zwischen zwei anderen, die wie | |
| er aus Gambia kommen. Der Bus bringt sie von Niamey, der Hauptstadt des | |
| Niger, nach Agadez und so 1000 Kilometer näher an Europa. | |
| In den ersten Stunden ist es still. Die meisten Reisenden sind Migranten, | |
| und jeder hat nur noch einen kleinen Rucksack bei sich mit den letzten | |
| Resten von dem, was sie in ihr neues Leben mitnehmen wollten. Nach sechs | |
| Stunden hält der Bus kurz in Konni vor der Grenze nach Nigeria. Muhammad | |
| Cisse kauft sich zuckersüße Plätzchen und Cola. Er ist groß aber genau so | |
| mager wie alle anderen Männer. „Ich komme aus Gambia und bin seit drei | |
| Wochen unterwegs“, erzählt er. Wenn es klappt, wird er bald an der Grenze | |
| zu Libyen und auf dem Weg nach Italien sein. „Die Autos sollen montags | |
| abfahren. Nächsten Montag bin ich dabei.“ Heute ist Freitag. Cisse setzt | |
| eine Sonnenbrille auf und post ein wenig. Der Busfahrer drängt zur Eile. | |
| Es ist das letzte Mal, dass Cisse entspannt wirkt. Nach Konni kommen die | |
| Straßensperren von Polizei und Zoll. Zum ersten Mal interessieren sich die | |
| Polizisten nicht für den deutschen Pass der Reporterin, sondern für die | |
| Reisenden aus Gambia, Senegal und Nigeria. Alle kommen aus der | |
| Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS, die Reisefreiheit ohne | |
| Visum propagiert. Doch der gambische Personalausweis zählt nicht. Sobald | |
| die Migranten aus dem Bus aussteigen, müssen sie bezahlen. Es ist nicht | |
| klar, ob das rechtens ist. Die erste Kontrolle dauert eine halbe Stunde und | |
| findet hinter einer Hütte statt. Niemand will Aufsehen erregen. „2000 hat | |
| es gekostet“, murmelt Cisse, als er zurück kommt. Eine Quittung hat er | |
| nicht. | |
| ## „Nimm das Geld“ | |
| Je weiter es nach Norden geht, desto mehr wird die Straße zur Piste. Die | |
| Checkpoints werden teurer. Als der Bus wieder hält, schiebt ein Nigerianer | |
| Scheine herüber und flüstert: „Nimm das Geld.“ Er hat Angst, dass ihm die | |
| Polizei alles abnimmt. Ein Junge aus Gambia zeigt auf ein Loch im | |
| Sitzpolster. „Dort habe ich es versteckt.“ Muhammad Cisse selbst verrät | |
| nicht, wo er sein letztes Geld hat. | |
| So geht die Fahrt weiter, die zwanzig Stunden dauern wird. Am letzten | |
| Polizeiposten wird besonders hartnäckig kontrolliert. Als Cisse und seine | |
| Leute endlich durch sind, verabschieden sie sich schnell. „Wir steigen aus. | |
| Hier wartet ein Freund auf uns.“ Abseits des Zentrums sind die Migranten | |
| mit Mittelsmännern verabredet, die oft dieselbe Nationalität haben. Meist | |
| haben sie schon vor der Reise eine Handynummer erhalten. Wer ohne Kontakt | |
| ist, findet hier einen. | |
| Die Kontaktperson bringt die Migranten in eines der sogenannten Ghettos, | |
| schäbige Hinterhöfe am Stadtrand, und erhält dafür Geld. Für die Betreiber, | |
| die auch die Weiterreise organisieren, ist das eine sichere Einnahmequelle. | |
| In Agadez weiß jeder von den Höfen, die es offiziell nicht gibt. Der Niger | |
| hat im Mai, auch auf Druck der EU, ein Gesetz verabschiedet, dass | |
| Menschenhandel mit bis zu dreißig Jahren Gefängnis bestraft. Trotzdem | |
| kommen pro Woche geschätzt mindestens 1000 Migranten. Es könnten auch | |
| deutlich mehr sein. Zwar sind die Akteure vorsichtiger geworden, doch die | |
| Stadt boomt. | |
| ## Nadelöhr in der Sahara | |
| Ein Treffpunkt war Agadez schon immer. Es liegt an einer der historischen | |
| Karawanenrouten durch die Sahara. Bis zu den ersten Entführungsfällen 2003 | |
| war die „Perle der Sahara“ beliebtes Reiseziel und Ausgangspunkt für Touren | |
| mit Geländewagen. Heute ist Agadez Nadelöhr für alle, die über Land und | |
| ohne Visum nach Europa wollen. | |
| Einen Tag später redet Muhammad Cisse nicht mehr so freimütig über die | |
| Weiterreise – und schon gar nicht auf der Straße. Entspannter wird er erst, | |
| als er auf einem Plastikstuhl in einem Hinterhof sitzt. Er wippt ein | |
| bisschen und ärgert er sich noch immer über gestern. „Die Polizisten haben | |
| mich ausgeraubt. Dabei bin ich doch arm.“ Was er bezahlen musste, rechnet | |
| er lieber nicht zusammen, nur so viel: „An dem letzten Stopp wollten sie | |
| 10.000 CFA-Franc haben.“ Insgesamt dürften es mindestens 20.000 CFA-Franc | |
| gewesen sein – so viel wie das Busticket. | |
| Dafür hat Cisse vor der Abfahrt in Niamey geschuftet. Wer nach Europa will, | |
| erhält häufig Startkapital von der ganzen Familie. Druck und Erwartungen | |
| sind deshalb groß. Unterwegs arbeiten die Migranten als Tagelöhner, | |
| erhalten aber auch kleinere Zahlungen aus der Heimat. Wenn sie ausbleiben, | |
| wird das verkauft, was noch wertvoll erscheint. Ein Handy hat Muhammad | |
| Cisse, der seine Sonnenbrille noch immer trägt, obwohl es längst dämmert, | |
| seit zwei Wochen nicht mehr. | |
| ## „Lieber von einem Löwen umgebracht werden“ | |
| Er zuckt mit den Schultern und versucht so lässig wie möglich zu wirken. | |
| Dass jedes Jahr tausende Menschen auf dem Weg nach Europa umkommen, tut er | |
| mit einer Handbewegung ab. Jeder wisse, dass die Überfahrt tödlich enden | |
| kann. „Wir haben ein Sprichwort: Lieber von einem Löwen im Busch umgebracht | |
| werden, als von irgendeiner Kleinigkeit.“ Wer sich nach Europa aufmacht, | |
| zeigt, dass er mutig und abenteuerlustig ist. | |
| Stärker treibt Cisse die Aussichtslosigkeit in seiner Heimat an. „Wir | |
| Jungen haben keine Jobs. Falls wir doch Arbeit finden, zahlt man uns etwa | |
| 50 Euro. Wenn du für deine Familie einen Sack Reis kaufst, ist das Geld | |
| schon fast alle.“ Cisse hat alle möglichen Jobs gemacht und auch, so sagt | |
| er, als Webdesigner gearbeitet. Aber nicht einmal das würde genügend | |
| einbringen. In Europa sei das anders. Dass er erst einmal eine | |
| Aufenthaltsgenehmigung braucht und nicht arbeiten darf, davon hat er nichts | |
| gehört. | |
| Manchmal gibt es aber auch in seiner Heimat Arbeit, bei der Regierung. Für | |
| die will er aber nicht arbeiten. „Ich spreche auch nicht über den | |
| Präsidenten. Meine Familie ist noch im Land“, erklärt er. Yahya Jammeh ist | |
| seit 21 Jahren an der Macht und gilt als größenwahnsinniger Diktator. | |
| Oppositionelle haben Gambia schon reihenweise verlassen. | |
| ## Ein Platz auf dem Pickup ist richtig teuer | |
| Aus dem kleinen Gambia kommen viele Migranten. Ähnlich wie beim großen | |
| Nachbarn Senegal hat Abwanderung Tradition. Menschen aus Ländern wie | |
| Burkina Faso und Benin trifft man hingegen eher selten. Wenn Burkinabé ihr | |
| Land verlassen, dann gehen sie meist in die Elfenbeinküste. Für Beniner ist | |
| Gabon oft das Ziel. | |
| Muhammad Cisse bricht auf. Bis Montag muss er noch einiges regeln. So muss | |
| er sicher sein, dass seine Familie wieder Geld schickt. Sonst kann er den | |
| Pickup nicht bezahlen. Ein Platz kostet umgerechnet 230 Euro und jeder Tag, | |
| den Cisse länger hier bleibt, verteuert die Reise. | |
| Montags ist der Andrang vor den Banken besonders groß. Junge Männer hocken | |
| auf den Stufen und warten auf Geld aus der Heimat, um es dann am Schalter | |
| von Western Union abzuholen. In Afrika kennt den Finanzdienstleister jeder, | |
| denn über seine Filialen wird beständig Geld aus Europa nach Hause | |
| geschickt. Das Warten hat sich für einige gelohnt. Der Reihe nach zahlt | |
| ihnen ein Mitarbeiter Geld aus. Muhammad Cisse gehört nicht dazu. | |
| Der Montag ist zum Reisetag geworden, weil es einen Konvoi an die libysche | |
| Grenze gibt. Die Strecke gilt als extrem gefährlich: Hitze, schlechte | |
| Pisten, überladene Fahrzeuge und Banditen. Dass der Konvoi auch die | |
| Menschenhändler unterstützt, davon will man im Rathaus von Agadez nichts | |
| wissen. Es gebe schließlich auch normale Nigrer, die dort reisen, heißt es | |
| dort nur. Trotzdem ist es die Route der Migranten. Dutzende Pickups fahren | |
| nach Einbruch der Dunkelheit ab. Bis zu dreißig Menschen quetschen sich auf | |
| ihnen. Wer bei der Fahrt herunterfällt, hat keine Chance. In den | |
| Abendstunden rasen ein paar Pickups durch die Stadt und lassen ahnen, mit | |
| welchem Tempo es durch die Wüste geht. Muhammad Cisse ist nirgendwo zu | |
| sehen. | |
| * Name geändert | |
| 15 Sep 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Katrin Gänsler | |
| ## TAGS | |
| Flüchtlinge | |
| Migration | |
| Niger | |
| Schwerpunkt Flucht | |
| MigrationControl | |
| Mali | |
| Niger | |
| Afrika | |
| Milizen in Libyen | |
| Burkina Faso | |
| Schleuser | |
| Flüchtlinge | |
| Libyen | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| ECOWAS-Beamter über EU und Migration: „Man kriminalisiert Migration“ | |
| Die westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft bleibt bei Verhandlungen | |
| zwischen EU und regionalen Staaten zur Migrationskontrolle außen vor, | |
| beklagt Sanoh N’Fally. | |
| Merkel besucht Niger: Kein Marshall-Plan für Afrika | |
| Die Bundeskanzlerin nennt die Forderung von Nigers Präsidenten „sehr | |
| ambitioniert“. Er hofft nicht nur auf „neuen Schwung“ in der | |
| Zusammenarbeit. | |
| Präsidentschaftswahlen in Niger: Die Gesichter des Hama Amadou | |
| Am Sonntag wählen die Nigrer einen neuen Präsidenten: Wie ein Kandidat aus | |
| dem Gefängnis heraus mit Erfolg Wahlkampf macht. | |
| Flucht in Afrika: Endstation Agadez | |
| Die nigrische Stadt Agadez liegt auf der Transitstrecke für Migranten. Die | |
| einen wollen nach Europa, die anderen zurück in ihre Heimat. | |
| „Angekommen – Flüchtlinge erzählen“: Die falschen Flüchtlinge | |
| Nicht nur Syrer haben Leid erfahren. Warum sind ihre Geschichten wichtiger? | |
| Ist es nicht legitim, eine Gleichbehandlung zu verlangen? | |
| Nach der UN-Vermittlung: Nun sind die Libyer dran | |
| Nach zähen Verhandlungen gibt es einen Text für ein Abkommen. Jetzt müssen | |
| die zerstrittenen Fraktionen in Libyen zustimmen. | |
| Militärputsch in Burkina Faso: Junta gegen Bürgerbewegung | |
| Vor den freien Wahlen verhaftet die Präsidialgarde die Regierung und setzt | |
| eine Militärjunta ein. Andere Kräfte fordern „zivilen Ungehorsam“. | |
| Flüchtlinge in Libyen: Die vergessene Katastrophe | |
| In Nordafrika sorgen die EU-Pläne, mit Schleuserschiffen rabiat umzugehen, | |
| für Kopfschütteln. Die Helfer dort haben andere Sorgen. | |
| Flüchtlinge auf Malta: Die Insel ist voll | |
| Kein EU-Staat liegt näher an den Flüchtlingsunglücken im Mittelmeer als | |
| Malta. Die Toten vom 19. April sind hier begraben. Ein Ortsbesuch. | |
| Transitraum Libyen: Die bessere Seite der Sahara | |
| Tausende fliehen jede Woche von Niger nach Libyen. Sie wissen, die Wüste | |
| ist gefährlich. Doch das Chaos in Libyen ist ihre Chance. |