| # taz.de -- Musiker über Kleistvertonung: „Wir haben Holz gehackt“ | |
| > Musiker Lars Rudolph über Stoßgebete, psychedelische Erfahrungen mit | |
| > Kleists Novelle „Die heilige Cäcilie“ und das Stigma des Rhythmus. | |
| Bild: „Man sieht Wunder und nimmt an ihnen teil“, sagt Lars Rudolph über P… | |
| taz: Mitte der Achtziger haben Sie in New York gelebt, um Musik mit dem | |
| Jazzsaxofonisten John Zorn zu machen. Was haben Sie von ihm gelernt? | |
| [1][Lars Rudolph:] Das war so ein Überlebenswille. Alle meine Freunde waren | |
| als Fahrradboten unterwegs und sind zehn Stunden am Tag durch New York | |
| gefahren, um nachts Musik zu machen. Von Zorn konnte man das Improvisieren | |
| mit Sounds lernen: Der hatte damals eine Geräuschphase, in der er mit Jagd- | |
| und Vogelpfeifen improvisierte und schnell zwischen diversen Stilen | |
| wechselte: Noise, Rock, Soundtracks, jüdische Musik, Jazz, meist zitathaft | |
| und mit den Brüchen spielend. | |
| Sind Sie in einem musikalischen Elternhaus groß geworden? | |
| Mein Vater war bei der Marine und wir hatten eine Trompete, die spielte ich | |
| und dann ging ich zum Blasorchester, da war ich 13 Jahre alt. Dann gab es | |
| „[2][Bitches Brew]“ von Miles Davis, mein Bruder hat das Album | |
| angeschleppt. Da wusste ich, das will ich auch machen, und habe versucht, | |
| diese Soli zu kopieren. Ich war eher der Freejazz-Typ. Deswegen bin ich zu | |
| John Zorn. | |
| Damals war nicht nur Metal-Jazz en vogue, es gab ja auch Noise-Rock, das | |
| hört man auch in Ihrer Band Mariahilff. | |
| Es gibt diese Einflüsse absolut, aber ich würde eher Psychedelik dazu | |
| sagen. Unsere Bandstruktur ist eine ganz andere, wir brauchen Zeit. Ich | |
| will eine Band mit rein akustischen Instrumenten. Ich will sehen, wie sich | |
| die Musiker verausgaben. | |
| Ihr Bandname [3][Mariahilff] ist nicht gerade rocktypisch. | |
| Der gefällt Ihnen gar nicht, oder? | |
| Ich bin hier nicht zum reinen Vergnügen. | |
| Wir sind benannt nach einem Krankenhaus namens Mariahillf. So heißt auch | |
| das letzte Stoßgebet. Wenn man an so einen Scheißpunkt im Leben angekommen | |
| ist und alle Kräfte mobilisieren muss, ist das selbst wie eine Kraft, die | |
| dadurch entsteht, irgendwas zu ändern. | |
| Sind Sie religiös? | |
| Nicht religiös verhaftet. Aber ich habe religiöse Erfahrungen gemacht, die | |
| ähnlich waren wie meine psychedelischen Erfahrungen. | |
| Nun haben Sie [4][eine Novelle von Heinrich von Kleist] vertont. Ist Kleist | |
| eher Pop oder Rock? | |
| Rock. | |
| Das Thema der Novelle basiert auf einer Grenzerfahrung. | |
| Es geht um den Übergang von der Religion auf das weltliche Leben. Es geht | |
| um Wahn. Es geht darum, was bewegt Menschen. Durch die Kraft der Musik wird | |
| eine Revolution niedergeschlagen. Durch eine Anrührung, durch etwas | |
| Höheres. Im 16. Jahrhundert hatte Musik ganz andere Kraft auf Leute, da gab | |
| es keine Massenmedien. Da wurde zu Hause Musik gemacht oder in der Kirche. | |
| Was war der Kitzel, die Geschichte einer Märtyrerin aus dem 16. Jahrhundert | |
| zu vertonen? | |
| Ich begreife bis heute nicht, was in einem Frauenkörper abgeht, etwa | |
| während der Regel, wie die Stimmungsschwankungen zu erklären sind, welche | |
| Kräfte Frauen entwickeln können. Analog die Geschichte von Schwester | |
| Antonia, die im Koma liegt und gar nicht da sein kann. Dann kommt sie doch | |
| und dirigiert einen Umsturz. Und bewirkt, dass vier Brüder irre werden und | |
| in Stupor fallen und ein Gebet gen Himmel stammeln. | |
| Bedeutet Musik spielen nicht etwas anderes als Rollen spielen? | |
| Weiß ich gar nicht, ob es wirklich so anders ist. Es geht immer über eine | |
| Grenzüberschreitung. Man muss irgendwas ausdrücken, was einem wichtig ist. | |
| Und da besteht eine Ähnlichkeit zwischen gutem Schauspiel und guter Musik. | |
| Peinlich wird’s, wenn man versucht, Jacques Brel zu sein. | |
| Popmusik hat mit kinetischer Energie zu tun, mit Bewegung. Ihre Musik kommt | |
| mir wie das Gegenteil vor. | |
| Es geht auch um etwas anderes als im Pop. Stilistisch ist es in einer | |
| Zwischenwelt angesiedelt: weder Hörspiel noch reine Musik. Mariahilff hat | |
| als Mandolinenorchester begonnen, mit drei Mandolinen, und einem Bass, ohne | |
| Schlagzeug. | |
| Warum nicht? | |
| Wir hatten keinen Bock auf das ewige Stigma der Zeiten. Das ist die | |
| Versklavung des Beats. | |
| Ganz zu Anfang auf Ihrem Album hört man Ihre Band beim Holzhacken, das | |
| trägt ja schon Züge von Rhythmus. | |
| Wir haben Holz gehackt, bis wir in einen Zustand kurz vor der Ohnmacht | |
| geraten sind. Dann erst fängt Musikmachen an, wenn wir schon total fertig | |
| sind. | |
| Was bedeutet Psychedelik? | |
| Waren Sie schon mal aus Ihrem Körper? | |
| Durchaus. | |
| Psychedelik ist eine religiöse Naherfahrung. Surreale Wahrnehmungen, | |
| Drogenerfahrungen. Es ist eine sehr religiöse Erfahrung. Man sieht Wunder | |
| und nimmt an ihnen teil. | |
| Sprechen Sie gerade von etwas Spirituellem? | |
| Nein. Vor den Proben haben wir „Gloria in excelsis Deo“-Versionen gehört, | |
| etwa von Patti Smith und Johann Sebastian Bach, und haben das Material | |
| entzweigerissen, nicht auf das Lateinische geachtet und uns collagemäßig | |
| einzelne Passagen rausgesucht. | |
| Was haben Sie sich vorgestellt, als Sie über die heilige Cäcilie Moritate | |
| gesungen haben? | |
| Eine Ankündigung. Das Bild war ein Marktschreier, der im Hof steht und | |
| davon erzählt. | |
| Hat das etwas von einer Predigt von der Kanzel? | |
| Das ist natürlich ähnlich. Je nachdem, wie man das deklamiert. | |
| Kleists Text hat mit dem Kampf gegen den Katholizismus zu tun. Was wäre da | |
| dran aktuell? | |
| Ich habe großen Respekt vor Religionen. Damit, wie es aufgeführt wird, habe | |
| ich aber nichts zu tun. Wenn ich in Kirchen gehe, beschleicht mich ein | |
| Gefühl der Rührung. Das war in Istanbul nicht anders, in einer Moschee. Da | |
| entsteht etwas anderes als Realität. Was früher die Kirche geleistet hat, | |
| machen heute Psychologen. Diese Form der Beichte, des Aussprechens finde | |
| ich existenziell wichtig. | |
| Mögen Sie den Showbusiness-Effekt von Religion? | |
| Ich glaube, dass Moral etwas in der Kunst zu suchen hat. Wo denn sonst? | |
| Etwa wenn sich jemand hinstellt und sagt, wir leben nicht in einer idealen | |
| Welt. Oder wenn jemand sagt, hey, es gibt noch andere Werte und es lohnt | |
| sich, für sie zu kämpfen. Ähm, wie war noch gleich die Frage? | |
| Religion als Showbiz. | |
| Gute Predigten sind Gold wert. Wenn es gute Pastoren gäbe – es mag sie ja | |
| vielleicht sogar geben –, ist das wie Pop. Wie Iggy Pop, wenn er sich | |
| malträtiert. | |
| 19 Apr 2013 | |
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| [2] http://de.wikipedia.org/wiki/Bitches_Brew | |
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| ## AUTOREN | |
| Julian Weber | |
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