# taz.de -- Kleist-Jahr: Sich verlaufen, um anzukommen | |
> Ein Festival für Heinrich von Kleist: Das Berliner Maxim Gorki Theater | |
> hat vom 4. bis zum 21. November Leben, Werk und Rezeption des Dichters | |
> ausgeleuchtet. | |
Bild: Kleists Debüt als Dramatiker: Szene aus "Die Familie Schroffenstein". | |
Da gibt es die Kleisttasse und die Kleistschneekugel. Sie liegen auf der | |
Theke im kleinen Souvenirgeschäft am S-Bahnhof in Berlin-Wannsee, in dem | |
man jetzt noch bis 2016 auch "Das akustische Kleist Denkmal" ausleihen | |
kann. Nicht weit von dort ist das Doppelgrab von Henriette Vogel und | |
Heinrich von Kleist. | |
Der Weg wurde aus Anlass des 200. Todestages umgestaltet. Er verläuft jetzt | |
durch etwas mehr Park und weniger Straße als zuvor, ist mit zwei Texttafeln | |
aber angenehm unspektakulär geblieben. Viele Spaziergänger waren dort am | |
Wochenende unterwegs, liefen entlang der kleinen Wege, lasen die Tafeln, | |
schauten auf den Grabstein und noch ein bisschen auf den Kleinen Wannsee. | |
## Fingierte Führung | |
Und einige eben hörten sich dabei Paul Plampers Hörspiel "Das akustische | |
Kleist Denkmal" an. Das Hörspiel fingiert eine Führung. Natürlich wird aus | |
den Abschiedsbriefen des Paares gelesen, das sich vor 200 Jahren am Wannsee | |
erschoss, und aus den Autopsieberichten. | |
Dazwischen aber diskutieren die Teilnehmer über Heinrich von Kleist: Da | |
gibt es die junge Frau, deren Sehnsucht nach Identifikation mit dem Dichter | |
und seiner Sprache so groß ist, dass sie es eigentlich gar nicht erträgt, | |
wie die anderen ihn zu analysieren versuchen. Ein Schauspieler inszeniert | |
spontan kurze Lesungen, die Momente aus den Dramen Kleists mit jenen | |
Empfindungen synchronisieren, die die Beschäftigung mit seinem Leben in den | |
Teilnehmern an der Führung ausgelöst hat. | |
"Das akustische Kleist Denkmal" kam im Rahmen des Kleistfestivals am Maxim | |
Gorki Theater in Berlin heraus, das die Synchronisation der eigenen | |
Erfahrungen mit den Texten von Kleist auf vielen, teils sehr verschlungenen | |
Wegen suchte. Ja oftmals schien das Sichverirren die geplante Strategie zu | |
sein, so in der Busexkursion "Ausflug nach Kohlhasenbrück" von Jan Peters, | |
die gar nicht in dem Berliner Vorort Kohlhasenbrück ankam. | |
Derweil erzählen die Performer im Bus von Michael Kohlhaas, dem Kleisttext | |
und seinen Quellen, und ihrem Projekt einer Verfilmung. Dabei erfinden sie | |
immer wieder neue Einstiegsszenen für den Film und nehmen damit vor allem | |
das Konstruieren von Geschichten in den Blick. Der Stoff wird umkreist, | |
geografisch, drehbuchtechnisch, und die Angst, in erzähltechnische Floskeln | |
zu verfallen, groß ausgestellt. | |
## Mit mehr als einem Löffel ausgeteilt | |
Das gilt auch für She She Pop und ihre Seance über die "Marquise von O.". | |
Lisa Lucassen und Sebastian Bark arbeiten sich an all den Ohnmachten, all | |
den Absenzen des Bewusstseins ab, die den Novellentext auszeichnen, indem | |
sie sich gegenseitig immer wieder in Trance versetzen und dann aus dem | |
Stück lesen lassen. | |
Das hat natürlich auch etwas Albernes, was sich gegen den Text stemmt, | |
gegen das Erschrecken und die Ergriffenheit, die er den Lesern abverlangt. | |
Erst später, nach der Performance, stellt sich allmählich ihr reflexives | |
Potenzial heraus. Mit Langzeitwirkung arbeitet sich die Novelle durch das | |
sie umstellende Geplänkel. Ein Effekt, dem natürlich zugutekommt, dass | |
Kleist auf diesem Festival (vom 4. bis 21. November) mit mehr als einem | |
Löffel ausgeteilt wurde. | |
Die letzte Dramenpremiere galt dem Trauerspiel "Die Familie | |
Schroffenstein", inszeniert von dem jungen Regisseur Antú Romero Nunes. | |
Nunes entdeckt in dem Stück, dem Erstlingswerk von Kleist, viele Parallelen | |
zur Lebensgeschichte des Dichters, das hat einen etwas zu schicksalhaften | |
Beigeschmack. Doch davon abgesehen gelingt ihm vieles: einen | |
sprachphilosophischen Akzent zu setzen in der Geschichte zweier | |
verfeindeter Familien, die von Verdächtigungen, Verleumdungen, Intrigen und | |
Auftragsmorden nur so wimmelt. | |
Wie Feindschaft aus Projektionen entsteht, diese Erkenntnis holt die Gegner | |
Rupert und Sylvester, die beide von Ronald Kukulies gespielt werden, immer | |
wieder ein, und doch können sie nicht anders, als weiter an diesem Geflecht | |
zu stricken. Dass Nunes beide Familien von denselben Schauspielern | |
darstellen lässt, ist symbolisch einleuchtend, auch wenn man sich dadurch | |
gelegentlich in den Fäden der Handlung verheddert. | |
## Berauschend einfach | |
Nur Paul Schröder und Julischka Eichel haben als Ottokar, Ruperts Sohn, und | |
Agnes, Sylvesters Tochter, die eine heimliche Liebe in einer Höhle im | |
Gebirge wagen, keine Doppelrollen. Die Versöhnung, die sie proben, der | |
Ausstieg aus den Texten der Familienlegenden, endet tödlich. Wie Nunes sie | |
aber zuvor über die Schatten ihrer Familien springen lässt, gehört zu den | |
wenigen Momenten (in dieser Inszenierung und auf diesem zweieinhalbwöchigen | |
Festival), die ohne doppelten Boden funktionieren, berauschend einfach und | |
ungekünstelt scheinen. | |
21 Nov 2011 | |
## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
## TAGS | |
Heinrich von Kleist | |
Thalia-Theater | |
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