| # taz.de -- Rückkehr nach Fukushima: Strahlende Heimat | |
| > Zwei Jahre nach der Atomkatastrophe wollen nur die Alten wieder in die | |
| > evakuierten Gebiete – trotz aufwändiger und teurer Dekontaminierung. | |
| Bild: Allein zu Haus: Heimkehrer in die Provinz Fukushima. | |
| KAWAUCHI taz | Die elektronische Tafel auf dem Hof der Grundschule von | |
| Kawauchi zeigt 0,09 Mikrosievert pro Stunde an. Bei dieser Strahlung weit | |
| unter dem Grenzwert ist das Spielen draußen völlig ungefährlich. Trotzdem | |
| sind erst 16 von 114 Schülern zurückgekehrt, seitdem der Evakuierungsbefehl | |
| für die Kleinstadt aufgehoben wurde. | |
| Nur die dreizehn Lehrer sind alle wieder da. „Wegen der Strahlung mache ich | |
| mir keine Sorgen“, versichert die zehnjährige Mariko. Doch Direktor Hitoshi | |
| Takashima empfindet eine dumpfe Bedrohung. Er habe Angst vor einem neuen | |
| Unfall: „Ich kann nicht vergessen, wie nahe die Atommeiler sind.“ | |
| Die Kleinstadt Kawauchi zieht sich durch ein lang gestrecktes Tal mit | |
| Reisfeldern. Auf den sanften Hügelketten liegt Anfang März noch viel | |
| Schnee. Seit Generationen leben die Menschen hier eng verbunden mit diesen | |
| Schollen – bis vor zwei Jahren die Atomkraftwerke von Fukushima Daiichi, | |
| nur 20 Kilometer Luftlinie entfernt, außer Kontrolle gerieten. Radioaktive | |
| Partikel legten sich wie ein unsichtbarer Schleier über die Idylle. Alle | |
| Einwohner mussten fliehen. | |
| Zwei Jahre später regt sich wieder Leben in der Stadt. Die Strahlung ist | |
| nicht so hoch, dass eine Rückkehr auf Jahre unmöglich ist – anders als etwa | |
| im 20 Autominuten entfernten Tomioka, das für fünf Jahre gesperrt bleibt. | |
| Nur das Übernachten in Häusern innerhalb der früheren Sperrzone ist noch | |
| verboten. | |
| ## Gleichbedeutend mit Lebensgeschichte | |
| Treibende Kraft für den Neuanfang ist Bürgermeister Yuko Endo. „Kawauchi | |
| ist in meinen Erbanlagen verankert, denn Heimat ist gleichbedeutend mit | |
| Lebensgeschichte“, sagt er. Schon aus genetischen Gründen müsse er | |
| zurückkehren. | |
| Sein Bekenntnis zur Heimat trifft den Kern des Problems, dem sich Japan | |
| seit der Atomkatastrophe stellen muss. Was soll mit den 160.000 Menschen | |
| geschehen, die durch die radioaktiven Wolken vertrieben wurden? In | |
| Tschernobyl in der Ukraine wurde diese Frage durch die Umsiedlung der | |
| Anwohner beantwortet. | |
| Für Bürgermeister Endo kommt das nicht infrage. „Wir dürfen nicht den Stolz | |
| verlieren, dass das Leben hier einen Wert hat“, meint er. Nur in der Heimat | |
| lebe man ruhig und geborgen. „Das alles möchte ich bewahren.“ | |
| Der Erhalt der Heimat kostet Unsummen. Die Dekontaminierung allein von | |
| Kawauchi hat schon 83 Millionen Euro verschlungen – 30.000 Euro für jeden | |
| Einwohner. In der ganzen Region Fukushima werden 8 Milliarden Euro | |
| ausgegeben, um evakuierte Gebiete, die nicht zu sehr verstrahlt wurden, | |
| bewohnbar zu machen. Trotzdem wird ein Restrisiko für die Gesundheit | |
| bleiben. Die Evakuierten müssten selbst entscheiden, ob sie dieses Risiko | |
| tragen wollen, wie der Bürgermeister betont. | |
| ## Kein anderes Leben wagen | |
| Doch die teure Dekontaminierung hat kaum jemanden beruhigt. Von 2.800 | |
| Einwohnern wollen 700 nicht mehr zurück. 500 leben wieder in Kawauchi, | |
| weitere 700 kommen tagsüber zur Arbeit. Bürgermeister Endo nennt drei | |
| Gründe für die Zurückhaltung: „Erstens gibt es eine allgemeine Angst vor | |
| Radioaktivität, zweitens sind die kaputten Reaktoren immer noch nicht unter | |
| Kontrolle, drittens fehlt Kawauchi die Bequemlichkeit einer Großstadt.“ | |
| Das Gros der Rückkehrer sind Rentner, die kein anderes Leben mehr wagen | |
| wollen. „Es ist so traurig, dass man gar keine Kinderstimmen mehr hört“, | |
| klagt die 64-jährige Keiko Shirai mit feuchten Augen. Aber sie will ihre | |
| Tochter mit den zwei Enkelkindern nicht um Rückkehr bitten. | |
| „Falls ein Kind später durch die Strahlung krank wird, wird sie mir die | |
| Schuld geben“, sagt die Frau mit dem wettergegerbten Gesicht. Dabei erhält | |
| jeder Rückkehrer ein kleines Dosimeter, das die aktuelle und akkumulierte | |
| Belastung aufzeichnet. Zuvor wurden alle Evakuierten auf innere | |
| Verstrahlung untersucht. | |
| ## Gesunkene Strahlungswerte | |
| Die Rentnerin hofft auf das Frühjahr. Dann könnten mehr Evakuierte nach | |
| Kawauchi umsiedeln. Denn ab 1. April, dem Anfang des Steuerjahres in Japan, | |
| wird die Miete für die Übergangswohnungen nicht mehr bezahlt. Der Stopp | |
| wird damit begründet, dass die Lebensgebiete der Evakuierten dekontaminiert | |
| wurden. Die Dächer der Wohnhäuser wurden gewaschen, alle Oberflächen im | |
| Umkreis von 20 Metern gesäubert, Bäume und Sträucher beschnitten, das | |
| Unterholz gerodet. Die Strahlung sank um zwei Drittel und mehr. | |
| Leider habe das nicht überall ausgereicht, räumt Dekontaminierungsleiter | |
| Juichi Ide ein: „Vor einigen Haustüren messen wir immer noch 1 Mikrosievert | |
| pro Stunde.“ Das sei viermal mehr als gesetzlich erlaubt. Die Stadt | |
| verlangt vom Staat jetzt eine zweite Dekontaminierung. | |
| Dagegen wurden Äcker und Felder schon so gereinigt, dass dieses Jahr wieder | |
| Reis gepflanzt werden kann. Kazuo Watanabe, Chef des Bauernkomitees, | |
| verlegt dafür mit einem Bagger gerade neue Kanäle. „Für die jüngeren Baue… | |
| gibt es endlich einen Grund zur Rückkehr“, freut sich Watanabe. | |
| Von stark kontaminierten Feldern wurden die obersten 5 Zentimeter Erde | |
| abgetragen. Die anderen Äcker wurden bis in 20 Zentimeter Tiefe umgepflügt. | |
| Die Bauern erhalten neue Samen von der Regierung, die Ernte wird komplett | |
| vom Staat aufgekauft. Das dämpfe die Angst der Bauern, dass niemand ihren | |
| Reis haben will, meint Watanabe. | |
| ## „Der Sicherheitsmythos ist tot“ | |
| Wenn der 68-Jährige in seiner dünnen Jacke im eisigen Wind auf dem Feld | |
| steht, spürt man, wie verwachsen er mit diesem Boden ist. Eigentlich gelten | |
| die Menschen hier als besonnen. Doch Watanabe kann seine Wut nicht zügeln: | |
| „Tepco hat diese Katastrophe verschuldet. Warum hat dieser Konzern das | |
| Recht, uns ein Formular unter die Nase zu halten, damit wir entschädigt | |
| werden?“ | |
| Dennoch zögert Watanabe mit einer Generalkritik an der Atomkraft. „Der alte | |
| Sicherheitsmythos ist zerstört, das denken alle hier“, meint er. Aber ohne | |
| Tepco hätten die jüngeren Bauern, die Reis nur im Nebenerwerb anbauen, | |
| keine Arbeit. | |
| Früher war das Leben in Kawauchi auf die Küste orientiert. Viele Bewohner | |
| arbeiteten in den zehn Reaktoren der Atomanlagen Fukushima Daiichi und | |
| Daini und einem Kohlekraftwerk. Richtung Küste lagen die Oberschulen, die | |
| Krankenhäuser, die Altenheime, die Hochzeitshallen und das Krematorium. | |
| Kawauchi war eine Schlafstadt. Aber nun ist der Weg zur Küste wegen der | |
| Strahlung versperrt. | |
| Daher will Bürgermeister Endo diese Infrastruktur neu schaffen. Dann würden | |
| auch Evakuierte nach Kawauchi ziehen, deren Städte nahe der Küste auf Jahre | |
| unbewohnbar bleiben. Die einfache Lösung, das unbeschädigte Atomkraftwerk | |
| Fukushima Daini zwölf Kilometer südlich der Katastrophen-Meiler wieder in | |
| Betrieb zu nehmen, lehnt er ab. „Würden wir hier weiter Atomstrom erzeugen, | |
| lachte doch die ganze Welt über uns“, sagt er nachdenklich. „Aus dieser | |
| Katastrophe muss man Lehren ziehen, sonst hatte sie doch gar keine | |
| Bedeutung.“ | |
| ## Solarenergie in Fukushima | |
| Daher haben sich der Bürgermeister und der Bauernpräsident für den Bau | |
| eines Solarkraftwerkes eingesetzt. Auf 9 Hektar Wiese werden ab April die | |
| ersten Solarmodule für die 6-Megawatt-Anlage montiert. Die Region Fukushima | |
| gehört zu den sonnenreichsten in Japan. Das Kraftwerk ist ein | |
| deutsch-japanisches Projekt – Module von Solarworld und Wechselrichter von | |
| Toshiba und Mitsubishi. | |
| Dahinter stehen das Ökozentrum NRW aus Hamm und ein japanischer Partner. | |
| Geschäftsführer Manfred Rauschen weiß, dass den Bauern die Zustimmung nicht | |
| leicht gefallen ist. „Die Solaranlage verbraucht nur 3 Prozent der | |
| Agrarfläche, aber es könnten noch mehr Anlagen folgen“, berichtet Rauschen | |
| nach der Grundsteinlegung in der vergangenen Woche. | |
| Der Wille zum Solarprojekt ist so groß, dass man eine Ausnahmegenehmigung | |
| erreichte. Entgegen den nationalen Vorschriften wird die Solaranlage auf | |
| Ackerland errichtet. Eigentlich hat die Nahrungsproduktion in Japan | |
| Vorrang. | |
| Doch die Wiesen auf 800 Meter Höhe brachten den Bauern von Kawauchi nur | |
| wenig Pacht ein und wurden landwirtschaftlich nicht genutzt. Nun verdienen | |
| sie aufgrund der hohen Einspeisetarife viel mehr Geld mit ihrem Land. Der | |
| erste Solarstrom soll im Spätsommer fließen. | |
| ## Nur „grüner“ Strom ab 2040 | |
| Der Schwenk zu erneuerbaren Energien symbolisiert jenen Neuanfang, den sich | |
| Bürgermeister Endo für Kawauchi wünscht. Bis 2040 will die ganze Präfektur | |
| Fukushima nur noch „grünen“ Strom konsumieren. Doch das Cäsium aus den | |
| Reaktoren wird die Menschen in der Region weiter bedrohen. | |
| In einem abgelegenen Tal am Rand der Gemeinde stapeln sich nämlich 35.000 | |
| riesige blaue Säcke voller verstrahlter Erde und kontaminierter Äste, | |
| Blätter und anderer organischer Abfälle – auf früheren Buchweizenfeldern in | |
| langen Reihen aufeinandergetürmt und größtenteils mit grünen Planen | |
| abgedeckt. | |
| Vier solche Deponien mit insgesamt 200.000 Säcken werden in Kawauchi | |
| entstehen. „Der gesamte Abfall soll nach drei Jahren wieder von hier | |
| verschwinden“, erzählt Bürgermeister Endo. Doch der japanische Staat kann | |
| dieses Versprechen vielleicht nicht halten. Bisher gibt es nicht einmal | |
| Zwischenlager für diese gefährlichen Überbleibsel der Katastrophe von | |
| Fukushima, die so vielen Japanern die Heimat genommen hat. | |
| 7 Mar 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Martin Fritz | |
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