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# taz.de -- Alltagsgewalt in London: Tausende Messerangriffe pro Jahr
> Dieses Jahr sind fast 40 Menschen bei einem Messerangriff ums Leben
> gekommen. Die Ursache wird in der sozialen Verwahrlosung gesehen.
Bild: Bürgermeister Khan und Met-Leiterin Dick vor einem Boxclub in London, wo…
Islington Green, London, an einem Sonntagnachmittag. Entlang der Abzäunung
des kleinen Parks stehen 30 Protestschilder. Auf jedem sieht man ein
anderes Bild junger Menschen, dazu der Hashtag #EnoughIsEnough (genug ist
genug). Darunter Namen und Slogans wie „Meine Kinder hören mich nicht
mehr“, oder „Ich hatte eine Zukunft“. Die Mehrzahl dieser Opfer erlag
brutalen Messerangriffen, fast alle Opfer und Täter waren unter 25 Jahre
alt.
Väter und Mütter ermordeter Kinder sprechen hier im Park vor ein paar 100
Demonstranten. Für eine Londoner Demo ist das klein und unbedeutend, trotz
der Schwere des Themas. „Es geht mir so, als wäre es erst gestern
passiert“, sagt Yvonne Lawson, Mutter des ermordeten Godwin Lawson. Tränen
vermischen sich mit Beifall anderer Opferfamilien.
Die Londoner Metropolitan Police (Met) verbucht in diesem Jahr einen
24-prozentigen Anstieg in ihrer Kategorie „Messerkriminalität“ im Vergleich
zum Vorjahr. Konkret waren es 4.415 Messerattacken mit Verletzung und 61
Tote. Auch 2017 scheint die Gewalt weiter zu steigen, und das vollkommen
unabhängig von den drei Terrorattacken in London, bei denen bei der Attacke
an der London Bridge und Westminster Bridge auch Messer benutzt wurden. Die
Facebookgruppe Anti-Knife UK, die Messerattacken dokumentiert, glaubt
sogar, dass es eine Dunkelziffer von Angriffen und Opfern gibt.
Auch sind nicht alle Opfer Gangmitglieder oder Drogendealer. Am
bekanntesten ist der Fall Alan Cartwrights, 15. Er wurde vor zwei Jahren
auf seinem Fahrrad vom 18-Jährigen Joshua Williams mit einem Messer
angegriffen. Eine Überwachungskamera zeigte später den Verlauf des
tödlichen Angriffs. Williams wollte nur das Fahrrad klauen, er bekam
„lebenslänglich“.
## Sechs Tote innerhalb einer Woche
Ende Mai erlagen in London innerhalb einer Woche sechs Menschen einer
Messerattacke. Auch im Juni haben Teenager wieder andere Teenager
umgebracht. Der 16-jährige Osman Sharif wurde angeblich wegen eines
Snapchat-Videos ermordet. Die mutmaßlichen Täter waren 16 und 17 Jahre alt.
Die Zahl der Opfer unter 18 Jahren beträgt allein in London in diesem Jahr
bereits 12.
Die Erklärungen für diesen Wahnsinn sind verschieden. Janette Collins, 57,
ist Leiterin des Cribclubs und seit 40 Jahren engagierte Aktivistin. Es
waren Jugendliche ihres Clubs, die die Enough-is-Enough-Kampagne starteten,
nachdem auch zwei ihrer Bekannten ermordet wurden. Ohne zu zögern nennt sie
die Schließung Londoner Jugendeinrichtungen seit Beginn der konservativen
Sparpolitik als einen der Hauptgründe für das Morden.
Ein Bericht der Londoner Grünen Siân Berry bewies, dass die Konservativen
in ihrer Amtszeit in London 36 Jugendzentren schlossen und fast 50 Prozent
aller vorherigen Londoner Jugendsozialarbeiter arbeitslos machten. Dieselbe
Politik hätte Eltern gezwungen „ums Verrecken“ zu arbeiten. Betreuungen f�…
die Kinder nach der Schule fehlen meist. Die Jugendlichen sind stundenlang
alleine am Internet oder hängen auf den Straßen herum, erzählt Collins.
Nicht nur Collins erwähnt das Internet und soziale Medien, auch andere
Jugendarbeiter verweisen darauf. Ein Teil der Generation sei dadurch
vereinsamt, „mit schlechten zwischenmenschlichen Fähigkeiten ohne
Realitätssinn“ als Konsequenz. Wenn solche Jugendliche dann zum Messer
greifen, sei es oft wie im Computerspiel, wenn auch ohne „Reload“.
Die Eltern verlören außerdem die Kontrolle über den Umgang, den ihre Kinder
pflegen. Früher war das anders. „Wenn meine Eltern oder Nachbarn mich in
schlechter Gesellschaft gesehen hätten, hätten sie mir zu Hause die Leviten
gelesen“, erzählt L. Murphy, 73, aus Kentish Town. Schlägereien und
schlechte Stadtviertel hätte es auch damals gegeben. „Wir schlugen uns auch
mit anderen Banden.“ Murphy sagt, Frustration, Armut und das Fehlen von
Orten, wo man als junger Mensch hingehen konnte, seien auch damals schon
die Ursachen dafür gewesen. Heute, so erzählen Experten, geht alles
schneller, Beleidigungen und Eskalationen per Knopfdruck, Mord mit dem
Küchenmesser aus dem Elternhaus.
## Nachbarschaftsstreifen weggekürzt
Einige fordern die Wiedereinführung von spontanen Personenkontrollen, „Stop
and Search“ heißt das hier. Leroy Logan, 60, promovierter ehemaliger
Polizeileiter und Mitglied des schwarzen Polizeivereins, beschäftigt sich
seit Jahrzehnten mit Jugendkriminalität. Kontrollen hätten früher viele
Jugendliche meist einzig wegen ihrer Hautfarbe getroffen. Die Polizei dürfe
auch heute noch Leute durchsuchen, jedoch nicht ohne soliden Verdacht.
Mit den Kürzungen verschwanden die Nachbarschaftsstreifen. Die britische
Polizeivereinigung sieht die Lage wie „auf der Intensivstation“, proaktive
Polizeiaufgaben seien praktisch nicht zu bewältigen. Auch der Verkauf von
Drogen wie Crack und Kokain spielten dabei eine Rolle. „Bei Jugendlichen,
die Drogen verkaufen, führt dies zu Machtkämpfen, wer die Kontrolle von
Bezirken ausübt.“
Nach Waffen sucht die Met ohnehin nicht nur anhand von Personenkontrollen.
Waffen werden oft in der Öffentlichkeit versteckt, unter Treppen und
Büschen. Anfang Mai stieß die Met bei einer einwöchigen Sonderoperation auf
300 Messer, 15 Schusswaffen und 62 andere Waffen.
## Messer sind nur Symptome
Mat Ilic, Justizdirektor von Catch 22, einer der größten
Jugendorganisationen Londons, ist von den Waffenfunden nicht besonders
beeindruckt. Messer seien nur Symptome und schnell wieder zu beschaffen.
Besser wäre es, glaubt er, sich mit dem sozialen Umfeld der jungen Menschen
zu beschäftigen. „Die meisten Opfer und Täter sind schwarz oder arm oder
beides.“ Über die klare soziale Benachteiligung in Großbritannien würde
aber kaum mehr geredet, findet Ilic und fordert: „Wir müssen viel mehr über
Diskriminierung, fehlende Chancen und soziale Benachteiligung reden.“ Ilic
will in seinen Programmen jungen Menschen Chancen und Wege öffnen, die sie
vielleicht noch nie hatten.
Einer der anderen Organisationen, die sich um Prävention kümmern, ist Fight
for Peace in den Ostlondoner Docklands, inmitten von trostlosen
Sozialbauten. Der Ursprung der Organisation liegt in den Favelas
Brasiliens. Hier hatte der Gründer, der Ethnologe Luke Dowdney, beobachtet,
wie junge Menschen mit Kampfsportarten den Teufelskreis der Gewalt
verlassen konnten. Londons Programmdirektor von Fight for Peace, Jacob
Whittingham, 37, erzählt, wie der Kampfsport bei übersteigertem oder
fehlendem Selbstbewusstsein hilft: „Wer im Ring steht, lernt schnell die
eigenen Grenzen kennen und konstruktiv mit seinen Gefühlen umzugehen.“
Einer der Hauptpfeiler der Organisation besteht darin, die vorher
machtlosen Jugendlichen zu Leitfiguren auszubilden. Obwohl es in London
viele Boxklubs gibt, ragt Fight For Peace durch seine einzigartige Mischung
von Sport und Pädagogik heraus. Sozialarbeiter, Arbeitsberater und
Jugendbetreuer sind genauso im Einsatz wie die Sporttrainer. Sporttraining
und Lebenstraining gehen auf diese Weise in einander über.
Eine andere Stärke ist die finanzielle Unabhängigkeit der Klubs von
staatlichen Geldern und Kürzungen. Einer ihrer globalen Hauptsponsoren ist
die Firma Reebok, die auch die Zentren in Rio, Kingston, Nairobi, Cape
Town, in den USA und an anderen Orten mitfinanziert. Dass man so einen Klub
auch in der Hauptstadt eines europäischen G-7-Staates braucht, ist im
Grunde eine Schande.
## Hilfe durch „Fight for Peace“
Tyronne Castello, 27, den das Projekt aus der Londoner Unterwelt
herausbrachte, erzählt, wie er bereits als Sechsjähriger aus der Schule
flog. Weder die alleinstehende Mutter noch die Großeltern konnten helfen.
In Fight for Peace fand er nach drei Jahren Gefängnis eine wirkliche
Betreuung. Heute hilft er, Jüngere auf den Weg zu bringen. Es klappt nicht
immer. Einer der Jugendlichen, Karim Samms, wurde im April in Südostlondon
erschossen, obwohl er durch Fight for Peace gerade eine Ausbildung und
einen Job erhalten hatte. Er starb mit 17 Jahren.
Auch der Jugendclub Redthread kümmert sich um Jugendliche. Redthread gibt
verletzten jungen Menschen die Möglichkeit, sich freiwillig einem/r
JugendarbeiterIn anzuvertrauen, außerhalb jeglichen staatlichen Rahmens.
Geschäftsführer John Poyton erzählt, dass ein junger verletzter und
traumatisierter Mensch sich in einem einzigartigen „Lernmoment“ befindet,
in dem er für Vorschlägen zur Änderung seines Lebens bereit sei.
JugendarbeiterInnen schaffen hier Vertrauen und können die Jugendlichen
später mit Experten vernetzten. Gewalt versteht Redthread hierbei als
Krankheit, deren Übertragung es einzudämmen oder auszuschalten gilt. Neben
Ärzten, Krankenschwestern, Sozialarbeitern sind die
Redthread-Jugendarbeiter nun gleichrangige Teammitglieder in vier
Londoner Krankenhäusern.
Londons Bürgermeister Sadiq Khan hat in dieser Woche seine Strategie in
Sachen Messerattacken veröffentlicht. Das Tragen von Waffen jeder Art soll
geächtet werden. Khan hat ein 7-Millionen-Pfund-Paket geschnürt. Er will
mehr Personenkontrollen, aber erst nach einem neuen Polizeitraining und der
Ausrüstung mit Körperkameras, damit Polizeibeamte Jugendliche nicht
schikanierten. Eine Sondereinheit von 80 Beamten soll nach versteckten
Waffen fanden.
Auch der Verkauf von Messern und Waffen an Jugendliche soll geahndet
werden. An den Schulen sollen Metalldetektoren aufgestellt werden. Zudem
sollen die Budgets der Jugendzentren wieder aufgestockt werden. Auch sollen
verängstigte Jugendliche einen Ort finden, an dem ihnen Fachpersonal zu
Hilfe kommt. Khan will dafür einige der 20 beliebtesten
Fast-Food-Restaurants in London gewinnen. Auch Redthread wird weitere
Zuschüsse erhalten, um die Arbeit in Krankenhäusern auszubauen.
Überdies wird es mehr Sicherheitskräfte auf den Londoner Straßen geben,
nicht jedoch nur wegen der Messerattacken, sondern auch zur Vorbeugung von
Terrorattacken. Ob sich die Lage entschärfen wird, bleibt abzuwarten. Doch
eines der Probleme, welches direkten Einfluss auf die Jugendkriminalität
hat, wird sich trotz allem kaum ändern. Laut den neuesten Berechnungen der
regierungsoffiziellen Kommission in Angelegenheiten sozialer Mobilität
leben 30 Prozent aller Kinder und Jugendlichen in Großbritannien in Armut,
und die Tendenz ist sogar steigend.
1 Jul 2017
## AUTOREN
Daniel Zylbersztajn
## TAGS
Lesestück Recherche und Reportage
Sadiq Khan
Schwerpunkt Rassismus
Schwerpunkt Armut
Gewalt
London
Literatur
Hochhaus
London
London
Schwerpunkt Islamistischer Terror
Schule
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