# taz.de -- Debatte Europas Flüchtlingspolitik: Sie sind Deutschlands Zukunft | |
> Europa braucht Einwanderer. Warum es klug ist, bei Flüchtlingsfragen | |
> nicht länger zu moralisieren. Eine ökonomische Argumentation. | |
Bild: Die neuen Bürger*innen. | |
Das Geheimnis des Machterhalts der CDU ist ein schlichtes: Die Partei nimmt | |
die Tatsachen des Lebens ernst. Politisch, gesellschaftlich und am Ende | |
auch kulturell. Ostpolitik, Frauenpartizipation, Atomausstieg, | |
Wehrpflichtabschaffung, in Bälde vermutlich auch die Ehe für alle. Man | |
regiert nicht gegen das Volk, so Helmut Kohl. | |
Jüngst ließ Kanzlerin Angela Merkel sanfte Selbstkritik im Hinblick auf | |
einen anderen Aufreger in konservativen Milieus erkennen. Ihre Partei, so | |
war zu lesen, sei ja nicht gerade berühmt für die Anerkennung dessen, was | |
Deutschland eben längst ist: ein Einwanderungsland. Es war der nötige | |
Akkord in der von Generalsekretär Peter Taubert für wichtig erachteten | |
[1][Debatte über ein neues Einwanderungsgesetz]. Das brauche Deutschland, | |
und daran müsse gearbeitet werden. | |
In der Tat weiß man auch in der Parteizentrale in Berlin, was die | |
mittelständische Wirtschaft, was die Kader der Konzerne als Sorge | |
vortragen: dass Deutschland dringend mehr Menschen braucht, um etwa die in | |
Rente gehenden Facharbeiter*innen zu ersetzen. Ausbildungsplätze aber | |
bleiben unbesetzt. „Deutschland schafft sich ab“ – des Rechtspopulisten | |
Thilo Sarrazin hysterische Weissagung trifft ja, in demografischer | |
Hinsicht, in gewisser Weise zu. | |
Die Prognosen zur Bevölkerungsentwicklung stehen natürlich immer unter | |
Vorbehalt. Um es mit dem verstorbenen FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher zu | |
sagen: Die Weissagungsfähigkeit zur demografischen Entwicklung sind im | |
Sinne der Kristallkugel immer 100 Prozent treffgenau. Gleichwohl: Die | |
deutsche Urbevölkerung schrumpft. | |
## Ausgebildet | |
Nachdem das für Frauen exklusiv nützliche Schwangerschaftsverhütungsmittel, | |
die Pille, auf dem Markt kam – und zwar gegen den eisigen Widerstand der | |
katholischen Kirche –, ist die Geburtenrate so gesunken, dass Familien mit | |
mehr als drei Kindern eher zur irgendwie bedauerten Ausnahme gehören. Kein | |
Familienförderungsprogramm seither hat geholfen, auch nicht das jüngst vom | |
Bundesverfassungsgericht abgeschaffte Betreuungsgeld, in Fülle deutsche | |
Frauen zu bewegen, mehr als ein Kind oder derer gleich drei zur Welt zu | |
bringen. Tun sie aber nicht, das Volk lässt sich ethnisch inspirierte | |
Bevölkerungspolitiken nicht mehr einschwören. | |
Das demografische Downsizing dessen, was einst die deutsche Familie war – | |
der Mann berufstätig in der Welt, die Frau als Amme und Managerin des | |
Alltags daheim, die Kinder aufziehend –, war und ist einer, wenn man so | |
will, Graswurzelbewegung gebärfähiger Frauen zu verdanken (oder geschuldet, | |
je nach Lesart und weltanschaulicher Perspektive). In keinem Jahr wurden so | |
viele Kinder in der Bundesrepublik geboren wie 1964. Von 1965 sanken die | |
Geburtenraten von deutschen Familien (besser: Frauen). | |
Dass die Bevölkerungszahl der Bundesrepublik – und damit die ökonomische | |
Potenz gerade im Facharbeiter- und Angestelltensektor – trotzdem stabil | |
blieb, lag einzig und allein an jenen, die Gastarbeiter genannt wurden. | |
Männer und Frauen aus Italien, Spanien, Portugal, Jugoslawien und der | |
Türkei, die geholt wurden, um in der Bundesrepublik die Schmutzarbeit zu | |
verrichten. Die eingeborenen erwachsenen Deutschen stiegen massenhaft in | |
Büroberufe auf. Seit den frühen siebziger Jahren wurde klar, dass jene, die | |
man nach getaner Maloche wieder ins Geburtsland zurückgeschickt hätte, | |
bleiben wollten. Deutschland war ihnen längst zur zweiten und eigentlich | |
ersten Heimat geworden. | |
Alles änderte sich mit den neuen Bürger*innen – und ihrem Nachwuchs. Noch | |
in den sechziger Jahren gehörten Kinder von Gastarbeitern in den Schulen | |
zur krassen Minderheit; Anfang der achtziger Jahren waren Kinder, die | |
Goran, Ayşe oder Marija oder Gökhan hießen, in großstädtischen Schulen | |
üblich. Die Arbeit an ihrer Integration hatte längst begonnen, nur durfte | |
sie nicht so heißen. Noch vor 15 Jahren machte der CDU-Politiker Jürgen | |
Rüttgers einen allerdings erfolgreichen Wahlkampf mit der Parole „Kinder | |
statt Inder“. Es war die demagogische Kritik an rot-grünen Vorschlägen, | |
dringend benötigte Jobintelligenz im IT-Sektor durch Anwerbeprogramme in | |
Indien zu rekrutieren. | |
## Energisch | |
Aber Deutschland hatte sich längst geändert; am Ende, siehe Angela Merkel | |
jüngst, hatte der ökonomische Kraftprotz Europa genügend Einsicht, wider | |
allen völkischen Mob, die ins Land kommenden Flüchtlinge zu lassen und sie | |
mit bürokratisch hohem Aufwand zu versorgen. Und das hat selbstverständlich | |
auch mit weitgehend funktionierenden Behördenstrukturen zu tun – etwa auch | |
im Vergleich mit Griechenland oder den osteuropäischen EU-Ländern –, aber | |
auch mit dem Bewusstsein, dass Menschen in Not Hilfe brauchen, keine | |
weitere Bedrohung. | |
Historisch gesehen macht Deutschland als Einwandererland keine neue | |
Erfahrung. Preußen holte Hugenotten ins Land, durchaus auch, um die | |
märkischen Bauern auf höhere Zivilisationsstufen zu heben. Im Ruhrpott | |
wimmelt es noch heute von Menschen, deren Familienname irgendwie polnisch | |
klingt. | |
Es war die Kohle, die Arbeiter aus dem agrarischen Polen anwarb – und aus | |
der nicht sehr hübschen Landschaft Westfalens ein gigantisches | |
Industrieareal machte. Letztlich kennen Bundesdeutsche das, was Integration | |
genannt werden kann, sehr genau: Auch nach 1945 waren Millionen an | |
Vertriebenen aus Schlesien und Pommern zu integrieren – und das lief | |
mitnichten immer reibungsfrei ab. | |
Jene, die in den vergangenen Monaten nach Deutschland wollten – über das | |
Mittelmeer, über Landrouten durch das ehemalige Jugoslawien – oder noch | |
einwandern, werden bei uns als Flüchtlinge gesehen. Immer noch aber wird so | |
getan, als würden sie irgendwann wieder gehen. Davon abgesehen, dass das | |
ganz unwahrscheinlich ist, denn die neue Heimat für die allermeisten jener, | |
die bis zur Erschöpfung und mit finanziellen Aufwänden, die tiefe | |
Verschuldung bedeuten, ist ja attraktiv. | |
## Interessant | |
Der ökonomische Rahmen in Deutschland ist attraktiv, die Institutionen des | |
Alltags sind im Vergleich zu jenen in Syrien, dem Libanon, Libyen, Sudan | |
oder Togo nachgerade paradiesisch. In Berlin zumindest – aber auch in | |
Großstädten wie Hamburg, München, Stuttgart oder Köln – sah man in den | |
Siebzigern im Straßenbild Menschen, die irgendwie nicht so | |
straßenköterblond aussehen wie das Gros der Deutschen. Sie sahen eher | |
südländisch aus. Eine ähnlich andere Optik ist jetzt zu bemerken. | |
Deutschland wird anders, weil man plötzlich im Straßenbild sehr | |
dunkelhäutige Menschen sieht, Afrikaner vom Ursprung – und jetzt hier, neue | |
Bürger*innen. | |
Wer nach Deutschland – oder nach Schweden, ein ähnlich attraktives Ziel für | |
Menschen aus Afrika und aus muslimischen Ländern – kommt, tut dies mit | |
einem Ehrgeiz, mit einer Energie und mit einer Aufstiegskraft, die in der | |
traditionellen Bundesrepublik eher selten geworden ist. Aller Motto scheint | |
zu sein: Ich werde ein neues Land finden und mich dort durchsetzen, mit | |
Arbeit, mit Ideen – denn etwas Besseres als den Tod wird es dort geben. | |
Es könnte klug sein – etwa seitens der SPD, auch der Grünen und Linken –, | |
Flüchtlingsfragen nicht länger zu moralisieren. Nicht mehr zu sagen: Oh, | |
die Armen müssen ein Dach überm Kopf haben. Sondern: Super, Flüchtlinge, | |
das kriegen wir organisiert. Das können wir Deutsche. Menschen, die es so | |
unbedingt ins überalterte Europa (und Deutschland) schaffen wollen, haben | |
genau jene aggressive Aufstiegsenergie, an der es der urdeutschen | |
Bevölkerung so oft fehlt. Jene, die kommen, sind solche, die nicht schon | |
bei der Geburt mit akademischen Träumen versehen sind, mit Sparverträgen | |
und der halbwegs sicheren Aussicht auf Jobversorgung. | |
Paul Scheffer hat die Entwicklung vor fast zehn Jahren in seinem Buch „Die | |
Eingewanderten“ auch historisch aufgefächert. Migration, so der | |
niederländische Soziologe und Publizist, ist kein multikulturelles | |
WG-Plenum, sondern eine im günstigsten Fall gesellschaftliche und vor allem | |
ökonomische Erneuerungsbewegung, die nicht ohne Konflikte abgeht. Es kommen | |
in die neue Heimat nicht gute oder schlechte Menschen, sondern Menschen in | |
Not und/oder Lust auf neue Horizonte. Mit Absichten, Hoffnungen und Plänen. | |
## Weniger nachkriegsdeutsch | |
Der als Welt-Herausgeber tätige Thomas Schmid schrieb neulich, dass das zu | |
organisierende sichere Geleit über Grenzen – und das Mittelmeer – | |
organisierbar sein. Ökonomisch könne das Europa der EU noch viele Millionen | |
„verkraften“. Nur müsse dies politisch kommuniziert werden – und | |
demokratisch mit Wahlen legitimiert. Das scheint dann doch zu schmal | |
argumentiert. | |
Eine kluge Politik nimmt Einwanderung nicht als Schicksal hin und tut so, | |
als sei es eine humanitäre Geste, Migranten aufzunehmen. Es bliebe eine | |
Politik der Fürsorge. Im Sinne demografischer Prognosen müsste eine Politik | |
klug werden mit dem Hinweis, dass Einwanderung im Massenmaßstab erwünscht | |
ist, dass sie zu organisieren ist und im Übrigen das Land belebt. Neue | |
Bürger*innen machen alles interessanter, vitaler, weniger einfarbig | |
nachkriegsdeutsch. | |
Flüchtlinge sollten begrüßt, willkommen geheißen werden. Sie sind in jeder | |
Hinsicht jene, die die Zukunft Deutschlands verkörpern werden. | |
3 Aug 2015 | |
## LINKS | |
[1] /Debatte-ueber-Einwanderungsgesetz/!5218720/ | |
## AUTOREN | |
Jan Feddersen | |
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