# taz.de -- Debatte Armutsmigration: Das schlechte Gewissen | |
> In Deutschland wird überzogen auf die Zuwanderer aus dem östlichen Europa | |
> reagiert. Nur wenige von ihnen beziehen übrigens Hartz IV. | |
Bild: Roma-Kinder in Berlin-Neukölln | |
Nur mal so eine Idee: Anti-Werbespots für Deutschland werden in Rumänien | |
und Bulgarien im Fernsehen gezeigt. Man sieht zugewanderte Rumänen und | |
Bulgaren, die hierzulande in Abbruchhäusern mit kaputten Heizungen frieren. | |
Die in Jobcentern Sachbearbeitern begegnen, die abweisend den Kopf | |
schütteln. Die im Regen in langen Schlangen vor den Notaufnahmen der | |
Krankenhäuser stehen. Dazu dann der Text: „Deutschland – ein kaltes Land. | |
Das Leben dort ist hart“. | |
Vielleicht könnte man die Anti-Deutschland-Werbespots abschließen mit | |
romantischen Bildern der Karpaten oder des Schwarzen Meers: „Eure Heimat | |
ist doch so schön.“ Was zynisch klingt, wurde in Großbritannien zumindest | |
erwogen, wie die britische Zeitung Guardian schrieb. Dort dachten Politiker | |
laut darüber nach, wie man eine Art Negativkampagne gegen Großbritannien in | |
Bulgarien und Rumänien platzieren könnte, um die EU-Zuwanderer davon | |
abzuhalten, auf die Regeninsel zu kommen. | |
Die Angst vor der „Armutszuwanderung“ aus den südosteuropäischen EU-Länd… | |
wächst auch hierzulande. Dies muss dringend politisch moderiert werden. | |
Denn inzwischen werden Zahlen, Vermutungen und Mythen in die Welt gesetzt, | |
die mit der Wirklichkeit nur noch begrenzt zu tun haben. | |
Unterm Strich sind im Jahre 2011 nur 58.000 Zuwanderer aus Rumänien und | |
Bulgarien nach Deutschland gekommen, Kinder mit eingerechnet. Rumänen sind | |
etwa in den vergangenen Jahren in sehr viel größerer Zahl nach Italien | |
migriert, allein schon wegen des wärmeren Klimas dort und der sprachlichen | |
Ähnlichkeiten. | |
## Nur bestimmte Straßenzüge sind betroffen | |
Es ist auch nicht anzunehmen, dass der überwiegende Teil der Zugewanderten | |
aus Bulgarien und Rumänien Roma oder Sinti sind. In Rumänien und Bulgarien | |
selbst liegt der Anteil der Roma und Sinti an der Bevölkerung zwischen drei | |
bis vier Prozent, sagt Herbert Brücker, Migrationsexperte am Institut für | |
Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg. Bei der ethnischen | |
Bestimmung wird auf Selbstauskünfte der Leute zurückgegriffen, amtliche | |
Definitionen dazu gibt es in Deutschland nicht. | |
Bei näherer Betrachtung wirken die Zahlen auch sonst überschaubar. So | |
verzeichnet Berlin-Neukölln für den Juni 2012 rund 4.500 gemeldete Rumänen | |
und Bulgaren im Bezirk, Kinder inbegriffen. Davon bezieht die Mehrzahl | |
keine Hartz-IV-Leistungen. Neukölln hat übrigens 316.000 Einwohner. Wo also | |
ist das Problem? | |
Das Problem liegt in der Ballung von Belastungen in bestimmten | |
Straßenzügen, vor allem aber in den Ängsten, was da noch kommen könnte an | |
Armutszuwanderung. Ab 1. Januar 2014 können Bulgaren und Rumänen in | |
Deutschland legal arbeiten und damit auch etwa bei einem Minijob ergänzende | |
Hartz-IV-Leistungen beziehen. Es ist aber unwahrscheinlich, dass es zu | |
einer massiven Einwanderung ins Hartz-System kommt, da ja eine | |
Erwerbstätigkeit Voraussetzung ist. | |
## Das eingewanderte Elend | |
Für die Polen herrscht schon seit Mai 2011 Arbeitnehmer-Freizügigkeit. Die | |
Zahl der polnischen ArbeitnehmerInnen hierzulande ist steil nach oben | |
gegangen, die der polnischen Hartz-IV-Bezieher stieg hingegen nur | |
vergleichsweise bescheiden an. Trotzdem bleibt die Angst vor der | |
„Armutsmigration“. Denn es sind vor allem die Elendsbilder, die schon | |
kleine Fallzahlen so bedrohlich wirken lassen. | |
Durch die Zugezogenen sieht man in Deutschland plötzlich mit eigenen Augen, | |
welches gigantische Wohlstandsgefälle in der EU herrscht. Es kommen | |
EU-Bürger, die hier in Obdachlosenunterkünften oder in Abbruchhäusern | |
leben, in die hiesige Hartz-IV-Empfänger nicht einziehen würden. | |
Vielköpfige Familien ohne Krankenversicherung, für die der Bezug von ein | |
paar Hundert Euro Kindergeld schon ein Wohlstandsgewinn ist. | |
Wenn die Superarmen aus der EU so nahe rücken, wachsen bei den hier | |
Ansässigen Verlustängste und Schuldgefühle. Dabei wird ein bisschen | |
Wohlstandsgefälle in der EU ansonsten als komfortabel empfunden. | |
Schließlich profitieren hierzulande Tausende Privathaushalte von billigen | |
polnischen Reinigungs- und Pflegekräften. | |
Doch der Anblick der Superarmen ist etwas anderes. Wenn Menschen auf dem | |
Bürgersteig knien und die Hände bettelnd heben und Frauen mit Babys vor der | |
Brust die Vorbeieilenden mit leidendem Blick anschauen, dann nervt diese | |
Ikonografie des Bittens und Bettelns. Man fühlt sich manipuliert durch so | |
viel Demutsgesten. Sie berühren aber auch unser Gewissen. | |
## Hysterische Stadtverwaltung | |
Die Konfrontation mit diesen zwiespältigen Gefühlen verstärkt den Wunsch | |
nach Abgrenzung. Diesen Wunsch muss man respektieren. Erst recht, wenn er | |
von Leuten kommt, die schon in sogenannten Problemvierteln leben und | |
instabile Nachbarschaften fürchten, weil Besitzer von Abbruchhäusern ihre | |
Räume zu Wuchermieten an Zuwanderer vermieten. | |
Im sogenannten Roma-Statusbericht von Berlin-Neukölln schreiben die | |
Autoren, dass türkische und arabische Jugendliche sich in Jugendprojekten | |
abgrenzen, wenn junge Roma dort auftauchen. Allerdings gibt es auch Systeme | |
der Ausbeutung am unteren Rand, wenn türkischstämmige Zuwanderer aus | |
Bulgarien an hiesige Hartz-IV-Bezieher saftige Gebühren für private | |
Übersetzer- und Vermittlerdienste zahlen. | |
Die Belastungen durch obdachlose EU-Zuwanderer dürfen nicht nur in | |
bestimmten Nachbarschaften belassen werden. Es ist richtig, wenn der | |
Deutsche Städtetag für haushaltsmäßig klamme und besonders betroffene | |
Kommunen wie Dortmund, Duisburg oder Berlin-Neukölln mehr Hilfe von den | |
Länderregierungen und vom Bund fordert. Die Städte wollen Geld für die | |
Beschulung und einen Gesundheitsfonds, um Nothilfe leisten zu können. | |
Es muss mehr Sanktionsmöglichkeiten gegen die überteuerte Vermietung von | |
Schrottimmobilien geben. Doch der Wunsch der Städte, die Einreise aus der | |
südöstlichen EU wieder zu blockieren, geht zu weit. Wir müssen bereit sein, | |
mehr Fremdheit im eigenen Land zu akzeptieren, inklusive des unbehaglichen | |
Gefühls, das uns beschleicht, wenn wir uns durch die Augen der Superarmen | |
selbst betrachten. | |
5 Apr 2013 | |
## AUTOREN | |
Barbara Dribbusch | |
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