# taz.de -- Flüchtlingspolitik auf Malta: Europas Zukunft | |
> Das European Asylum Support Office ist eine Behörde auf Malta. Hier | |
> könnte der Schlüssel zur Lösung der Flüchtlingskrise liegen. | |
Bild: Ein humanes gemeinsames europäisches Asylsystem liegt noch in weiter Fer… | |
VALETTA taz | Es ist eine Größenordnung, wie sie bis vor Kurzem nicht | |
vorstellbar war: 800.000 Menschen könnten in diesem Jahr in Deutschland | |
Asyl beantragen. Am Mittwoch stellte Bundesinnenminister Thomas de Maizière | |
in Berlin die neue Prognose des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge | |
(BAMF) vor. | |
Zur selben Zeit wurde der Ton zwischen Serbien und Ungarn schärfer: „Die EU | |
hätte nicht die Augen verschließen dürfen bei Stacheldraht und Zäunen, aber | |
sie hat absichtlich weggeschaut“, sagte der serbische Regierungschef | |
Aleksandar Vučić beim Besuch Hunderter Flüchtlinge aus dem Nahen Osten und | |
Pakistan, die in Belgrad auf der Straße zelten. Er sprach von dem Zaun, den | |
Ungarn wegen dieser Menschen derzeit an der Grenze zu Serbien baut. Es | |
fehle „nur noch, dass man Strom einleitet und die Sache beendet“, sagte | |
Vučić. | |
Wie in eine Kettenreaktion eskaliert dieser Tage die Flüchtlingskrise: auf | |
den überforderten griechischen Inseln, an Mazedoniens Grenze, auf dem | |
Balkan und in den Schlangen vor den Erstaufnahmeeinrichtungen in Städten | |
wie Berlin. | |
Nicht Griechenland oder Finanzkrisen gefährden Europa, sagte Vizekanzler | |
Sigmar Gabriel (SPD). „Wenn etwas die Europäische Union in Gefahr bringt, | |
dann diese Art der nicht vorhandenen Flüchtlingspolitik.“ Auch de Maizière | |
befand, das Schengen-System könne ohne „eine wirkliche europäische | |
Asylpolitik keinen Bestand haben“. Das Asyl der Zukunft soll also | |
europäischer sein. Die Frage ist, was das genau bedeutet. | |
## Bescheidene Größe, gewaltige Aufgabe | |
Seit vier Jahren wird darüber in einem etwas düsteren Betonbau am Hafen der | |
maltesischen Hauptstadt Valletta nachgedacht. Hier sitzt das European | |
Asylum Support Office (EASO): eine EU-Behörde, deren bescheidene Größe und | |
noch bescheidenerer Bekanntheitsgrad in eigentümlichem Gegensatz zu ihrer | |
Aufgabe steht. Ein „Instrument auf dem Weg zu einem umfassenden und | |
schützenderen gemeinsamen europäischen Asylsystem“ soll sie sein, sagte | |
EU-Kommissarin Cecilia Malmström 2011 bei der Eröffnung. | |
Das letzte Mal war von der Behörde die Rede, als im April über 1.000 | |
Menschen im Mittelmeer ertrunken waren. Der Handlungsdruck auf die | |
EU-Kommission wuchs. Brüssel schlug vor, Beamte aus anderen | |
Mitgliedsstaaten nach Italien und Griechenland zu schicken, damit diese | |
dort Asylanträge bearbeiten, um die enormen Wartezeiten zu verringern. | |
„Joint Processing“ nennt die EU das. Gleichzeitig wollte sie prüfen lassen, | |
ob und wie Flüchtlinge erstmals im großen Stil innerhalb der EU umverteilt | |
werden könnten, um die Mittelmeerstaaten zu entlasten. „Relocation“ sagt | |
man dazu in Brüssel. Doch die übrigen Mitgliedstaaten blieben | |
zurückhaltend. Keiner wollte noch mehr Flüchtlinge aufnehmen. | |
So kehrte der EASO-Beamte Jean Pierre Schembri kurz darauf etwas | |
unbefriedigt vom Rapport bei der EU-Kommission nach Valletta zurück. „Beim | |
Relocation und Joint Processing könnten wir schon einiges tun“, sagt er. | |
Doch nichts sei bislang geklärt. „Wir müssen abwarten, was der Rat will.“ | |
## Das Dublin-Dogma infrage stellen | |
Lange hatte man in Valletta auf diese Gelegenheit gewartet. Umverteilung | |
und gemeinsame Bearbeitung von Anträgen – genau dies hatte das EASO in den | |
Jahren zuvor in winzigen Testläufen erprobt. Da wurden etwa Asylbeamte aus | |
Schweden, Deutschland oder Polen nach Südeuropa geschickt, wenn die Länder | |
darum baten. Sie beziehen weiter ihr Gehalt, das EASO bezahlt Reisekosten | |
und Auslandszuschlag mit EU-Geld. Zwei Tage werden sie im Asylrecht des | |
Gastlandes geschult. „Die Unterschiede sind nicht so groß“, sagt Schembri. | |
Teils bilden die Entsandten danach aus, meist helfen sie, Anträge | |
abzuarbeiten. 2014 schickte das deutsche BAMF acht Mitarbeiter nach | |
Bulgarien und einen nach Italien. Dieses Jahr gingen drei Deutsche nach | |
Bulgarien, einer kam nach Ungarn. Meist, so das BAMF, waren sie als | |
Entscheider tätig. | |
2011 und 2012 hat das EASO erstmals insgesamt 600 Flüchtlinge aus Malta in | |
die übrige EU verteilt. Zu der Zeit waren die Internierungslager dort | |
völlig überfüllt, die Menschen saßen selbst nach der Anerkennung auf der | |
Insel fest. Es war ein Tropfen auf den heißen Stein, aber es war ein | |
Anfang, das Dublin-Dogma, nach dem jeder Mitgliedstaat allein für alle | |
Flüchtlinge zuständig ist, die über seine Grenzen in die EU kommen, infrage | |
zu stellen. | |
## Labor für gemeinsames Asylsystem | |
Im letzten Jahr hat das EASO etwa 2.500 Asylentscheider aus 19 EU-Staaten | |
darin geschult, Minderjährige zu interviewen und dabei die geltenden | |
Vorschriften einzuhalten. Das klingt nach einer Selbstverständlichkeit, | |
doch angesichts der Brutalität, mit der in manchen EU-Staaten noch immer | |
mit Flüchtlingen umgegangen wird, ist es das keineswegs. | |
Kurzum: Die Behörde ist ein kleines Labor für ein gemeinsames europäisches | |
Asylsystem. Dass es das geben soll, darauf hatte sich der Europäische Rat | |
schon 1999 geeinigt. Die Bedingungen für Flüchtlinge sollten EU-weit so | |
geregelt werden wie die für die Entsorgung von Kühlschränken: penibel und | |
verbindlich durchgesetzt. | |
Viele Jahre wurde verhandelt, seit 2013 ist das gemeinsame Asylsystem in | |
Kraft. Es handelt sich um insgesamt fünf Verordnungen und Richtlinien. Sie | |
rühren nicht daran, dass jeder Staat allein entscheidet, wem er Asyl gibt. | |
Sie legen aber fest, wie die Verfahren ablaufen sollen. Auch wenn etwa die | |
flächendeckende Internierung von Flüchtlingen weiterhin erlaubt blieb, war | |
das System im Prinzip ein Fortschritt. Denn die Vergangenheit hat gezeigt, | |
dass sich viele EU-Staaten noch weniger um Menschenrechte scheren, wenn sie | |
freie Hand haben. | |
## Keine Sanktionen möglich | |
Das Problem ist: Viele Länder halten sich nicht daran. Tschechien weist 80 | |
Prozent aller Syrer ab, in Kroatien gibt es keine Gesundheitsversorgung, in | |
Irland muss ein Flüchtlingskind von 9,60 Euro pro Woche leben. Das sollte | |
das EASO verhindern. Doch es hat nichts zu sagen. Es schreibt Berichte, | |
bietet Schulungen an. „Wir dürfen nichts entscheiden“, sagt Schembri. | |
Am Ende durfte die Behörde auch keine Flüchtlinge aus Italien und | |
Griechenland weiterverteilen. Die EU einigte sich im Juni lediglich auf | |
freiwillige Übernahme von 40.000 Menschen bis 2017, die Auswahl übernehmen | |
Italien und Griechenland. Nehmen die anderen Länder die Flüchtlinge doch | |
nicht, passiert nichts. | |
Nichts, was das EASO in der Vergangenheit getan hat, wäre für sich genommen | |
eine Lösung der europäischen Flüchtlingskrise. Aber es ist ein Anfang. Es | |
kommt nicht von ungefähr, dass zwar alle eine gemeinsame EU-Asylpolitik | |
fordern, aber niemand etwas dafür tut. Auf wohl keinem Politikfeld ist die | |
Neigung, Kompetenzen an die EU abzugeben, geringer als bei der Migration. | |
Von der Lebensmittelsicherheit bis zur Versicherungsaufsicht können auf | |
EU-Ebene Entscheidungen getroffen werden. Wenn es aber um Asyl geht, ist | |
jeder Staat faktisch frei, Flüchtlinge so schlecht zu behandeln, dass sie | |
möglichst anderswohin verschwinden. | |
## Schlechte Aussichten | |
Der einzige Mechanismus, den die EU stattdessen durchsetzt, ist das | |
Dublin-System. Die katastrophale Lage an mittlerweile jedem Punkt der | |
Migrationsroute zwischen Nordafrika oder dem Nahen Osten und Mitteleuropa | |
ist dessen Folge. Ein Asylregime, das die Fehler des Dublin-Systems | |
überwindet, muss Befugnisse der Nationalstaaten übertragen bekommen. Damit | |
würde es auch wahrscheinlicher, dass endlich legale Zugänge nach Europa | |
eingeführt werden. | |
Eine echte EU-Asylbehörde müsste nicht das Recht bekommen, die Asylanträge | |
zentral zu bearbeiten. Mit einer echten Harmonisierung der Asylverfahren, | |
der Aufnahmestandards und Integrationshilfen wäre viel gewonnen. Und jede | |
Regelung jenseits von Dublin bräuchte eine Instanz, die finanziellen | |
Lastenausgleich schafft. | |
Die Aussichten dafür aber stehen schlecht. Litauens Präsidentin Dalia | |
Grybauskaitė sagte es kürzlich rundheraus: Ihr Land wolle „die Möglichkeit | |
haben, unsere Solidarität selbst zu zeigen, ohne dazu gezwungen zu werden“. | |
Im letzten Jahr haben in Litauen 370 Flüchtlinge einen Asylantrag gestellt. | |
75 wurden anerkannt. | |
23 Aug 2015 | |
## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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