# taz.de -- Debatte Europa: Diese Krise ist keine Chance | |
> In Berlin und Brüssel glauben viele, die EU werde gestärkt aus der Krise | |
> hervorgehen. Sie liegen falsch. Sie ist dabei, sich selbst abzuwickeln. | |
Bild: Protest gegen die Sparmaßnahmen in Lissabon, Portugal. | |
Auf den ersten Blick ist die Welt in Brüssel noch in Ordnung. Gerade erst | |
hat die Europäische Union den Friedensnobelpreis erhalten. Bundeskanzlerin | |
Angela Merkel hat das Europaparlament mit einem Besuch beehrt. Alle haben | |
höflich geklatscht. Und die EU-Kommission arbeitet wie eh und je: Fast | |
täglich legt sie Vorschläge für neue Gesetze und einen Ausbau der EU vor – | |
derzeit arbeitet sie an einer Großbaustelle namens Bankenunion. | |
Die Europäische Union wächst und gedeiht auch im fünften Jahr der Finanz- | |
und Schuldenkrise. Gewiss, die [1][Länder des Südens leiden]. Doch um ihnen | |
zu helfen, wurden neue Regeln wie der Fiskalpakt und neue Institutionen wie | |
der dauerhafte Eurorettungsschirm ESM aus dem Boden gestampft. Bald wird es | |
auch eine Finanzsteuer geben. Später, vielleicht schon bei den Europawahlen | |
2014, soll sogar ein Schuss mehr Demokratie dazukommen. | |
Dass die EU auch aus dieser Krise gestärkt hervorgehen werde, glauben daher | |
viele in Brüssel und Berlin: Entscheidungen bräuchten eben Zeit, Reformen | |
kämen immer nur langsam voran, vor allem, wenn Deutschland dauernd auf der | |
Bremse steht. Doch ohne es zu wissen oder zu wollen – behaupten überzeugte | |
Europäer wie der Grüne Daniel Cohn-Bendit oder der belgische Liberale Guy | |
Verhofstadt –, treiben die EU-Chefs das europäische Projekt auch in der | |
Krise voran. | |
## Neoliberales Crashprogramm | |
„Wir brauchen Quantensprünge“, [2][forderte Cohn-Bendit in der taz]. Und er | |
gab sich optimistisch: Sogar Merkel werde sich dem europäischen Fortschritt | |
nicht in den Weg stellen. In der Zeit bescheinigte er ihr sogar, eine | |
„Teilzeitrevolutionärin“ zu sein, die zur „Gründerin der Vereinigten | |
Staaten von Europa“ mutieren könne. | |
Was für ein Irrtum! | |
Natürlich ist es richtig, dass Merkel & Co. noch vor zwei Jahren all das | |
abgelehnt haben, was sie heute widerwillig aufbauen. Richtig ist auch, dass | |
die neuen, aus der Not geborenen Instrumente die Möglichkeit bieten, sie | |
auszubauen. Aus dem ESM könnte ein Europäischer Währungsfonds werden, aus | |
der Finanzsteuer eine eigenständige Einnahmequelle für die EU, aus dem | |
umstrittenen Anleihekaufprogramm der Europäischen Zentralbank eine | |
Transferunion. | |
Theoretisch ließe sich all dies mit gemeinsamen Staatsanleihen – den | |
sogenannten Eurobonds – und einer demokratisch gewählten EU-Regierung zu | |
einem neuen Ganzen ausbauen. Wenn man dann alles kräftig durchschüttelt und | |
einen großen Schuss Dialektik hinzugibt, könnten sogar die „Vereinigten | |
Staaten von Europa“ dabei herauskommen. | |
Doch wie sieht die Praxis aus? Merkel & Co. tun alles, um die Gemeinschaft | |
zu schwächen und die Nationalstaaten zu stärken. EU-Kommission, | |
Europaparlament und die Krisenländer sind entmachtet. Die | |
Rettungsinstrumente sind so programmiert, dass sie die EU spalten, die | |
Demokratie aushöhlen und die Konjunktur abwürgen. Der ESM wird dazu | |
missbraucht, Südeuropa ein neoliberales Crashprogramm überzustülpen. Das | |
Anleiheprogramm darf nur nutzen, wer sich mit Haut und Haaren den Dogmen | |
von Privatisierung und Liberalisierung verschreibt. Und die Finanzsteuer | |
kommt nur den Finanzministern zugute. | |
## Merkel hält kurz | |
Merkel & Co. sträuben sich nicht nur dagegen, Brüssel eigene Steuern | |
zuzugestehen. Sie wollen die Gemeinschaft auch auf Dauer kurzhalten, wie | |
der Streit über das EU-Budget zeigt. Nicht einmal das Geld für den erst im | |
Juni beschlossenen Wachstumspakt stellen sie bereit. | |
Spätestens an diesem Punkt wird klar, dass die EU keineswegs von der Krise | |
profitiert, wie manche hoffen. Vielmehr hat ihre Abwicklung begonnen, auch | |
wenn dies natürlich niemand zugeben würde. Mittelkürzung und | |
Renationalisierung sind zwei Seiten derselben Medaille. | |
Gleichzeitig nimmt ein neues, von Deutschland dominiertes Europa Gestalt | |
an. Gemeinsam mit Finnland und den Niederlanden, aber gegen Frankreich, | |
Italien und Spanien drückt Merkel der EU ihren Stempel auf. Das müsste | |
nicht weiter schlimm sein, wenn sie es ernst meinte mit „mehr Europa“ und | |
mehr Solidarität. | |
## Gnadenloses Regime der Troika | |
Doch das ist Wunschdenken. Statt des erhofften großen Sprungs nach vorn hat | |
die EU die größte Rolle rückwärts ihrer Geschichte gemacht. Unter dem | |
gnadenlosen Regime der Troika, dessen Regeln von Berlin mitgeschrieben | |
wurden und werden, findet ein breit angelegter Angriff auf den | |
Wohlfahrtsstaat statt. In halb Südeuropa wird die Demokratie ausgehebelt – | |
betroffen sind mit Griechenland, Spanien und Portugal ausgerechnet jene | |
Länder, die mit dem EU-Beitritt endgültig der Diktatur entkommen wollten. | |
Cohn-Bendit und seine Mitstreiter blenden diese dunkle Seite aus. Sie | |
halten sich nicht lange bei den aktuellen Nöten und Gefahren auf, sondern | |
blicken lieber in die Zukunft, weit in die Zukunft. Das ist das Drama des | |
überzeugten Europäers: Einerseits will er in der großen Krise eine Chance | |
ausmachen, endlich ein neues, demokratisches und solidarisches Europa zu | |
schaffen. Andererseits muss er hilflos mit ansehen, wie die EU immer mehr | |
zu einem autoritären, neoliberalen Projekt verkommt. | |
Ich fürchte, dass wir dieses Drama erst dann überwinden werden, wenn wir | |
uns von dieser EU und dieser Bundesregierung verabschieden und ein neues | |
Europa jenseits der neoliberalen Eliten denken. Denn die alte Idee, dass | |
die Wirtschaft Europa einen würde, hat sich in der Krise ebenso als fataler | |
Irrtum erwiesen wie die neue, in Brüsseler EU-Zirkeln beliebte Theorie, | |
dass „die Märkte“ eine europäische Föderation erzwingen. „Die Märkte�… | |
können sehr gut mit einer schwachen EU leben, solange nur die Schulden | |
bedient und die Banken geschont werden – das haben die letzten Jahre | |
gezeigt. | |
Wir brauchen ein anderes Europa, eine EU 2.0, die die Geburtsfehler der | |
alten Union – die einseitige Fixierung auf den Markt und die elitäre | |
Aushebelung der Demokratie – beendet. Aufrufe zur Umkehr gibt es bereits | |
viele. Es wird Zeit, sie in die Tat umzusetzen. Denn die heile Welt der EU | |
ist nur Fassade. Dahinter bröckelt es gewaltig. | |
15 Nov 2012 | |
## LINKS | |
[1] /Generalstreik-in-Spanien-und-Portugal/!105559/ | |
[2] /Daniel-Cohn-Bendit-ueber-das-EU-Manifest/!102718/ | |
## AUTOREN | |
Eric Bonse | |
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