# taz.de -- Debatte Feuer im Grenfell Tower: Die Träume der Armen | |
> Der Brand verursacht einen tiefen politischen Einschnitt und offenbart | |
> die zerstörten Ideale der britischen Sozialpolitik. | |
Bild: Wohl immer noch voller verkohlter Leichen | |
Jeder, der in London einmal auf der Stadtautobahn vom Flughafen Heathrow | |
ins Zentrum gefahren ist, hat Grenfell Tower zu Gesicht bekommen. Dieses | |
stolze Monster von einem Hochhaus unterhalb von Notting Hill ist ein Symbol | |
des modernen britischen Sozialwohnungsbaus, der unbekümmert mit Stahl und | |
Beton in die Vertikale ging. Heute steht die schwarz verrußte Ruine des | |
Grenfell Towers, die auch eine Woche nach dem Feuer wohl noch immer voller | |
verkohlter Leichen ist, für das Scheitern eines britischen Traums. | |
Es ist nicht einfach irgendein Hochhaus, das da in der Nacht zum 14. Juni | |
[1][in Flammen aufging]. Der Grenfell Tower steht für ein verlorenes | |
Zeitalter, als Großbritanniens Staat radikal Abschied nehmen wollte von | |
Traditionen, als die Moderne mit der Brechstange regierte und als man noch | |
dachte, neue Lebensverhältnisse könnten neue Menschen formen. | |
Der Grenfell Tower wurde 1974 fertig, aber konzipiert wurde er in den | |
1960er Jahren, so wie die gesamte Sozialsiedlung Lancaster West, in deren | |
Zentrum er steht. Einst war London dort am ärmlichsten und schrecklichsten: | |
Notting Dale hinter Notting Hill, die Senke hinter dem Hügel, wo sich im | |
19. und frühen 20. Jahrhundert Iren, Zigeuner und Ausgestoßene um | |
Schweinezucht und Ziegeleien in stinkenden Sümpfen sammelten, außerhalb der | |
vornehmen gepflasterten Stadt. | |
## Brutale Hochhausarchitektur | |
Als Gangsterland blieb diese Gegend bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg | |
verrufen, und hier landeten in den späten 50er Jahren Englands erste | |
schwarze Arbeitsmigranten aus der Karibik, empfangen von der unbarmherzigen | |
weißen Unterschicht erst mit mokierenden Gesängen und dann mit | |
rassistischer Gewalt. Die Notting Hill Riots von 1958 gingen in die | |
Geschichte ein, von der Rechten zum Vorboten einer düsteren | |
multikulturellen Zukunft erklärt, in Wahrheit eine Manifestation einer | |
dysfunktionalen Gegenwart in menschenunwürdigen Slums. Kahlschlag lautete | |
die Antwort von oben, und der Kahlschlag war rabiat: Stadtautobahn über den | |
Dächern, Abriss ganzer Straßenzüge, Implantieren von Häuserkomplexen ohne | |
jeden Charme. | |
England ging damals, in den 1960er Jahren, nicht den französischen Weg der | |
sozialen Quasiapartheid, mit einer weit draußen in der „Banlieue“ | |
ausgesperrten Unterschicht, die notfalls mit militärischen Mitteln in | |
Schach gehalten wird. Die englische Variante war die Durchmischung, das | |
direkte Nebeneinander von Reich und Arm, Gut und Böse. | |
Für die Rechten waren die Sozialghettos Orte der hygienischen und sozialen | |
Aufsicht. Für die Linken fungierten sie als Labore eines neuen Miteinanders | |
ohne spalterisches Privateigentum. Gemein war beiden Sichtweisen die | |
Überzeugung, dass man die englische Arbeiterklasse nicht sich selbst | |
überlassen darf: Erst mal wollte man dafür sorgen, dass sie sich ordentlich | |
benimmt, und dann sehen, ob aus ihr was wird. Sauber und ordentlich: So | |
sahen auch die aufeinandergestapelten Betonklötze aus, die als Wohnungen | |
dienten. | |
Nicht überall wurde dies widerstandslos hingenommen. Nicht weit vom | |
Grenfell Tower entstand in den 70er Jahren Londons aktivste | |
Hausbesetzerszene, die ein paar Jahre lang in dem Abriss geweihten | |
Häuserzeilen eine Freie Republik Frestonia ausrief und sogar die UNO um | |
militärischen Beistand anrief. | |
Die als „Brutalismus“ bezeichnete Hochhausarchitektur hatte wenig Freunde. | |
Eine ganze Ära britischer Popkultur, vom Punk bis zu Pink Floyd, hat sich | |
aus der Einsicht gespeist, dass die Verrohung von Bauten zur Verrohung von | |
Menschen führt. | |
## Durchgangsstation oder Abstellgleis | |
Als Margaret Thatcher 1979 Premierministerin wurde, war der Grenfell Tower | |
gerade mal fünf Jahre alt. Der Thatcherismus bot etwas Neues. Der | |
Sozialstaatskonsens von Konservativen und Labour – vom staatlichen | |
Gesundheitssystem über die Gesamtschulen bis zum sozialen Wohnungsbau – | |
hatte zwar keine Glanzleistungen geschaffen, aber zumindest einen | |
Mindeststandard. | |
Thatcher sagte: So kommen wir nicht weiter. Wer mehr will, soll mehr wollen | |
dürfen. Das kam gut an bei den Ghettobewohnern und wurde als Lockruf zu | |
neuer Freiheit verstanden. Seit 1979 dürfen Sozialmieter ihre | |
Sozialwohnungen kaufen und verkaufen – und sie tun es. Gemeinden hingegen | |
haben jede Möglichkeit verloren, in den sozialen Wohnungsbau zu | |
investieren. Ein zunehmender Zentralismus, der von Thatcher über Blair bis | |
Cameron verstetigt wurde, zwang die kommunale Ebene dazu, immer mehr | |
Tätigkeiten auszugliedern – zum Beispiel an Körperschaften wie die | |
Wohnungsverwaltung KCTMO, die für den Grenfell Tower zuständig ist. Wer es | |
sich leisten kann, zieht seitdem fort. Die Sozialsiedlungen werden | |
Durchgangsstationen für Junge, Abstellgleis für Alte, Unterschlupf für | |
Migranten und Flüchtlinge. | |
Nun wird untersucht, wer alles daran schuld war, dass der Grenfell Tower | |
bei der Renovierung mit einem brennbaren Mantel umhüllt wurde, der zur | |
Todesfalle wurde – die Gemeinde? Die Verwaltung? Die Aufsichtsbehörde? Das | |
Ministerium? Aber so wichtig eine Klärung ist, so offen bleibt dabei die | |
Zukunft einer Sozialpolitik, die entgegen ihrem Anspruch die | |
Benachteiligung weiter Bevölkerungsteile nie beendet hat. Die konservative | |
Empfehlung, jeder könne mehr Geld verdienen und sich dadurch selbst | |
verbessern, hilft genauso wenig wie das Labour-Mantra, mit mehr | |
öffentlichen Geldern wäre das Leben auf der Schattenseite gut. Tatsächlich | |
ist es keine Geldfrage. Es ist eine Statusfrage und eine Frage der Würde | |
des Menschen unter Umständen, die keiner sich ausgesucht hat und die sie | |
nicht selbst gestalten können. | |
Das zu verändern, liegt weit jenseits der Möglichkeiten einer Theresa May | |
oder auch eines Jeremy Corbyn. Wer den Menschen nicht zuhört, ihre | |
Geschichten nicht kennenlernt, ihre Horizonte nicht verinnerlicht und ihre | |
Träume nicht versteht, wird nie eine Politik entwerfen können, die ihnen | |
Glück beschert. Das gilt für die Slums von Mumbai und Lagos, von Manila und | |
Kinshasa, und eben auch für die Nachfahren der Slumbewohner von Notting | |
Dale, die in Betonboxen zivilisiert werden sollten und jetzt darin | |
verbrannten. | |
21 Jun 2017 | |
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[1] /Grossbrand-in-London/!5420761 | |
## AUTOREN | |
Dominic Johnson | |
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