# taz.de -- Parlamentswahlen in Bulgarien: 350.000 Stimmzettel aus dem Nichts | |
> In Sofia zeichnet sich keine klare Mehrheit für eine Regierungsbildung | |
> ab. Laut Beobachtern waren die Wahlen „weit von europäischen Standards | |
> entfernt“. | |
Bild: Proteste vor dem Nationalpalast in Sofia. | |
SOFIA taz | Premiere in Bulgarien: Bei den vorgezogenen Parlamentswahlen | |
vom Sonntag haben die Wähler zum ersten Mal seit 1997 eine Regierung nach | |
nur einer Amtszeit nicht eindeutig abgestraft und in die Opposition | |
geschickt. Ersten vorläufigen Ergebnissen der Zentralen Wahlkommission | |
zufolge kam die rechtsliberale Partei Gerb („Bürger für eine demokratische | |
Entwicklung Bulgariens“) des ehemaligen Premiers Bojko Borissow auf 31,38 | |
Prozent der Stimmen und stellt damit voraussichtlich 97 der 240 | |
Abgeordneten in der neuen Volksversammlung. | |
Wie es jetzt politisch in dem ärmsten EU-Land weitergeht, in dem Korruption | |
nach wie vor zu den größten Problemen zählt, ist derzeit völlig unklar. Der | |
Wahlsieger Gerb verzichtete am Sonntagabend auf eine Stellungnahme. Diese | |
wolle man erst abgeben, wenn die offiziellen Ergebnisse feststünden, hieß | |
es. | |
Tzwetan Tzwetanow deutete die Möglichkeit einer Minderheitsregierung an. | |
Aber auch eine Regierung unabhängiger Experten unter angemessener | |
Beteiligung von Ministern der Gerb könne man sich vorstellen. Dieses | |
Szenario forderten auch die DPS sowie der Chef der BSP, Sergej Stanischew – | |
allerdings unter Ausschluss der Gerb. | |
Die Sozialisten (BSP) erreichten 27,43 Prozent und erhalten 85 Mandate. Die | |
„Bewegung für Rechte und Freiheiten“ (DPS), die die Interessen der | |
türkischen Minderheit vertritt, landete bei 9,15 Prozent (34 Sitze), | |
gefolgt von der nationalistischen Partei Ataka. Der Rechtsausleger konnte | |
7,5 Prozent der Stimmen für sich verbuchen und schickt 24 Vertreter ins | |
Parlament. | |
## Fast die Hälfte bleibt zu Hause | |
Alle anderen Parteien scheiterten an der Vierprozenthürde. Die | |
Wahlbeteiligung lag bei 53 Prozent. Regulär hätten die Bulgaren erst im | |
Juli über ein neues Parlament abstimmen sollen. Die Neuwahlen wurden jedoch | |
notwendig, nachdem Borissow und seine Regierung als Reaktion auf | |
Massenproteste gegen überhöhte Strompreise im Februar zurückgetreten waren. | |
Zu Protesten in Sofia kam es auch am Wahlabend vor dem nationalen | |
Kulturpalast, in dem traditionell die ersten Pressekonferenzen der Parteien | |
nach den Wahlen stattfinden. Unter Rufen wie „Mafia, Mafia!“, versuchten | |
hunderte aufgebrachte Demonstranten, die zum Teil brennende Fackeln trugen | |
und in bulgarische Fahnen eingehüllt waren, sich Zugang zu dem Gebäude zu | |
verschaffen. | |
Aufgeheizt worden war die Stimmung durch Medienberichte vom Vortag, wonach | |
in einer Druckerei 350.000 zusätzliche Stimmzettel aufgetaucht waren – für | |
die Opposition ein klarer Beweis für den Versuch Bojko Borissows und seines | |
ehemaligen Innenministers Tzwetan Tzwetanow, die Wahlen zu fälschen. Einige | |
Vertreter der Opposition hatten daraufhin gefordert, die Wahlen zu | |
verschieben. | |
## Kauf von Wählerstimmen | |
Doch die ominösen Stimmzettel waren nicht die einzige Unregelmäßigkeit. So | |
soll in mehreren Städten der Kauf von Wählerstimmen im großen Maßstab | |
betrieben bzw. Wähler dafür bezahlt worden sein, gar nicht erst nicht zu | |
den Urnen zu gehen. Zudem versagten die Druckerpatronen zahlreicher | |
Kopierer, was die Vervielfältigung der Protokolle der Wahllokale und somit | |
die Auszählung verzögerte. „Das politische System in Bulgarien funktioniert | |
nicht. Diese Wahlen waren weit von europäischen Standards entfernt“, sagte | |
Antoaneta Tzonewa, einheimische Wahlbeobachterin und Mitarbeiterin des | |
Sofioter Instituts für die Entwicklung einer kritischen Öffentlichkeit. | |
Die Regierung sei die inkompetenteste Führung seit 20 Jahren, sagte | |
BSP-Chef Stanischew und sprach in diesem Zusammenhang von einem „sozialen | |
und geistigen Genozid“, den die Gerb-Regierung in Bulgarien begangen habe. | |
Ataka-Chef Wolen Siderow wollte sich nicht eindeutig zu einer möglichen | |
Zusammenarbeit mit Gerb positionieren. Auf jeden Fall werde man niemanden | |
unterstützen, der eine Politik der Kolonialisierung und des Ausverkaufs | |
Bulgariens betreibe, sagte er. | |
Der Politologe Ognian Mintschew sieht Bulgarien in einer tiefen Krise, | |
nicht nur moralisch, sondern jetzt auch institutionell. „Es besteht jetzt | |
die Gefahr, dass das Parlament auf lange Zeit blockiert sein wird“sagte er. | |
Was diejenigen davon halten, die am Sonntag in Sofia ihrem Unmut lautstark | |
Ausdruck verliehen, ist eindeutig: sie kündigten weitere Proteste an. | |
13 May 2013 | |
## AUTOREN | |
Barbara Oertel | |
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