# taz.de -- Fahrradbewegung in Deutschland: „Wir sind der Verkehr“ | |
> Bei Critical Mass treffen sich Radler zur gemeinsamen Tour durch die | |
> Stadt. Das Pulkfahren wird in Deutschland zur Massenbewegung. | |
Bild: Den Pariser Platz zurückerobern: Critical Mass in Berlin Ende März 2014 | |
BERLIN taz | Dies ist keine Demonstration. Demonstrationen beginnen nie | |
pünktlich. Jetzt ist es aber gerade mal fünf Minuten nach acht und schon | |
ist die Menge auf der Straße. Es sind 100, 200, 500, am Ende gut 1.000 | |
Radler, die sich über die dunkle Oranienstraße durch Berlin-Kreuzberg | |
drängeln. Plakate und Transparente fehlen. Demosprüche gibt es auch keine. | |
Hier und da hört man eine Fahrradklingel, ansonsten nur das Rauschen der | |
Ketten. | |
Die Menschen auf den Rädern demonstrieren nicht, zeigen nichts. Sie fordern | |
nichts. Sie machen einfach. Sie sind die Critical Mass, die kritische | |
Masse, die das System ins Wanken bringt, zumindest das Verkehrssystem, | |
zumindest für ein paar Stunden. Radfahrer übernehmen die Straße, Autos | |
müssen warten. | |
Die Idee ist nicht neu. In San Francisco sollen schon 1992 erste | |
Radlerpulks durch die City gekurvt sein. Immer nach dem Motto: „Wir | |
blockieren nicht den Verkehr, wir sind der Verkehr!“ Ende der 90er fand das | |
erste Nachahmer in Deutschland. In den Hochzeiten kamen zu den monatlichen | |
Treffs ein paar hundert Radler zusammen. Dann schlief die Bewegung wieder | |
ein. | |
Doch jetzt ist sie wieder da und steht kurz vor dem Durchbruch. Auch dank | |
des Internets. Auf Facebook, in Blogs oder per Twitter werden Treffpunkte | |
bekanntgegeben, meist für den letzten Freitag im Monat. Wer sucht, wird | |
schnell fündig. Die Gruppen werden von Mal zu Mal größer. In Greifswald | |
kamen Ende März rund 30, in Köln und Oldenburg jeweils gut 200, in Berlin | |
und Hamburg waren es schon über tausend, obwohl es Ende März noch ziemlich | |
kühl war. | |
Zumindest für Hamburg und Berlin dürfte gelten: Wer die Critical Mass als | |
Subkultur erleben will, muss sich heute aufs Rad schwingen. Beim nächsten | |
Mal, im lauen Mai, dürften so viele Mitradler kommen, dass es für die | |
Bewegung selbst kritisch wird. Noch ist es ein bunter Haufen von | |
Enthusiasten, die kreuz und quer durch die Städte fahren. Ohne Plan, ohne | |
Route, immer denen nach, die vorneweg fahren. Mit klassischen Rennrädern, | |
stylischen Fixies oder Kopfsteinpflaster abfedernden Breitreifen. Mit | |
elektrisch beleuchteten Speichen, mit lustigen Hasenkostümen oder mit laut | |
puchernden Musikboxen auf Lastenfahrrädern. | |
## Die Masse machts | |
Die meisten Teilnehmer dürften in ihren 20ern sein, auch ein paar | |
Grauhaarige sind zu sehen. Nur eins fehlt: ein Organisator. Ein Sprecher. | |
Oder gar ein Anmelder. Braucht es auch nicht, denn dies ist ja keine | |
Demonstration. Das sieht mittlerweile sogar die Polizei so. Im letzten | |
Herbst wurden in Berlin noch einige Teilnehmer vom Rad geholt. Mittlerweile | |
fährt die Polizei meist nur hinterher. Denn die Critical-Mass-Bewegung kann | |
sich auf die Straßenverkehrsordnung berufen. In Paragraf 27 heißt es: „Für | |
geschlossene Verbände gelten die für den gesamten Fahrverkehr einheitlich | |
bestehenden Verkehrsregeln und Anordnungen sinngemäß.“ Übersetzt heißt da… | |
Fährt der Erste einer Gruppe bei Grün in die Kreuzung ein, dürfen alle | |
anderen folgen, auch wenn die Ampel längst Rot zeigt. | |
Nur eine Mindestbedingung nennt das Gesetz: Erst wenn mehr als 15 | |
Radfahrende zusammen sind, gelten sie als geschlossener Verband. „Dann | |
dürfen sie zu zweit nebeneinander auf der Fahrbahn fahren.“ | |
Den letzten Satz nimmt die Menge in Berlin nicht so genau. Auf der Straße | |
des 17. Juni im Tiergarten stehen die Radler zu zehnt nebeneinander auf | |
allen drei Spuren. Aber sie warten vor einer roten Ampel an einer ansonsten | |
leeren Kreuzung. Als Einzelner wäre jeder [1][Kampfradler] in typisch | |
Berliner Manier längst gefahren. Die Masse diszipliniert. Zwei Polizeiwagen | |
haben sich an die Spitze gedrängelt, jetzt warten sie auf der anderen Seite | |
der Kreuzung. Als die Ampel auf Grün springt, ruft ein Radler laut: | |
„Rechts!“ Und schon biegen die Tausend in eine Seitenstraße ab, die Polizei | |
muss sich wieder hinten anschließen. | |
Die Critical Mass ist eine Erfahrung. Eine Erfahrung des Stadtraums, eine | |
Erfahrung von Stärke. Alltagsradler kennen das Gefühl. Das Recht auf | |
Vorfahrt kann man häufig nur durchsetzen, indem man in eine Kreuzung düst – | |
und darauf vertraut, dass der Autofahrer einen nicht über den Haufen fährt. | |
Die Critical Mass funktioniert nach dem selben Prinzip. Nur dass hier eben | |
nicht ein einzelner, verletzlicher Radler auf der Straße ist, sondern | |
Hunderte. Die Masse macht’s. | |
## Keine feste Route | |
Die Berliner Polizei spielt gekonnt mit. Auf einer großen Kreuzung steht | |
plötzlich ein Dutzend Taxis quer, dazwischen ein grün-weißer | |
Mannschaftswagen. Offensichtlich wollen sie verhindern, dass die Radler | |
hier abbiegen. Doch die Masse lässt sich kaum steuern. Sie hat keine feste | |
Route, sie ist flexibel wie ein Fischschwarm, sie biegt an der nächsten | |
Kreuzung ab, es geht weiter zurück zum Tiergarten. | |
Dort gibt es einen fast zwei Kilometer langen Tunnel – nur für Autos. Ein | |
reizvolles Ziel für viele, ein No-Go für viele andere, weil es ein | |
verpönter Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung ist. In einschlägigen | |
Internetforen wird heiß darüber diskutiert. | |
Der Blog „[2][Alle Macht den Rädern]“, in dem drei Berliner Studierende | |
sich für urbanes Radfahren einsetzen, hat kürzlich [3][zehn Punkte „für | |
eine gelungene Critical Mass“] veröffentlicht. „Lasst doch den Autos die | |
Tunnel“, heißt es dort. „Wir fahren draußen, in der Stadt.“ | |
Entscheidend aber ist auf der Straße. Die ersten vorn im Pulk fahren weg | |
von der Tunneleinfahrt, hundert Meter weiter drehen ein paar andere um – | |
die Mehrheit folgt. Andere bleiben zurück. Das ist das Problem der | |
kritischen Masse. Wird sie zu groß, droht die Spaltung. | |
Was aber, wenn im Sommer tatsächlich mal 10.000 kommen sollten? Wenn dann | |
die Masse der kritischen Radler im eigenen Stau zu ersticken droht? Dann, | |
sagt ein junger Mann, der mit seiner Helmkamera die ganze Fahrt | |
dokumentiert, dann könne man immer noch spontan zu unregelmäßigen Treffen | |
aufrufen, damit das subversive Gefühl zurückkommt. Oder, meint ein anderer, | |
man müsste zum Pulkfahren im Berufsverkehr aufrufen. Das würde tatsächlich | |
das Verkehrssystem verändern. | |
24 Apr 2014 | |
## LINKS | |
[1] /!117188/ | |
[2] http://www.alle-macht-den-raedern.de/ | |
[3] http://www.alle-macht-den-raedern.de/2014/03/wie-wir-uns-eine-gelungene-cri… | |
## AUTOREN | |
Gereon Asmuth | |
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