| # taz.de -- Minderjährige Flüchtlinge in Berlin: Auf sich allein gestellt | |
| > Minderjährige Flüchtlinge, die ohne Eltern nach Berlin kommen, müssen | |
| > eine besondere Betreuung erhalten. Die Realität sieht anders aus. | |
| Bild: Verbirgt sein Gesicht aus Angst vor Konsequenzen für seine Angehörigen … | |
| Berlin taz | Minderjährige unbegleitete Flüchtlinge bekommen derzeit in | |
| Berlin nicht den Schutz und die Betreuung, die ihnen vom Gesetz her | |
| zustehen. „Zur Zeit kann kein Regelwerk eingehalten werden“, sagt Stephan | |
| Guerra, pädagogischer Leiter bei Evin e. V. „Die Situation ist desperat.“ | |
| Der Verein betreut bereits seit 20 Jahren jugendliche Flüchtlinge. „Die | |
| Bundesregierung hat die Konvention für Kinderrechte unterschrieben“, sagt | |
| Guerra, „doch der Kinderschutz kann nicht mehr gewährleistet werden.“ | |
| Auch andere Jugendhilfeträger beklagen, dass Standards im Umgang mit dieser | |
| besonders schutzbedürftigen Gruppe nicht mehr eingehalten werden. Und | |
| Katrin Möller, die jugendpolitische Sprecherin der Linksfraktion im | |
| Abgeordnetenhaus, erklärt, mehr als tausend Jugendliche würden in „einer | |
| Warteschleife festhängen“. | |
| Eigentlich werden junge Flüchtlinge, die allein in Berlin ankommen, in | |
| einer besonderen Unterkunft aufgenommen. Ein bis zwei Tage später haben die | |
| Jugendlichen einen Termin bei der Senatsverwaltung für Jugend. Wer bei | |
| diesem Gespräch als minderjährig eingestuft wird, durchläuft danach ein | |
| sogenanntes Clearingverfahren. | |
| ## Stark steigende Zahl | |
| Doch auch die Zahl der minderjährigen unbegleiteten Flüchtlinge ist rasant | |
| gestiegen (siehe Kasten). Seit Juli sind die etwa 110 Plätze in der | |
| Erstunterkunft fast immer komplett belegt. Die Jugendlichen werden deswegen | |
| in Notunterkünften untergebracht, wo Sozialarbeiter sie ambulant betreuen. | |
| Und zwar viel länger als eigentlich vorgesehen: Derzeit in Berlin | |
| ankommende Jugendliche müssen bis Mai oder Juni auf ihren Termin bei der | |
| Senatsverwaltung warten. | |
| So lange ist ihr rechtlicher Status unklar: Die Senatsverwaltung nimmt sie | |
| lediglich „vorläufig“ in Obhut – da ja nicht offiziell klar ist, ob sie | |
| noch unter 18 Jahre alt sind. Sie bekommen in dieser Zeit lediglich einen | |
| Euro Taschengeld am Tag. Hinzu kommt: Minderjährige Flüchtlinge sind | |
| schulpflichtig. Doch wie viel Deutschunterricht sie bekommen, liegt im | |
| Ermessen der Betreuer. | |
| Der 17-jährige Jaafar M. aus Damaskus ist vor etwas mehr als einem Jahr | |
| allein in Berlin angekommen. Er bekam einen Platz in der Erstaufnahmestelle | |
| für minderjährige Flüchtlinge und durchlief ein strukturiertes | |
| Clearingverfahren. In diesem in der Regel dreimonatigen Prozess klären | |
| SozialarbeiterInnen in mehreren Schritten die Situation minderjähriger | |
| unbegleiteter Flüchtlinge: Sind sie gesund? Brauchen sie besondere | |
| psychologische Betreuung, weil sie vielleicht traumatisiert sind? Wie ist | |
| ihr Entwicklungsstand? Welche Schulbildung haben sie bereits? Können | |
| Familienangehörige erreicht werden? Die SozialarbeiterInnen suchen außerdem | |
| nach der passenden Wohnform und Ausbildungsmöglichkeiten und entwickeln | |
| zusammen mit den Jugendlichen eine Perspektive für die Zukunft. Das | |
| Verfahren endet mit der Bestellung eines Vormunds. | |
| Jaafar M., der eigentlich anders heißt, kam nach dem Clearing auf eine | |
| Sekundarschule. Er lebt nun in einer betreuten Wohngruppe, wo er weiter im | |
| Rahmen der Jugendhilfe begleitet wird. M. hat schnell Deutsch gelernt und | |
| im Sommer die 9. Klasse mit der Berufsbildungsreife abgeschlossen. Dieses | |
| Schuljahr ist der Mittlere Schulabschluss dran. „Mathe, Physik und Chemie | |
| sind meine Lieblingsfächer, die Sprachen sind schwerer“, erzählt er, und | |
| seine Augen leuchten, wenn er lächelt. „Aber ich möchte gern Pilot werden, | |
| dafür ist Mathe wichtig.“ Sein Betreuer lobt, wie motiviert und | |
| lernbegierig Jaafar M. sei. | |
| M. erinnert sich an seinen ersten Monat in Berlin, als er nur zwei Stunden | |
| Deutschunterricht am Tag hatte und es ansonsten nichts zu tun gab: „Schule | |
| macht Spaß. Alles ist besser als die Langeweile. Die macht krank im Kopf.“ | |
| ## Jetzt heißt es Warten | |
| Vor Kurzem, ein Jahr nach Jaafar M., ist sein Cousin in Berlin angekommen. | |
| Auch er ist noch minderjährig, auch er ist allein geflohen. „Morgen gehe | |
| ich mit ihm zur Erstaufnahmestelle“, sagt Jaafar M. Sein Betreuer nickt und | |
| guckt ihn an. „Du bist zu einer Zeit angekommen, als es noch leichter war“, | |
| sagt er dann. „Für deinen Cousin wird vieles anders laufen.“ | |
| Derzeit werden viele unbegleitete minderjährige Flüchtlinge vom Senat | |
| übergangsweise in Hostels, Jugendherbergen und Jugendgästehäusern | |
| untergebracht, wo Sozialarbeiter sie tagsüber ambulant betreuen. Der | |
| 16-jährige Ali S. aus Syrien, der Ende August in Berlin ankam, hat die | |
| letzten Monate in einem Hostel gelebt. „Vormittags haben wir eine Stunde | |
| Deutschunterricht bei den Betreuern“, berichtet S., der ebenfalls einen | |
| anderen Namen trägt. Viel mehr Programm gibt es nicht. Schon ein ganzes | |
| Jahr war Ali S. nicht mehr in einer richtigen Schule. | |
| Sozialarbeiter Guerra sieht keine schnelle Lösung für die Misere. Er wisse | |
| nicht mehr, wen man für die Missstände verantwortlich machen und an wen man | |
| seine Kritik richten solle, sagt er. „Den Landesjugendämtern bleibt nun nur | |
| noch, das Chaos zu managen und den Etat zu verwalten“, sagt er. Dem Senat | |
| könne man durchaus den Vorwurf machen, dass er sich entschieden dagegen | |
| gewehrt habe, rechtzeitig Angebote zu schaffen, wie es von | |
| Jugendhilfeträgern immer wieder gefordert worden war. „Wenn da Schritt für | |
| Schritt Plätze aufgebaut worden wären, wäre es jetzt entspannter.“ | |
| Was in den Hostels passiert, ist ganz unterschiedlich. Teilweise läuft dort | |
| schon das Clearingverfahren an. Guerra erzählt, dass das Verfahren zum Teil | |
| auf drei bis vier Wochen verkürzt werde. Das sei problematisch: „Die | |
| Jugendlichen kommen nicht zur Ruhe“, sagt er. „Viele sind anfangs | |
| unauffällig und funktionieren erst mal. Erst nach einiger Zeit zeigen sich | |
| die Belastungen.“ | |
| Wer während des Wartens auf den Termin mit der Jugendverwaltung 18 Jahre | |
| alt wird, ist nicht mehr in der Obhut des Senats und muss sich wie | |
| erwachsene Flüchtlinge beim Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) | |
| registrieren lassen. Eine Folge: noch mehr Verantwortung für sich selbst | |
| und noch weniger Betreuung. Da sich diese Fälle derzeit stark häufen, werde | |
| nach einer neuen Übergangsregelung gesucht, erklärt die Senatsverwaltung. | |
| Seit Anfang November leitet die einstige Bausenatorin Ingeborg Junge-Reyer | |
| (SPD) den neuen Koordinierungsstab für unbegleitete minderjährige | |
| Flüchtlinge. Der Stab bemühe sich darum, die Zeit zwischen Ankunft und | |
| Beginn des Clearings zu verkürzen, sagt sie. | |
| In der Jugendhilfe gibt es kaum Einrichtungen, die auf Flüchtlinge | |
| spezialisiert sind. „Flüchtlinge brauchen etwas anderes – und sie brauchen | |
| mehr als deutsche Jugendliche“, berichtet Guerra. „Wir betreuen zurzeit | |
| auch einen 17-jährigen Jungen, der gegen den sogenannten IS gekämpft hat.“ | |
| Dieser Jugendliche trete ganz anders auf als die meisten seiner | |
| Altersgenossen und akzeptiere kaum andere Autoritäten. | |
| ## Besondere Betreuung | |
| Die Mitarbeiter der Jugendhilfe für Flüchtlingskinder brauchen nicht nur | |
| besondere Erfahrung in der psychosozialen Betreuung. „Man muss sich auch | |
| mit Fristen auskennen. Gerade bei Flüchtlingen kann man da viel falsch | |
| machen“, sagt Guerra und spricht davon, dass sich Folgen für das | |
| Aufenthaltsrecht oder den Status teilweise erst ein oder zwei Jahre später | |
| zeigen. | |
| Ab dem kommenden Jahr gilt bundesweit eine neue Regellung: Minderjährige | |
| unbegleitete Flüchtlinge sollen nicht dort bleiben, wo sie ankommen, | |
| sondern auf die Bundesländer verteilt werden. „Eigentlich sollte die | |
| Überlegung, wo die Jugendlichen gut aufgehoben sind – zum Beispiel auf dem | |
| Land oder in der Stadt –, erst das Ergebnis des Clearings sein“, sagt | |
| Guerra. „Wir diskutieren hier in Berlin, wie wir die Standards unter den | |
| jetzigen Bedingungen noch halten können. Wenn jetzt andere Bundesländer | |
| Jugendliche aufnehmen müssen, die keine Erfahrungen in dem Bereich haben, | |
| frage ich mich, ob sie diese Standards von Anfang an überhaupt einführen | |
| können.“ | |
| 26 Nov 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Uta Schleiermacher | |
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