# taz.de -- Migrantenkinder in Tower Hamlets: Arm, aber erfolgreich | |
> In London zeigen Kinder mit Migrationshintergrund überdurchschnittliche | |
> schulische Leistungen – besonders im ärmsten Viertel der Stadt. | |
Bild: Fast jedes zweite Kind an der Elizabeth Selby Infant School im Arbeitervi… | |
LONDON taz | Tower Hamlets, das war in den 70er Jahren ein trostloser Ort. | |
Erst fielen damals die Jobs weg – die Docks an der Themse machten dicht –, | |
dann kam die Misere. Der schlechte Ruf des Viertels färbte damals sogar auf | |
die Lehrer ab, erinnert sich Patrice Canavan, Rektorin der Oaklands | |
Secondary School. „Manche hielten uns, die wir in staatlichen Schulen der | |
Londoner Innenstadt unterrichteten, für schlechtere Lehrer.“ | |
Heute ist der Stadtteil östlich der Innenstadt – wie damals – Londons | |
ärmster Bezirk. Die Kinderarmut beträgt 49 Prozent. Und dennoch: Im | |
Bildungsbereich gehört Tower Hamlets zu den besten Bezirken im ganzen Land. | |
Schulen wie Oaklands und die nahe gelegene Elizabeth Selby Infant School, | |
für Kinder im deutschen Vorschulalter zwischen 3 und 7 Jahren, gehören in | |
England zu den besten Schulen. SchülerInnen mit Migrationshintergrund | |
erzielen im Schnitt weit bessere Schulabschlüsse als im Rest des Landes. | |
Besonders gut schneiden Kinder ab, deren Familien aus Bangladesch stammen. | |
Woher kommt das? | |
Der Wandel an Londons Schulen beginnt 1997 mit Tony Blair. Nach fast zwei | |
Jahrzehnten konservativer Regierungen der Tories kommt der Parteichef der | |
Arbeiterpartei (Labour) mit frischem Schwung an die Macht. Für die Londoner | |
Innenstadt setze er ein Erziehungsprogramm mit dem berühmt gewordenen | |
Slogan „Education, Education, Education“ auf. 2003 folgte mit „The London | |
Challenge“ ein Spezialprogramm für staatliche Schulen. Seither stiegen die | |
Leistungen aller Kinder in London an, mit der Ausnahme von Roma und Sinti | |
und „Travellers“, den Nomaden Irlands. | |
Bei keiner ethnischen Zuwanderungsgruppe war die Steigerung jedoch so | |
markant wie unter SchülerInnen mit bangladeschischer Abstammung. Vor 15 | |
Jahren erreichten weniger als 30 Prozent von ihnen erfolgreiche | |
Schulabschlüsse. An der Schule in Oaklands etwa erlangten im vergangenen | |
Jahr 90 Prozent der Bangladescher gute Mittelschulabschlussresultate | |
(GCSE). Bei Kindern, deren Erstsprache nicht Englisch ist, waren es | |
insgesamt 73 Prozent. Das sind 21 Prozentpunkte über dem Landesschnitt. | |
Bei den dem deutschen Abitur ähnlichen A-Levels erreichten sogar sagenhafte | |
93 Prozent aller SchülerInnen passable A-Levels (Noten 1 bis 3), 15 | |
Prozentpunkte mehr als der nationale Durchschnitt. | |
## Einschulung schon mit vier | |
Von solchen Zahlen können deutsche Schulen nur träumen. Zwar sind | |
hierzulande die Leistungen einzelner ethnischer Schülergruppen an sich | |
genommen gut, doch das eigentliche Problem in Deutschland hat mehr mit der | |
frühen Auftrennung in weiterführende Schulen zu tun. Die entsprechende | |
Pisa-Statistik spricht Bände: 40,3 Prozent der biodeutschen SchülerInnen im | |
Alter von 15 Jahren gehen auf das Gymnasium, nur 8,7 Prozent auf die | |
Hauptschule. Demgegenüber schaffen es nur 29,4 Prozent aller SchülerInnen | |
mit Migrationshintergrund auf ein deutsches Gymnasium. 14,1 Prozent landen | |
in einer Hauptschule. | |
Die deutsche Einteilung in unterschiedliche Schulen kommt für Kinder, deren | |
Muttersprache nicht Deutsch ist, zu früh – sagen englische | |
Bildungsexperten. In England wechseln GrundschülerInnen erst zwei Jahre | |
später, nach der sechsten Klasse, auf die anschließende Mittelschule – ohne | |
Abstufung nach Fähigkeit. Wer Abitur macht und wer nur einen Abschluss der | |
Mittelreife, das entscheidet sich erst dort. Die SchülerInnen sind dann | |
etwa 16 Jahre alt. Auch die deutsche Einschulung mit 7 Jahren sehen | |
britische Schulexperten als zu spät an, um sprachliche Defizite | |
auszumerzen. In England beginnt die Schulpflicht in der Grundschule im | |
Alter von 4 Jahren. | |
„Wir mussten alles schon machen, von Toilettentraining bis zur | |
grundsätzlichen Sprachbildung, erzählt Tej Stride, die Rektorin der | |
Elizabeth-Selby-Schule. Bei solchen Kindern sei es essenziell, sie so früh | |
wie möglich zu kriegen. Spricht ihre Amtskollegin Patrice Canavan von der | |
Oaklands-Schule vom deutschen Schulsystem, greift sie zur | |
Katastrophenmetapher: Die Bildungschancen für Migrantenkinder sei ein | |
„potenzieller perfekter Sturm“. Ausgliederung, Frust, Kriminalität und | |
Schlimmeres – das seien die Folgen davon, dass Kinder in den Schulen nicht | |
weiterkommen. | |
## Schaffung von Schulfamilien | |
Eine der wichtigsten Maßnahmen des Londoner Schulprogramms 2003 war die | |
Schaffung der Schulfamilien. „Früher lebten manche Schulen resigniert und | |
ohne Eingriffe vor sich hin“, erzählt Professor David Woods, einer der | |
Hauptarchitekten des Modells. Für das schlechte Abschneiden ihrer | |
SchülerInnen hatten sich die Schulen eine Ausrede parat gelegt. Die | |
ethnische Mischung der Schule gebe nicht mehr her. Wer wollte, konnte | |
jedoch feststellen: Es gab auch Schulen, in denen ähnliche ethische | |
Konstellationen hervorragende Leistungen hervorbrachten. Die resignierten – | |
und die vorbildlichen Schulen – wurden in den Schulfamilien zusammengelegt. | |
Die alte Ausrede galt seither nicht mehr. | |
Die Aufbauhilfe der resignierten Schulen beinhaltete auch, ihnen besonders | |
gute Lehrkräfte zu vermitteln. Dafür ermittelte die Londoner Schulbehörde | |
eigens die besten dafür geeigneten Lehrkräfte. Des Weiteren wurden | |
Schulgebäude renoviert und neue Mittel bewilligt. Bis heute weiß man nicht, | |
ob renovierte Schulgebäude, Lehrer oder das Management den Ausschlag für | |
bessere Leistungen der SchülerInnen gaben. Rektorin Patrice Canavan ist | |
sich sicher, dass das mit dem gestiegenen Selbstbewusstsein der Schulen zu | |
tun hatte. Oder, wie sie sagt, mit der Überzeugung, „dass wir in der Lage | |
sind, die Kinder zu ihrer bestmöglichen Leistung zu befähigen“. | |
Kinder, die trotzdem hängen bleiben, werden innerhalb von wenigen Wochen | |
durch die statistische Erfassung identifiziert. Klassenresultate, bei denen | |
60 Prozent den Stoff verstehen und 40 Prozent nicht, wurden erstmals als | |
unakzeptables Resultat verworfen. Nicht die SchülerInnen, die Lehrkräfte | |
mussten nacharbeiten. Wie kann ich den Stoff besser vermitteln? Wie hören | |
mir die SchülerInnen zu? Tej Stride erzählt, dass sie bei der Lösung so | |
kreativ sein kann, wie sie will, um am Ende die gewünschten Resultate zu | |
erreichen. In Oaklands werden Kinder schon mal am Samstag, Sonntag oder in | |
den Ferien in die Schule gebeten, wenn wichtige Examen anstehen. Zusätzlich | |
beschränkt man sich gerade in der Grundschule auf ein hohes Niveau in | |
Mathematik und Englisch. Mut zur Lücke. | |
## Verdienstorden der Königin | |
Für ihre erstaunlichen Leistungen im Armutsviertel Tower Hamlets hat | |
Patrice Canavan einen Verdienstorden der Königin verliehen bekommen. | |
Zufrieden ist sie dennoch nicht. „Mir geht es um die paar Prozent, die wir | |
noch nicht erreicht haben.“ Sie träumt von einer „offenen Schule“, einem | |
Angebot für gefährdete Jugendliche. Ob und wann sie in den Unterricht | |
kommen und gehen, sollen sie selbst entscheiden dürfen. Damit, glaubt die | |
Rektorin, könnte man vielleicht noch die Hälfte der Problemkids auf den | |
richtigen Pfad bringen. | |
Für solche Projekte fehlten derzeit – unter der konservativen | |
Austeritätsregierung – allerdings die Ressourcen. Oaklands oder Elizabeth | |
Selby bemühen sich deshalb auch um Businesspartner – auch dies ein Teil des | |
London Challenge Modells. Oaklands’ derzeitiger Hauptpartner ist die | |
japanische Bank Nakamura. An die Elizabeth-Selby-Schule kommen | |
Geschäftsleute aus dem benachbarten Finanzviertel City of London oder den | |
Docklands in ihrer Mittagspause, um mit den SchülerInnen lesen zu üben. Ein | |
Deal, der auch den Industriepartnern hilft. Ihre Schulbesuche oder -spenden | |
sind gut fürs Prestige. Idealerweise springen später qualifizierte | |
Arbeitskräfte für sie ab. | |
Mit den privaten Spenden finanzieren die Schulen Projekte wie das | |
„Klassenzimmer mit Schusslöchern“ – eine Partnerschaft zwischen der | |
Oaklands- und einer syrischen Schule. Das Projekt ist eine Reaktion auf die | |
die Propaganda der Terrorgruppe „Islamischer Staat“, der drei Mädchen einer | |
Nachbarschule auf den Leim gingen und nach Syrien reisten. | |
## Bengalisch auf Literaturniveau | |
Unorthodox sind auch die Unterrichtsmethoden. Die SchülerInnen der 11. | |
Klasse müssen im Kunstunterricht nicht nur die Werke großer Künstler | |
nachzeichnen, sondern auch beschreiben können – dazu brauchen sie Englisch. | |
Im Spanischunterricht geht es vor der großenteils muslimischen Klasse um | |
Worte, die aus dem Arabischen kommen. Neben Englisch und Spanisch gibt es | |
auch Bengalisch auf Literaturniveau. Obwohl die meisten SchülerInnen nicht | |
unbedingt auf multikulturelle Erziehung aus seien, helfe es, glaubt | |
Canavan. Schulreisen gingen in der Vergangenheit sogar nach China und | |
Japan. | |
Für bessere SchülerInnen investierten die Londoner Schulen auch viel Arbeit | |
in die Eltern, sagt Rektorin Stride. Sie klären sie über die Schulpflicht | |
der Kinder auf, bieten ihnen selbst Sprach- und Alphabetisierungskurse an. | |
Unter den Einwanderern sei der Wille zum Erfolg im Grunde oft hoch, sagt | |
Stride. Schwerer sei es, die Kinder der weißen Arbeiterschicht zu | |
motivieren. „Wir müssen hier den Eltern klar machen, dass ihr Versagen | |
nichts mit den Fähigkeiten der Kinder zu tun hat.“ | |
In Oaklands kommen inzwischen 95 Prozent der Eltern zu den Elternabenden. | |
26 May 2016 | |
## AUTOREN | |
Daniel Zylbersztajn | |
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