# taz.de -- Michael Kohlhaas verfilmt: Jump-Cuts mit der Axt | |
> Der Filmemacher Des Pallières erlebte einen Lektüreschock bei Heinrich | |
> von Kleists Novelle „Michael Kohlhaas“. In einem Film hat er ihn | |
> verarbeitet. | |
Bild: Der Gouverneur (Bruno Ganz) und der Pferdehändler Michael Kolhaas (Mads … | |
taz: Herr des Pallières, wie sind Sie auf Kleists Novelle „Michael | |
Kohlhaas“ gestoßen? | |
Arnaud des Pallières: Als ich Film studierte, erzählte mir ein Freund von | |
dem Text. Er wusste, dass ich eine Leidenschaft für Kafka hegte, und er | |
sagte mir: „Du weißt doch, dass es dieses Buch von Kleist war, das Kafka | |
dazu antrieb, Romane zu schreiben.“ Ich hab es also gelesen, und offen | |
gestanden, es war einer der größten Schocks in meinem Dasein als Leser. | |
Warum? | |
Ich lese viel, ich bin ein gefräßiger Leser, aber etwas so Rasendes hatte | |
ich noch nie gelesen. Ich spürte, dass etwas Mächtiges in dieser Novelle | |
steckte. Zugleich war ich eingeschüchtert vom Beispiel jener Regisseure, | |
denen es gelungen war, im Genre des Historienfilms etwa Individuelles zu | |
erzeugen, ich denke etwa an „Aguirre“ von Werner Herzog oder an „Die sieb… | |
Samurai“ von Kurosawa. Damals glaubte ich, noch nicht reif zu sein, habe | |
die Geschichte aber in meinem Herz und meinem Gedächtnis behalten. | |
Einzelheiten habe ich vergessen, aber ein, zwei starke Bilder sind mir | |
geblieben. Und vor fünf Jahren ist in meinem Privatleben etwas geschehen, | |
was ich als Ungerechtigkeit wahrgenommen habe. Etwas musste ich mit diesem | |
Gefühl anfangen, das mich vergiftete. Also habe ich „Michael Kohlhaas“ | |
wieder gelesen und begonnen, das Drehbuch zu schreiben. | |
Was waren das für Bilder, die Ihnen blieben? | |
Am wichtigsten ist der Augenblick, wenn Kohlhaas auf dem Höhepunkt seiner | |
militärischen Macht ist und im Begriff steht, eine Schlacht zu entfesseln, | |
aus der er vermutlich siegreich hervorgehen wird. Da erhält er die | |
Nachricht, dass seine Klage wieder angehört wird, und trifft die für die | |
Leser wie für seine Männer überraschende Entscheidung, seine Armee | |
aufzulösen, nach Hause zu gehen und den Gang der Klage abzuwarten. Eine | |
außerordentliche Geschichte: Da ist einer kurz davor, die Macht in den | |
Händen zu halten, und gibt sie auf, aus Rechtschaffenheit. Dadurch wird | |
Kohlhaas zur legendären Figur. | |
Die Novelle ist im 16. Jahrhundert angesiedelt. Kleist hat sie zu Beginn | |
des 19. Jahrhunderts geschrieben, Deutschland war damals keine Nation, | |
sondern setzte sich aus Kleinstaaten zusammen. Ihr Film ist im 21. | |
Jahrhundert entstanden. Wie gehen Sie mit den drei Zeitebenen um? | |
Ich vereinfache. Und das bedeutet in diesem Fall: Es gibt nur eine | |
Zeitebene, die Gegenwart des 16. Jahrhunderts. Die Arbeit der Mise en scène | |
besteht darin, die Epoche so zur Anschauung zu bringen, dass sie der | |
Zuschauer als gegenwärtig wahrnimmt, obwohl sie nicht die unsere ist. Die | |
Epoche als solche soll so alltäglich und unaufdringlich sein, wie es geht. | |
Das heißt: Man darf nicht betonen, dass es sich um die Vergangenheit | |
handelt, man muss sich zurückhalten, wenn es um Kostüme und Requisiten | |
geht. Und wo immer das möglich war, habe ich in der freien Natur gedreht. | |
In „Michael Kohlhaas“ ist Kleists Sprache zerhackt, sie hat aber zugleich | |
einen mächtigen Vorwärtsdrang. Haben Sie versucht, dem Tribut zu zollen, | |
etwa in der Montage oder in der Wahl von Bildausschnitten? | |
Ursprünglich sollte Hanns Zischler den Gouverneur spielen. Wir hatten schon | |
bei meinem ersten Langfilm zusammengearbeitet, und ich schätzte seine | |
intellektuellen Fähigkeiten. Ich fragte ihn: „Magst du etwas zum Drehbuch | |
sagen, schließlich kennst du den Text?“ Ich bin ja alles andere als ein | |
Experte, ich lese nicht auf Deutsch, eigentlich kenne ich Kleists Sprache | |
nicht. Und Hanns mochte das Drehbuch, aber er fand es ein bisschen zu | |
flüssig. Bei Kleist gibt es Brüche, Gewalt, Raserei. Und er sagte mir zum | |
Beispiel: „Der Besuch der Prinzessin … Sie kommt an, das geht sehr schnell, | |
zack, sie bricht wieder auf.“ | |
Was ist denn mit Hanns Zischler passiert? Den Gouverneur spielt jetzt Bruno | |
Ganz. | |
Hanns hatte Probleme mit dem Rücken und durfte nicht reiten, so dass er die | |
Rolle nicht spielen konnte und wir Bruno Ganz gefragt haben. Aber während | |
des Drehs habe ich mich noch oft an das Gespräch mit ihm erinnert. Und als | |
es um die Montage ging, wollte ich sie elektrisch aufladen. Ich liebe mit | |
der Axt geschlagene Ellipsen, Jump-Cuts, Kontraste aus sehr nahen und sehr | |
weiten Einstellungen, aus kurzen und lang dauernden Einstellungen. Und ich | |
tat es guten Gewissens, da ich mich durch das, was Hanns mir gesagt hatte, | |
berechtigt fühlte. | |
Auch was Licht und Schatten angeht, sind die Kontraste stark. In der | |
Schlachtfeldszene zum Beispiel, einer Panoramatotalen, sieht man die | |
Schatten der Wolken auf den Reitern. War das geplant? | |
Wir wollten offen sein für alle möglichen meteorologischen Vorkommnisse, | |
für gleißende Sonne, heftigen Wind, Nebel. Denn wir dachten uns, dass sie | |
wichtige Akteure im Film sein würden. Selbstverständlich lassen sich die | |
Elemente nicht kontrollieren. Und an dem Tag, an dem wir die Schlacht | |
gedreht haben, war allen sehr kalt, alle litten, der Wind tat uns weh, so | |
eisig war er. Wir konnten nur zwei Takes drehen, danach kam der | |
Pferdetrainer zu mir und sagte: „Arnaud, hör auf, ein Pferd ist kurz davor | |
zu sterben, so sehr hat es sich verkühlt, ich muss mich darum kümmern.“ Das | |
war eine Katastrophe. Aber auf den zwei Takes, die wir hatten, gab es | |
diesen Effekt, dieses Wunder, den Schatten der Wolken, wie eine | |
Sonnenfinsternis, die über den Reitern die Nacht hereinbrechen ließ. | |
Was sind das für Pferde? Sie sind prächtig. | |
Sie gehören alle einem Pferdetrainer, Frédéric Sanabra, er macht Shows mit | |
Pferden und kümmert sich um alles, was mit Pferdestunts zu tun hat. Er hat | |
eine Leidenschaft für eine bestimmte Rasse, spanische Pferde, das sind die, | |
die man auf Velazquez’ Gemälden sieht. Sie sind ungemein fotogen, und sie | |
wecken eine ganze Vorstellungswelt. Wir haben eine Art Pferde-Casting | |
gemacht: Welches Pferd passt zu welcher Figur? Denn die vollständige Figur, | |
die setzte sich ja aus Mann und Pferd zusammen. Zum Beispiel das Pferd von | |
Mads Mikkelsen: Es war das schönste, das Pferd des Prinzen. Aber es war | |
auch sehr schwer zu reiten. | |
Weil es so nervös war? | |
Das sind alles Hengste. Die haben einen schrecklichen Charakter. Die lehnen | |
sich die ganze Zeit auf, verströmen Nervosität und eine außergewöhnliche | |
Animalität. Die Schauspieler waren manchmal etwas unruhig, die Pferde waren | |
keine Sessel, keine Kühe, sondern ein bisschen wie wilde Tiere. Die | |
Schauspieler mussten also mutig sein. Und sie mussten bereit sein, | |
körperlich zu arbeiten, was wiederum der beste Zugang zum Film war, sehr | |
konkret, materiell: „Kümmert euch um die Pferde, lernt, sie zu satteln und | |
aufzuzäumen, striegelt die Pferde!“ Und dann gibt es diese Sequenz, in der | |
Mads Mikkelsen ein Fohlen aus einer Stute holt, zum ersten Mal in seinem | |
Leben. | |
Das ist echt? | |
Ja. Da ist kein Trick möglich. Sie sehen die Placenta, das Fohlen, es ist | |
der Originalton, und Sie hören das Fruchtwasser, das aus der Stute | |
austritt. | |
Zwei Sätze im Film werden auf Deutsch gesprochen, einmal von Kohlhaas, | |
einmal von seinem Sohn. Warum dieser plötzliche Wechsel vom Französischen | |
ins Deutsche? | |
Weil dieser Dialog von der Tochter nicht verstanden werden soll. Außerdem | |
brauchte es etwas, um den Akzent, den Mads Mikkelsen hat, wenn er | |
Französisch spricht, zu motivieren. Es ist ein Akzent aus dem Norden, aber | |
aus welchem Land? Ich habe mit Mads Mikkelsen und David Kross darüber | |
gesprochen, wie man diesen Dialog führen könnte. Auf Dänisch? Deutsch? Dann | |
hat mich die deutsche Koproduzentin darum gebeten, es auf Deutsch zu | |
machen. Und so ist es denn auch eine Art Hommage an den Ursprung der | |
Geschichte. | |
1 Jan 1970 | |
## AUTOREN | |
Cristina Nord | |
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