Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Kampfradler in Berlin: Regelverstöße, die Leben retten
> Diese Kampfradler fahren ständig über Rot. Unser Autor weiß: Sie tun es
> für ihre Sicherheit. Und weil Fahrräder eigentlich gar keine Ampeln
> brauchen.
Bild: Geheimnisvolles Wesen Kampfradler: Gibt es sie? Wer gehört dazu? Nur wen…
BERLIN taz | Das Mahnmal für den deutschen Kampfradler ist 1,45 Meter hoch
und misst 13 Zentimeter im Durchmesser. Silbergraues, rundes Metall. Oben
ein orangegelber Kasten. „Bitte berühren“ steht da unter einem
Fahrradsymbol. Tut man das, leuchtet es rot: „Signal kommt“.
Seit die Kreuzung von Acker- und Torstraße in Mitte vor gut einem Jahr
umgebaut wurde, steht dieser Metallpin gut zwei Meter vor der Ampel. Auf
den ersten Blick könnte man meinen: Wow! Da hat sich ja mal jemand was
gedacht! Ein Extraservice für Radler! In Wirklichkeit werden Radfahrer hier
diskriminiert und für dumm verkauft.
Erstens: Warum eigentlich sollen Radfahrer nur auf Antrag Grün bekommen,
während Autofahrer automatisch bedient werden? Halb so schlimm, könnte man
einwenden: Denn zweitens schaltet die Ampel immer nach 51 Sekunden um – ob
jemand den Knopf gedrückt hat oder nicht. Das ist – man verzeihe die
drastische Sprache – eine Verarschung. Zum Glück kommt man drittens als
Radler gar nicht in Versuchung, den Knopfdruck zu vollziehen: Der Pin steht
auf dem Bürgersteig. Hinter einem meist zugestellten Parkstreifen.
So wie bei der „Bedarfslichtzeichenanlage“ an der Ackerstraße hat man
häufig nur auf den ersten Blick den Eindruck, in Berlin habe sich viel
getan. Ja, Radspuren sieht man immer öfter. Aber erstens ist das Radwegnetz
immer noch Lichtjahre davon entfernt, diese Bezeichnung – „Netz“ – zu
verdienen, es sei denn, man spielte auf die Löcher an. Und zweitens
entstehen neue Spuren kaum dort, wo sie gebraucht werden, sondern dort, wo
sie den Autoverkehr nicht stören. Andernfalls enden sie gern nach wenigen
Metern wieder.
Bewundern lässt sich dieser Murks am Rosenthaler Platz, in den fünf Straßen
einmünden. In genau einer gibt es seit 2011 eine Radspur. Und selbst die
beginnt erst rund 100 Meter vor der Ampel und leitet ihre Nutzer hinter der
Kreuzung auf den Bürgersteig – mitten in die Menge Wartenden an der
Straßenbahnhaltestelle, die sich dann über die vermeintlichen Rüpelradler
erregen.
Fazit: Nicht der Kampfradler ist wahnsinnig, sondern das Verkehrssystem, in
dem er sich abstrampelt. Und deshalb muss er sich seinen Weg durch den
Straßendschungel täglich selbst suchen. Ja, erkämpfen. Wer in Berlin auf
dem Sattel sitzt, wird zum Kampfradler – oder er schiebt.
## ADFC ohne Courage
Doch ausgerechnet der ADFC, die Lobby aller Radler, leugnet seine Existenz.
„Ich kann keine Kampfradler erkennen“, sagte ADFC-Rechtsreferent Roland
Huhn vor einem Jahr. „Es gibt keine Kampfradler“, meinte Berlins
ADFC-Chefin Eva Maria Schell wenig später in der taz. Dabei könnte der ADFC
so etwas sein wie der legale Arm der Guerilla. Aber dafür fehlt die
Courage. Der Verein wird auch an diesem Sonntag wieder mit seiner
jährlichen Sternfahrt glänzen. Ein großartiges Event, unbenommen. Doch
leider so politisch, so kämpferisch wie einst die olle Loveparade.
Zum Glück gibt es Peter Ramsauer (CSU). Seit Jahren warnt der
Bundesverkehrminister vor der „Verrohung der Kampfradler“. Im
Verkehrssicherheitsreport 2011 definierte er das Problem: „Unverkennbar
gibt es eine deutlich wahrnehmbare Gruppe von Radfahrern, die nicht der
Meinung sind, dass rote Ampeln, Vorfahrtregelungen und sogar
Geschwindigkeitsbegrenzungen in Ortschaften auch für sie gelten.“
Recht hat er, der Minister! Zumindest in der Berliner Innenstadt. Hier kann
man das an jeder beliebigen Kreuzung sehen. Wenn bei einer roten Ampel kein
Querverkehr kommt, bleiben wie viele Radfahrer gesetzestreu stehen?
Ziemlich exakt: null.
Ein Ärgernis kann das aber nur aus der Windschutzscheibensicht eines
Autofahrers sein, der einen abgaslosen Radler an sich vorbeizischen sieht,
während er selbst Teil eines Staus ist. Ja, der Automobilist muss sich am
Rotlicht orientieren. Für ihn wurde es ja erfunden.
Radfahrer bräuchten keine Ampeln. In einer utopischen Stadt ohne
motorisierten Verkehr würde „Rechts vor Links“ reichen. Denn Radler sind
wendig, stets im Fluss, wie Fische im Schwarm. Dynamisch und
selbstverantwortlich nutzen sie jede Gelegenheit für den Fortschritt und
schaffen so gleichzeitig Platz für den Hintermann. Ihr individueller Drang
nach vorn beschleunigt das gesamte System. Anders gesagt: Das Fahrrad ist
die FDP unter den Verkehrsmitteln. Nur dass die FDP das nicht weiß – die
sitzt im BMW.
## Kampfautofahrer
Theoretisch würde ein reines Rechts-Vor-Links auch mit Autos funktionieren.
Praktisch muss man nur beobachten, wie sich Pkw-Fahrer an solchen
Kreuzungen verhalten. Entweder brausen sie einfach los, quasi als
Kampfautofahrer. Oder sie tasten sich vor, überlegen, wo noch mal rechts
und wo links ist, rechnen nach, wer genau Vorfahrt haben könnte, sind
hilflos, wenn plötzlich von allen Seiten Autos kommen, bleiben stehen, aus
Angst um ihr lackiertes Gefährt.
Autos sind einfach zu groß für Stadtstraßen. Ohne Ampeln würden sich die
Motorisierten unentwirrbar verkeilen. Radlern aber stiehlt jedes Rotlicht
den Schwung. Warum also sollten sie die Ampeln beachten? Zumal das selbst
Gutwilligen fast unmöglich gemacht wird. In der Straßenverkehrsordnung
heißt es: „Wer ein Rad fährt, hat die Lichtzeichen für den Fahrverkehr zu
beachten. Davon abweichend sind auf Radverkehrsführungen die besonderen
Lichtzeichen für den Radverkehr zu beachten.
An Lichtzeichenanlagen mit Radverkehrsführungen ohne besondere Lichtzeichen
für Rad Fahrende müssen Rad Fahrende bis zum 31. Dezember 2016 weiterhin
die Lichtzeichen für zu Fuß Gehende beachten, soweit eine Radfahrerfurt an
eine Fußgängerfurt grenzt.“ Erkenntnis 1: Radfahrer sind ein queeres
Zwischending, für das die Autogesellschaft keinen klaren Begriff hat.
Erkenntnis 2: Wer als Radler gesetzestreu Ampeln passieren will, muss erst
seinen Anwalt konsultieren. Und wer das etwas übertrieben findet, fährt
eben einfach los.
Denn noch etwas spricht eindringlich für das bewusste Queren bei Rot: die
Unfallstatistik der Polizei. 7.342 Unfälle mit Radfahrerbeteiligung gab es
2012 in Berlin. Jeden fünften davon verursachten Kraftfahrer durch Fehler
beim Abbiegen. Es ist mit Abstand der häufigste Unfallgrund. Und der
gefährlichste: Fünf der 15 im letzten Jahr tödlich verunglückten Radler
wurden von abbiegenden Autos überfahren. Laut ADFC waren die Opfer meist
ältere, besonnenere Radler. Also solche, die auf Grün warten und vertrauen
– und dann in die Falle gehen. Weil ein abbiegender Lkw-Fahrer, der
ebenfalls Grün hat, sie einfach übersieht und überrollt.
Wer bei Rot fährt, fährt vorsichtig. Rechnet mit feindlichem Verkehr. Sieht
sich um. Und kann sicher sein, dass kein Laster von hinten kommt. Klingt
zynisch? Ja. Aber was sind die fünf häufigsten Gründe für von Radlern
verursachte Unfälle? 1. Benutzen der falschen Fahrbahn. 2. Fehler beim
Einfahren in den Verkehr. 3. Nicht angepasste Geschwindigkeit. 4.
Alkoholeinfluss. 5. Falsches Verhalten gegenüber Fußgängern. Die Kategorie
„Nichtbeachten der Verkehrsregelung“, unter die Fahren bei Rot fallen
würde, taucht hier gar nicht auf.
Aber der gezielte Regelverstoß kann nicht nur Leben retten. Er ändert
langfristig das System – weil die Politik irgendwann einsehen muss, dass
ihr verstaubtes Regularium nichts mehr mit der Realität auf der Straße zu
tun hat.
Dass es ein Problem gibt, hat der Bundesverkehrsminister schon erkannt –
und zum 1. April erstmal die Bußgelder für Radfahrer erhöht. Nötig sei ein
Dreiklang aus Kontrollen, Sanktionen und Verkehrserziehung, polterte
Ramsauer. Dazu passt, dass die Berliner Polizei gerade eine Fahrradstaffel
gegründet hat, um Rüpelradler zu jagen.
## Mindestens zweispurig
Wenn ein Regime in Bedrängnis kommt, reagiert es mit Repression. Doch
Systeme, die Proteste nicht integrieren können, werden über kurz oder lang
von Revolutionen hinweggefegt, so der Essayist und Professor für
Risikoanalyse Nassim Nicolas Taleb in seinem neuem Buch „Antifragilität“.
Stabil bleibt nur, wer sich unter Stress anpasst. Kampfradler kennen das
von ihren täglichen Fahrten.
Auch der autonormative Staat gibt schon hier und da nach, damit er nicht
zerbricht. Vor ein paar Jahren wurde die Regel gekippt, dass
Einbahnstraßenschilder grundsätzlich auch von Radlern beachtet werden
müssen. Es hatte sich eh niemand mehr daran gehalten. Und in Frankreich
wurde vergangenes Jahr der Grüne Pfeil eingeführt, der es ausschließlich
Radfahrern erlaubt, bei Rot rechts abzubiegen.
Um Kampfradler-Bedürfnissen gerecht zu werden, müsste das System aber
radikal umgebaut werden. Zweispurige Radwege, die das Überholen von
Sonntagsradlern erlauben, wären das mindeste. Besser: statt Radspuren auf
Straßen, Autospuren auf Fahrradstraßen! Sprich, die komplette Umkehr der
Prioritäten.
Klingt utopisch – aber nur in deutschen Ohren. In Dänemark etwa ist das
Realität. In Kopenhagen gibt es nicht nur Hauptstraßen, deren Radwege
breiter sind als die Autospuren. Dort sieht man vor den Ampeln nicht nur
Geländer, an die wartende Radler sich lehnen können. Dort bleibt selbst ein
Kampfradler geduldig bei Rot stehen. Weil er vom System ernst genommen
wird.
30 May 2013
## AUTOREN
Gereon Asmuth
## TAGS
Kampfradler
Fahrrad
Volksentscheid Fahrrad
Fahrrad
Hildesheim
Fahrrad
Radwege
Akku
Peter Ramsauer
Fahrrad
Fahrrad
Medikamente
Bundesrat
Radwege
Kampfradler
Fahrrad
## ARTIKEL ZUM THEMA
Lkw überrollt Radfahrerin: Unterm Rad
Vor drei Jahren verändert ein Unfall Steffi Langs Leben. Sie kämpft noch
heute mit den Folgen – und sie hat radikale Forderungen an die Politik.
Bike-Highway an der S1: Freie Fahrt für freie Radler
Mit Pedalkraft ungehindert Strecke machen, mitten in Berlin? Diese Vision
könnte entlang der S1 bald Realität werden. Selbst die CDU fährt frohgemut
voran.
Interaktive Ampeln in Hildesheim: Das „Pong“-Spiel für zwischendurch
An der Ampel zu stehen, macht Spaß. Zumindest wenn man in Hildesheim
wartet. Dort können Passanten während der Rotphase „Pong“ spielen.
Fahrradbewegung in Deutschland: „Wir sind der Verkehr“
Bei Critical Mass treffen sich Radler zur gemeinsamen Tour durch die Stadt.
Das Pulkfahren wird in Deutschland zur Massenbewegung.
Kommentar Verkehrspolitik Berlin: Baut Autobahnen! Für Radler!
Berlin ist eine einzige Problemzone für Fahrradfahrer. Lösung bringen nur
radikale Ansätze, Radschnellwege zum Beispiel.
Autofixierte Verkehrspolitik: Kampfradler vor Gericht
Weil er über eine rote Ampel gefahren sein soll, sollte Bernhard
Stoevesandt 100 Euro Bußgeld zahlen. Doch der wehrte sich erfolgreich.
Parkplätze zu Spielplätzen: Surfen statt Parken
Wenn Autos keinen Platz mehr brauchen: Verkehrsaktivisten besetzen
Parkplätze in Prenzlauer Berg – und funktionieren sie zu Stadtstränden und
Spielplätzen um.
Kolumne Der Kampfradler: Das ist die Erleuchtung!
Entgegen ursprünglichen Plänen sollen künftig nun doch alle Fahrradlampen
legalisiert werden. Weil ein Hamburger Politiker die „taz“ liest.
Kolumne Der Kampfradler: Möge Ihnen ein Licht aufgehen!
Der Verkehrsminister will endlich Akku-Lampen an Rädern legalisieren. Das
ist toll? Eigentlich ja. Doch ein Detail offenbart den Gesetzestext als
weltfremden Irrsinn.
Akkulichter fürs Rad sollen legal werden: Das Ende der Dynamopflicht
Aufsteckbare Akku-Lampen waren bisher in Deutschland für Fahrräder nicht
zugelassen. Dieser Anachronismus soll nach Wunsch von Verkehrsminister
Ramsauer ein Ende haben.
Urteil zu Fahrradfahrern: Helmlose tragen Mitschuld
Auch wenn es keine Helmpflicht gibt: Wer oben ohne unterwegs ist und bei
einem Unfall am Kopf verletzt wird, kann nicht mit vollem Schadensersatz
rechnen.
Arzneimittelkonsum hinter dem Steuer: High auf dem Way
Drei von vier Autofahrern ignorieren die Risiken von Medikamenten.
Apotheker kritisieren das „entspannte Verhältnis“ zu rezeptfreier Arznei.
Bundesrat stoppt Knöllchenreform: Rotes Licht für Ramsauer
In der Länderkammer lehnte die rot-grüne Mehrheit die Neuordnung des
Flensburger Punktekatalogs ab. Andere Regelungen ließ sie passieren.
Radplanung in Städten: „Da geht es hoch her“
Warum haben Radfahrer so wenig Platz in der Stadt? Weil das alles nicht so
einfach ist, sagt der Fahrradbeauftragte von Stuttgart.
Kampfradler in Städten: Weg da, ihr Arschlöcher!
Es ist Frühling – Zeit des Straßenkampfs. Radler brüllen Autofahrer an.
Fußgänger beschimpfen Radfahrer. Aber woher kommt diese Aggression?
Kolumne Geht's noch?: Achtung, Friedensradler unterwegs!
Manche Menschen wollen mit dem Rad einfach von A nach B. Andere wollen
träumen, quatschen – und drängeln.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.