Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Flüchtlinge auf Malta: Die Insel ist voll
> Kein EU-Staat liegt näher an den Flüchtlingsunglücken im Mittelmeer als
> Malta. Die Toten vom 19. April sind hier begraben. Ein Ortsbesuch.
Bild: Die Regierung baute Gefängnisse. Die Flüchtlinge kommen trotzdem
VALETTA taz | Bei den toten Babys, ganz hinten, war noch Platz. An die
Kinder, die hier begraben sind, erinnern Stofftiere, Spielzeuge, Fotos, an
die Unbekannten erinnert nichts. Keine Steine, keine Namen. Die sechs
Gräber mit den Nummern 47 bis 52 im Sektor D mussten reichen für die 24
Leichen der Flüchtlinge.
Malta ist das am dichtesten besiedelte Land der EU, entsprechend beengt
geht es auf dem Hauptfriedhof Santa Maria Addolorata zu.
800 Menschen ertranken am 19. April im Mittelmeer vor Libyen, es war die
bislang größte Katastrophe dieser Art. Maltesische und italienische Retter
kamen gemeinsam zu dem Unglücksort auf See. 27 Menschen überlebten, 24 Tote
wurden geborgen.
Auf seinem Rückweg machte das italienische Kriegsschiff „Gregoretti“ im
Hafen der maltesischen Hauptstadt Valetta halt. Die Leichen lud es ab, die
Lebenden nahm es mit nach Sizilien. Zur Trauerfeier in einem Zelt auf dem
Flughafen von Malta kamen Italiens Innenminister Angelino Alfano und
EU-Kommissar Dimitris Avramopoulos; der Bischof und der Imam von Valetta
sprachen Gebete. Eine Woche ist das her.
Nun liegt auf dem Friedhof eine graue Abdeckplatte, die Einfassung ist mit
hellem Zement abgedichtet, ein paar Blumen verwelken. Zwischen all den
prächtigen Gruften, Familienkapellen und Grabsteinen der erzkatholischen
Insulaner sieht es aus, als wären die toten Flüchtlinge gar nicht da.
## Jeder wird hierhergebracht
Doch überall auf den Straßen der Insel sind die lebenden Flüchtlinge zu
sehen. Malta, dessen Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung rund halb so hoch ist wie
in Deutschland und dessen Fläche deutlich kleiner als Berlin, ist zuständig
für alle Notfälle in einem Seegebiet vom Ausmaß aller alten Bundesländer.
Kein EU-Staat ist näher dran an den Unglücken vor Nordafrikas Küste. Und
jeder, den die maltesische Küstenwache rettet, wird normalerweise
hierhergebracht.
1.600 Menschen stellten hier letztes Jahr einen Asylantrag. Auf die
deutsche Bevölkerungszahl bezogen, wären das 330.000, für Malta war es ein
Rekordtief. Seit Langem führt das Land die EU-Asylstatistik an. Die meisten
Ankommenden stammen aus Kriegsgebieten, zwei von drei Flüchtlingen werden
anerkannt – fast doppelt so viele wie in Deutschland.
Doch auch wer anerkannt ist, darf legal erst nach fünf Jahren weiterziehen.
Wer kein Geld hat, kommt ohnehin kaum weg. Tausende sitzen auf der Insel
fest. Wenn es irgendwo in Europa eine Flüchtlingskrise gibt, dann hier.
Für Mittwoch und Donnerstag hat sich deshalb Bundespräsident Joachim Gauck
angekündigt. Schon am Montag hängen an den Masten an der Straße vom
Flughafen in die Hauptstadt Deutschlandfahnen. Auf halber Strecke, in der
Stadt Marsa, liegt ein Verkehrskreisel. Es ist ein Straßenstrich der
Niedrigstlöhne für migrantische Arbeitskraft.
Zwischen Dutzenden Afrikanern hocken Gabriel und Traoré auf einer
Betonplatte. Über ihnen wehen die Deutschlandfahnen, an ihnen vorbei
rauscht der Nachmittagsverkehr. Sie tragen abgewetzte Stahlkappenschuhe und
staubige Schutzwesten, die Laune der jungen Männer aus Mali ist schlecht.
„Mal Abwaschen, mal Bau, mal Feldarbeit“, sagt Traoré auf die Frage, welche
Arbeit ihnen angeboten werde. Heute aber nicht. Seit 2011 und 2012 sind
beide hier. Erst waren sie interniert, heute sind sie frei, aber
anderswohin können sie nicht. Sie haben keine Papiere.
Anerkannte Flüchtlinge bekommen für eine Übergangszeit einen Wohnheimplatz
und 4,66 Euro pro Tag. Programme zur Integration gibt es nicht. So teilen
sich Gabriel und Traoré mit anderen Maliern eine kleine Wohnung. An den
Kreisel kommen sie „immer, wenn wir abgebrannt sind“, sagt Gabriel – also
oft. Nach einer Weile hält ein Kleinlaster, ein großer Mann steigt aus,
auch er stammt aus Mali, seine Kleidung und sein Gesicht sind mit weißem
Staub bedeckt. Seit sechs Uhr früh hat er auf einer Baustelle gearbeitet,
für 35 Euro. Er klopft sich ab und geht die Straße hinauf. Die beiden
bleiben sitzen. „Auf manchen Baustellen wird auch nachts gearbeitet“, sagt
Traoré, „vielleicht kommt heute noch einer.“ Ab 2002 stiegen die
Flüchtlingszahlen in Malta. Die Regierung tat, was alle Staaten an den
Außengrenzen tun, denen die EU die Verantwortung für die Flüchtlinge
aufgehalst hat: Sie baute Gefängnisse und hoffte, sie würden abschreckend
wirken. Die Flüchtlinge kamen trotzdem.
Andere Länder denken sich beschönigende Namen für die Knäste aus, in Malta
heißt die zuständige Behörde Detention Service – Internierungsdienst. Ihre
kleinen weißen Transporter erinnern an die Autos von Hundefängern in alten
Comics. Fünf Lager gab es, zwei sind derzeit in Betrieb, etwas weniger als
hundert Menschen werden dort im Moment gefangen gehalten. Wer abgelehnt
wird, bleibt bis zu 18 Monate drin, wer anerkannt wird, kommt früher raus.
Bis dahin bekommen die Flüchtlinge Besuch von Mark Cachi, Anwalt beim
Jesuitenflüchtlingsdienst. Cachi, Ende 30, spricht wie die meisten Malteser
britisch gefärbtes Englisch. Die Bedingungen seien schlecht, vielen
Internierten sei nicht klar, was mit ihnen geschehe, sagt er. „Diese
Politik steht angeblich auf dem Prüfstand. Aber die Regierung hält daran
fest – wegen der ’nationalen Sicherheit‘. Und diese Darstellung findet die
Zustimmung der Bevölkerung.“
## Mare Nostrum hat geholfen
Am schlimmsten sei die Stimmung im Juli 2013 gewesen. Als da in nur einer
Woche 400 Bootsflüchtlinge angekommen waren, wollte Premier Joseph Muscat
45 Somalier postwendend per Flugzeug nach Tripolis zurückschicken – ohne
Asylverfahren. Cachi rief den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
an, der stoppte die Abschiebeaktion. Muscat nannte sein Vorhaben später
einen Fehler. Dann beruhigte sich die Lage: Nach den beiden großen
Schiffsunglücken vom Oktober 2013 patrouillierten die Italiener mit ihrer
Mission „Mare Nostrum“ auch in der maltesischen Rettungszone. Fast alle
aufgegriffenen Flüchtlinge kamen nach Sizilien.
„Das hat die Zahlen hier stark gedrückt“, sagt Cachi. Entsprechend
„moderat“ sei die Rhetorik in Sachen Flüchtlinge heute. „Aber wenn morgen
500 Menschen ankommen, kann das ganz schnell anders sein.“ Dann muss er
weg, den Besuch der „First Lady“ vorbereiten, sagt er. Er meint die
Freundin von Gauck.
Lange gab es zwischen Italien und Malta Konflikte wegen der Seerettung,
teils waren Unglücke die Folge. Die beiden Regierungen geben es nicht offen
zu, die Journalisten in Valetta aber gehen fest davon aus, dass Italiens
Premier Matteo Renzi „Mare Nostrum“ mit einem Zugeständnis an das lange
völlig überlastete Malta verbunden hatte: Gerettet wird gemeinsam, die
Flüchtlinge aber kommen auf das italienische Festland.
Wenn nun die Frontex-Boote des Grenzschutzprojekts „Triton“ im Mittelmeer
patrouillieren, dürfte auf Malta wieder ein deutlich größerer Andrang von
Flüchtlingen zukommen. „Wir freuen uns, dass sich Deutschland mit dem
Besuch des Präsidenten um ein besseres Verständnis unserer Lage bemüht“,
sagt Maltas Innenminister Carmelo Abela der taz. „Ja, wir hoffen sehr, dass
die EU den 10-Punkte-Plan mit seinem Umsiedlungsprogramm umsetzt.“
Soll heißen: Das Land hofft darauf, dass die EU ihm Flüchtlinge abnimmt.
Zwei solcher EU-Programme gab es in der Vergangenheit, doch die waren sehr
klein. Erbarmt haben sich vor allem die USA: Tausende Flüchtlinge aus Malta
durften dorthin ausreisen.
„Wir lassen niemanden ertrinken“, sagt Keith Caruana. Am Tag vor Gaucks
Visite sitzt der Offizier der maltesischen Armee (AFM) im Hauptquartier der
Küstenwache in Luqa, direkt am Flughafen. Die Haare trägt er kurz
geschoren, dazu Flecktarn und Springerstiefel. Die Gebäude haben die Briten
hinterlassen, im Innenhof stehen Kanonen aus dem Mittelalter, dahinter
starten und landen große Hubschrauber. Caruana redet schnell, seit den
Katastrophen der letzten Wochen kommen „300 Mails am Tag“ rein, fünf
Interviews müsse er heute geben.
Jetzt, da alle mit einer weiteren Zunahme der Überfahrten aus Libyen
rechnen – hat Maltas Küstenwache genügend Schiffe und Flugzeuge? Wären die
zusätzlichen Mittel für Frontex nicht besser bei den Küstenwächtern
angesiedelt gewesen? Caruana wittert einen Subtext, der ihm nicht gefällt.
„Falsche Frage“, sagt er. „Es geht nicht um die Zahl der Boote, sondern um
Kompetenz und die Fähigkeit zur Koordinierung.“ Die Hoheit über die See ist
auf Malta auch eine Frage der Souveränität, ja vielleicht der nationalen
Ehre der Insel, deren Raison d’Être lange auch die Kontrolle über das
Mittelmeer war. „Wir haben in den letzten 20 Jahren 14.000 Menschen
gerettet“, sagt Caruana. Die AFM nutze „dieselbe Software wie die US Coast
Guard“, außerdem modernste Radargeräte. Küstenwächter aus der ganzen Welt
kämen, um sich an der AFM-Akademie ausbilden zu lassen.
Und trotzdem: Libyen liegt fast 400 Kilometer südlich – wenn
Flüchtlingsboote kein Satellitentelefon an Bord haben, sei es sehr schwer,
sie in großer Entfernung auszumachen. „Ohne Kooperation geht es nicht“,
sagt er, und mit den Italienern sei die Kooperation „phänomenal“.
Und was ist nun mit Frontex? „Die können uns nicht ersetzen. Das sind
Grenzschützer. Seenotrettung ist unsere Aufgabe“, sagt er. Beides sei nicht
dasselbe. „Wir haben hier Fälle von Booten in gutem Zustand mit irregulären
Migranten. Die wollen nach Italien, und die können wir dann nicht nicht
einfach so an Bord nehmen. Da gilt dann die Freiheit der See.“ Am Ende
entschuldigt er sich für die knappe Zeit. „Wir bemühen uns wirklich“, sagt
er zum Abschied. Aber es sei eine schwierige Situation. „Wir sehen hier
jeden Tag Leichen.“
29 Apr 2015
## AUTOREN
Christian Jakob
## TAGS
Flüchtlinge
Europa
Malta
EU
Asylrecht
Nordafrika
Dublin-System
Malta
Flüchtlinge
Matteo Renzi
Frontex
Illegale
Frontex
Europa
Europäische Kommission
## ARTIKEL ZUM THEMA
Ermittlungen gegen Maltas Regierungschef: Ein wichtiges Zeichen
Maltas Ministerpräsident Abela muss sich schweren Vorwürfen stellen. NGOs
haben Anzeige erstattet.
Migranten auf dem Weg durch die Sahara: Auf der Route des Löwen
Lieber auf riskantem Weg nach Europa als in Gambia bleiben, sagt Mohammad
Cisse. Dass viele umkommen, hält ihn nicht ab.
Flüchtlinge in Italien: Renzi droht der EU mit Plan B
Italiens Regierung verlangt eine gerechtere Verteilung der
Bootsflüchtlinge. Doch die meisten ziehen ohnehin unkontrolliert gen
Norden.
Datenbank zu Toten im Mittelmeer: Die meisten werden nie gefunden
Ein Projekt der Freien Universität Amsterdam hat die Sterberegister von 563
Orten ausgewertet. Das Ergebnis: Das Drama dauert schon 25 Jahre an.
Debatte Flüchtlingspolitik Europa: Von den USA lernen
Während Europa Flüchtlinge im Mittelmeer verrecken lässt, setzt sich in den
USA langsam Pragmatismus durch. Das hat auch mit der Machtfrage zu tun.
Flüchtlinge im Mittelmeer: Mehr als 3.400 Menschen gerettet
Tausende Flüchtlinge wurden am Samstag im Mittelmeer gerettet. Außerdem hat
ein Schiff von Ärzte ohne Grenzen und Moas eine sechsmonatige Mission
begonnen.
Kommentar Malta und Flüchtlinge: Gruß aus Absurdistan
Malta ist der kleinste EU-Staat – und hat ein großes Flüchtlingsproblem.
Die europäische Solidarität hingegen ist äußerst dürftig.
EU-Kommission für Aufnahmequoten: Juncker will die Türen öffnen
EU-Kommissionspräsident Juncker will Flüchtlinge auf ganz Europa verteilen
und kritisiert die Mitgliedsstaaten. In zwei Wochen will die Behörde
Vorschläge machen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.