# taz.de -- Geflüchtete in Berlin: Ein Tag am Lageso | |
> Staatsversagen: Hunderte Berliner sind eingesprungen, um Asylbewerber zu | |
> unterstützen – und gehen dabei an ihre Grenzen. | |
Bild: Freiwillige übernehmen in Moabit die Grundversorgung der Menschen vor de… | |
BERLIN taz | Das ist das Irritierendste. Ich bin jetzt Grenzer. Die mit | |
Papieren, darf ich reinlassen. Die ohne muss ich zurückschicken. Das | |
entscheidende Papier ist hier ein Stück Kreppband am T-Shirt, am Kleid, am | |
Hemd. Darauf mit Filzstift der Name. Gerda, Ronja, Ebru, Ebrus Mann, Malte, | |
Maik, Omar, Mustafa. | |
Alle gehören zur [1][Initiative „Moabit hilft“], die hier auf dem Gelände | |
eines ehemaligen Krankenhauses in Berlin-Moabit Spenden sammelt. Kleider, | |
Essen, Geld. Es wird sortiert und später wieder verteilt. An die anderen. | |
Die Flüchtlinge, die, die ich draußen halten muss, damit es hier nicht zu | |
chaotisch wird. | |
Die. Sie stehen dahinten. Hinter dem roten Flatterband. Wer es | |
überschreitet, riskiert, angebrüllt zu werden. Von einem der engagierten | |
Helfer. Der eine oder andere Nerv liegt blank. Meist werden sie freundlich | |
gebeten, zurück zu gehen. Keine Einzelfallhilfe, sagte eine der anderen | |
Helferinnen zu mir. Fang da erst gar nicht mit an. Denn es sind viele. Zu | |
viele für uns, für die bestimmt hundert Freiwilligen, die versuchen, das | |
Schlimmste zu lindern. | |
Das Schlimmste ist auf der anderen Seite – auf der großen Wiese hinter dem | |
Backsteinbau. Dort warten täglich rund tausend Flüchtlinge auf ihre | |
Erstregistrierung beim zuständigen Landesamt für Gesundheit und Soziales. | |
Beim Lageso. Sie warten draußen. In langen Schlagen zwischen rot-weißen | |
Polizeigittern. Erst um einmal eine Nummer zu bekommen. Und dann wieder vor | |
dem nächsten Haus, damit ihr Fall, ihr weiteres Schicksal behandelt wird. | |
Das kann in extremen Fällen Tage dauern. | |
## Vier Dixie-Klos | |
Das Schlimmste sind nicht die tausend Flüchtlinge. Nicht die vielen jungen | |
Männer, nicht die Kinder, die zum Teil hoch schwangeren Frauen. Die | |
Kranken. Die Verletzten. Das Schlimmste ist das komplette Staatsversagen | |
auf dieser Wiese. Da stehen vier Dixie-Klos. Und jetzt auch zwei sehr | |
provisorische Zelte. Für erste Hilfe. Mittlerweile gibt es einen Tisch, an | |
dem Wasser ausgeschenkt wird, ein Brunnen ist im Bau. Aber Versorgung gibt | |
es keine. Jedenfalls nicht von staatlicher Seite. | |
Dafür von „Moabit hilft“. Seit zwei Wochen stellt die Initiative hier | |
unglaubliches auf die Beine. Es fing an mit einem Facebook-Post von Diana | |
Henniges, die die Initiative schon 2013 gegründet hat. Am Donnerstagmorgen | |
habe ich sie interviewt – als Journalist. | |
Mittags stehe ich selbst auf dem Gelände – nicht als Journalist, sondern | |
als einer von vielen, die mit anpacken wollen. Diana hat gesagt, wenn du | |
helfen willst, frag Anna, da vorn an dem kleinen Tisch. Anna sagt, wenn du | |
helfen willst, musst du deine Hände desinfizieren und Gummihandschuhe | |
überziehen. So will es das für Hygiene zuständige Amt. Die Berliner | |
Verwaltung schafft es nicht, die Flüchtlinge mit Essen zu versorgen, aber | |
sie hat Zeit Essensspenden zu kontrollieren. | |
Und was kann ich tun?, frage ich. Keine Angst, du wirst hier schon | |
aufgesogen, antwortet Anna. | |
## Kurze Röcke zum Roten Kreuz | |
Russisch? Kann hier wer Russisch?, ruft jemand über den Platz. Arabisch? | |
Wer kann Arabisch? Serbokroatisch? Albanisch? Fast für alle Sprachen gibt | |
es unter den Freiwilligen Dolmetscher. Doch was nutzt es, wenn man Farsi | |
kann, aber nicht weiß, wie, ob und wo man ein Flüchtlingskind in der Schule | |
anmelden muss. | |
Ich kann eh keine der benötigten Sprachen, also geh ich zur | |
Kleidersortierung. Kurze Röcke und Hosen kommen gleich auf den Stapel fürs | |
Rote Kreuz, erklärt mir eine der Eifrigen, weil die Muslimen so was nicht | |
tragen. Aber, sagt eine andere, da sind doch ganz viele auf der Wiese, die | |
... Nein, sagt die erste, das ist so entschieden. | |
Kann mal jemand beim Melonen-Schleppen helfen?, schallt es über den Platz. | |
Ich nutze die Gelegenheit und ergreife die nächste Aufgabe. Brot ist alle, | |
sagt Ebru. Ich kaufe im nächsten Supermarkt 20 Fladenbrote. Ist das viel? | |
Oder wenig? Ist das genug? | |
## Was ist gerecht? | |
Kann mal jemand auspacken helfen? Ein Auto fährt vor, darin hundert | |
Rucksäcke, jeweils mit dem nötigsten gefüllt. Zahnbürsten und Decken, | |
Traubenzucker und Nüsse und so was. Alles mit Spenden finanziert. Alles | |
kommt erstmal ins Lager. Eine Flüchtlingsfrau steht mit großen Augen neben | |
dem Auto. Aber alles kommt erstmal ins Lager. Es soll ja gerecht verteilt | |
werden. 100 Rucksäcke. Was ist da gerecht? | |
Ich stehe daneben am Kontrolltisch. Aber ich bin ein schlechter Grenzer. | |
Mehrfach huschen kleine Jungs durch. Später kommt eine Deutsche und fragt | |
nach einer Jogginghose für die 16-jährige Syrerin neben ihr, die ohne | |
Familie hier ist. Keine Einzelfallhilfe, erkläre ich, wir kommen zu den | |
Leuten auf die Wiese und dann ...., spule ich die übliche Erklärung ab. | |
Wir bringen jetzt das Essen. Warmes Essen. Reis, Fleisch, Gemüse in | |
Styroporschachteln abgepackt. Zwölf Stück pro Kiste. Für eine Wiese mit | |
tausend Menschen. Geht immer mindestens zu zweit, sagen die Erfahreneren. | |
Geht aber auch nicht in zu großen Gruppen, dann bildet sich ein Pulk. Und | |
versucht erstmal Frauen und Kindern das Essen zu geben. | |
## Polizei und Krankenwagen | |
Wir kommen nicht einmal bis zu der Wiese. Schon auf dem Weg um das | |
Backsteingebäude herum stehen die ersten. An der Ecke gibt es kein | |
Weiterkommen mehr. Männer mit flehenden Blicken kommen auf uns zu. Hier und | |
da ein kleiner Junge. Wir wollen das Essen gerecht verteilen. Aber was ist | |
gerecht? Beim zweiten Gang wenig später kommen wir etwas weiter. Auch weil | |
vorneweg ein arabisch sprechender Helfer geht. Aber wir enden in einer | |
Traube hungriger Menschen. Die letzte Schachtel geht im Gezerre zu Bruch, | |
das halbe Essen fällt auf den Boden. Entsetzt schauen sich die Flüchtlinge | |
an. Es ist zum Heulen. | |
Wenig später rast ein Krankenwagen und ein halbes Dutzend Polizeiautos aufs | |
Gelände. Es soll eine Messerstecherei unter den Flüchtlingen gegeben haben. | |
Eine der Helferinnen hat gesehen, wie jemand zusammenbrach. Sie ist völlig | |
fertig. Der Typ mit dem Bart nimmt sie in den Arm. Später stellt sich | |
heraus, dass der Verletzte offenbar schon Stunden zuvor auf der Straße | |
überfallen wurde. Dass er aber nicht zum Arzt gehen wollte, auch weil er | |
gerade hier auf dem Gelände seine Familie wieder getroffen habe. Zufällig. | |
Nach zwei Jahren. | |
Ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr, ruft später einer der | |
Engagiertesten. Und bleibt dann doch den ganzen Abend. | |
Seit zwei Wochen bin ich jetzt hier, erzählt eine der Freiwilligen. | |
Physisch, sagt sie, könnte ich das noch länger aushalten, aber psychisch da | |
komme sie an ihre Grenzen. Zumal sie in den letzten beiden Nächten auch | |
noch syrische Familien mit zu sich nach hause genommen habe, die keinen | |
Schlafplatz hatten. | |
## Notübernachtungen überfüllt | |
Das ist das Unglaublichste. Es ist Abend, die Wiese vor dem Amt ist nahezu | |
leer, wir haben die letzten Brote verteilt und den Müll eingesammelt. Doch | |
draußen, am Eingang zum Gelände stehen noch rund 150 Menschen, die nicht | |
wissen, wo sie die Nacht verbringen sollen. Anders als an den Vortagen, | |
gibt es nicht einmal einen Shuttlebus zu den Notübernachtungen, weil die eh | |
schon überfüllt seien. Kümmert euch, erzählt eine Frau von „Moabit hilft�… | |
hätten die vom Amt gebeten. Sie wüssten auch nicht mehr weiter. | |
Viele kleine Kinder sind unter den Wartenden, auch hier zwei hoch | |
schwangere Frauen. Mehrere Familien aus Albanien, eine aus Syrien. Die eine | |
Schwangere muss aufs Klo. Gegenüber im Park gibt es eine Citytoilette. Hat | |
mal jemand eine 50-Cent-Münze?, fragt Francesca. Die Münze ist schnell | |
gefunden, doch das Klo ist besetzt. Drinnen ein Mann mit Stuhlproblemen. | |
Draußen die Schwangere. Ein anderes Klo? Nicht in Sichtweite. | |
Eine Mitarbeiterin des Lageso taucht auf. Sie ist überrascht. | |
Selbstverständlich hätten sie sich um die Menschen hier gekümmert, | |
versichert sie, aber die Wiese vor dem Amt sei ja leer gewesen, da hätten | |
sie gedacht, die hätten alle schon einen Schlafplatz gefunden. | |
Wo auch immer. Die jungen Männer schlafen im Park gegenüber. Aber die | |
Familien? Es wird verhandelt. Auch darüber, ob die Schwangere auf einem | |
Stuhl vor dem Pförtnerbüro sitzen darf, oder ein paar Meter weiter rücken | |
muss. Sie muss. | |
## Zu Fuß durch Berlin | |
Ein Lageso-Mitarbeiter zuckt mit den Schultern. Er tue doch schon, was er | |
kann. Er sei seit 8 Uhr morgens hier. Ginge es nach meinem Chef, sagt er, | |
hätte ich um vier Feierabend machen müssen. Mittlerweile ist es fast 21 | |
Uhr. Was man besser machen könnte? Tja, sagt er, mehr Personal einstellen, | |
viel mehr Personal einstellen. Allerdings, fügt er hinzu, viele wollten | |
diesen Job eh nicht machen. | |
Dann die gute Nachricht. Es soll Platz für 30 Leute in der Notübernachtung | |
an der Kruppstraße geben. Da steht eine riesige aufblasbare Zelthalle auf | |
einem Fußballplatz. Wie die Flüchtlinge dahin kommen sollen? Zu fuß. Also | |
machen wir uns auf den Weg, leiten den Flüchtlingstreck durch die Berliner | |
Nacht. Wählen 30 von den über 100 Wartenden aus, von denen wir meinen, dass | |
sie es am nötigsten haben. Packen ihre Tasche so weit es geht auf | |
Fahrräder. Bleiben immer wieder stehen, weil die Schwangeren nicht so | |
schnell können. Kommen nach vielleicht 20 Minuten an. Hören, dass die Halle | |
schon voll sein soll. Verhandeln mit diversen Sprachkenntnissen, dass | |
unsere Familien doch rein dürfen. Helfen beim Ausfüllen der unabdingbaren | |
Formulare. Wundern uns, wo jetzt der Ägypter geblieben ist, der mit uns im | |
Treck war, obwohl wir ihn nicht ausgewählt hatten. | |
Wer genau uns denn geschickt hätte, will einen Mitarbeiterin der | |
Notunterkunft wissen. Ob wir nicht irgendein Papier vom Lageso bekommen | |
haben? Wir haben nur dieses kopierte Blatt mit der Wegbeschreibung. Aber da | |
hat tatsächlich irgendjemand handschriftlich die Zahl 30 drauf gekritzelt | |
und darunter unterschrieben. Die Mitarbeiterin ist erleichtert. Alles ist | |
gut im Behördenland. Es ist 23 Uhr. Diese Menschen sind untergebracht. Für | |
eine Nacht. Was danach kommt? Völlig offen. | |
Ein Albaner schenkt mir eine Zigarette. | |
Drei der syrischen Mädchen singen, klatschend, tanzend ein arabisches | |
Kinderlied. Ringelrein. Sie lachen. | |
21 Aug 2015 | |
## LINKS | |
[1] http://moabit-hilft.com/ | |
## AUTOREN | |
Gereon Asmuth | |
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