# taz.de -- Interview zur Sternfahrt in Berlin: „Radfahren ist ansteckend“ | |
> Berlin ist noch längst keine Fahrradstadt, sagt das Bloggerkollektiv | |
> „Alle Macht den Rädern“ – und fordert ein Umdenken der Politik. | |
Bild: Am Sonntag gehört Berlin wieder den Radlern | |
taz: Frau Heringer, Herr Runge, Herr Schön, Sie betreiben den Blog „Alle | |
Macht den Rädern“. In einem Beitrag formulieren Sie Verhaltensregeln für | |
die Critical Mass, das monatliche Kolonnenfahren durch die Stadt, das immer | |
populärer wird. Sie schreiben da etwa, man solle doch den Tiergartentunnel | |
den Autos überlassen. Warum? | |
Till Runge: Regeln sind das nicht, nur Anregungen. Wir sind ja nicht das | |
Sprachrohr der Critical Mass, sondern einfach Mitfahrende, die ihre Meinung | |
dazu sagen. Es gibt da ja verschiedene Kontroversen, die auf Facebook und | |
anderswo ausgetragen werden – wir haben eben die Möglichkeit, das über | |
unseren Blog zu tun. | |
Am Tunnel scheiden sich die Geister? | |
Runge: Ja. Wobei viele Befürworter der Tunnelfahrten denken, wir hätten ein | |
Problem mit dem Regelbruch. Aber uns geht es darum, dass wir die Stadt beim | |
Fahren erleben wollen. | |
Ulrike Heringer: Auch beim Tempo gibt es manchmal Konflikte. Es sind ja | |
schnelle Fixie-Fahrer genauso dabei wie Menschen mit alltagstauglichen | |
Rädern und einem Korb auf dem Gepäckträger. Da es keinen Veranstalter gibt, | |
der so etwas bestimmen könnte, führt das öfters zu Diskussionen. | |
Runge: Jetzt, wo die Sache so groß wird, dachten wir, es wäre gut, mal ein | |
paar Dinge aufzuschreiben, die auch für Neue nützlich sein können. Etwa, | |
was es mit dem Korken auf sich hat. | |
Mit dem was? | |
Heringer: Korken. Dabei stellen sich einige Mitfahrende an den Kreuzungen | |
quer vor die Autos, damit die nicht einfach in die Kolonne reinfahren. | |
Wie wichtig ist der Umweltaspekt für euch als Radblogger? | |
Runge: Ich würde es so sagen: Wenn man jemanden dazu bringen will, sich | |
anders zu bewegen, ist Klimaneutralität das falsche Argument. Fast keiner | |
fährt Fahrrad, nur weil es kein CO2 ausstößt. Wir finden es schade, dass | |
Leute, die das Radfahren promoten wollen, so häufig mit dem Klimaargument | |
kommen. | |
Kevin Schön: Uns geht es darum, Verkehrspolitik nicht nur als Umweltpolitik | |
zu begreifen, sondern sie als Stadtpolitik ernst zu nehmen. Es geht darum, | |
wie Verkehr den Stadtraum verändert. Lebensqualität wird nicht in | |
CO2-Werten gemessen. Wir glauben aber, dass das Auto nicht das optimale | |
Fortbewegungsmittel für einen urbanen Raum ist … | |
Runge: … aus Gründen des Platzverbrauchs, der Gefährdung, der damit | |
verbundenen Normierung des Stadtraums … | |
Heringer: … auch die Interaktion mit anderen wird durch das Autofahren | |
unterbunden. | |
Beschreiben Sie doch bitte mal Ihre ideale Stadt der Zukunft. | |
Runge: Natürlich hätte diese Stadt weniger Autos, wobei wir nicht der | |
Meinung sind, dass alle Leute immer mit dem Fahrrad fahren sollten. Aber | |
die Leute würden darüber ins Gespräch kommen, wie man Mobilität bei | |
möglichst geringer Verkehrsbelastung erzeugt, wie man Negativfolgen wie | |
Lärm oder schwere Unfälle reduziert. Die ideale Stadt wäre sehr urban. | |
„Urban“ – was heißt das für Sie? | |
Heringer: Dass die Menschen, die hier in einer bestimmten Dichte leben, die | |
unterschiedliche Herkunft, Alter, Interessen haben, miteinander | |
interagieren. | |
Schön: Die Stadt lebt für uns in der Spannung zwischen öffentlichem Raum | |
und privatem Rückzugsort. Eine Stadt, die vom Autoverkehr dominiert ist, | |
hat den öffentlichen Raum zu stark privatisiert. | |
Wie sähen denn die Wege in einer besseren Stadt konkret aus? | |
Heringer: Ich finde interessant, dass in der Stadtplanung auch Fragen eine | |
Rolle spielen wie die, wer die schönste Sicht auf die Stadt hat. Das ist | |
heute ganz oft der Autofahrer. Man fährt in der Mitte, weit genug weg von | |
den Fassaden, um sie betrachten zu können, man kommt in den Genuss der | |
städtebaulichen Sichtachsen. Das Recht auf eine ästhetische Wahrnehmung der | |
Stadt muss aber auch für Radfahrer und Fußgänger gelten. | |
Schön: Natürlich kann nicht jeder immer in der Mitte sein, und es muss auch | |
Straßen geben, durch die man sich zügig bewegt. Man muss es eben | |
ausprobieren und bei der Straßenplanung variantenreicher denken. Eine | |
fertige Antwort gibt es da nicht. | |
Berlin nutzt ja gerne mal das Label „Fahrradstadt“. Zu Recht? | |
Schön: Sagen wir so: Berlin ist eine Stadt, in der der Fahrradverkehr | |
massiv wächst, aber nicht wegen, sondern trotz der Radverkehrspolitik. | |
Warum das so ist? Eine Antwort wäre, dass man Radverkehr als Virus | |
begreift. Radfahren steckt an. | |
Runge: Zurzeit ist Berlin auf keinen Fall eine Fahrradstadt. Aber es kann | |
durchaus sein, dass es in 15 Jahren eine ist – ohne eine wirklich | |
fahrradtaugliche Infrastruktur zu haben. | |
Heringer: Was kein Argument für die Politik sein darf, die Infrastruktur | |
nicht zu verbessern. | |
Runge: Auf keinen Fall! | |
Mit einer besseren Infrastruktur würden doch auch längere Strecken mit dem | |
Fahrrad zurückgelegt werden. | |
Heringer: Das stimmt. In Kopenhagen etwa sind die Entfernungen zum Teil wie | |
hier, aber man kommt deutlich schneller voran, weil man diese breiten | |
Radwege hat. In Berlin gäbe es dafür auch die Voraussetzungen, wir haben so | |
breite Straßen wie keine andere Großstadt in Deutschland. | |
Runge: Nur ist es eben nicht monokausal die Infrastruktur, die die Leute | |
zum Radfahren bringt. In Kopenhagen ist es einfach normal, das Rad zu | |
nutzen. In Berlin wird es langsam normal. | |
Heringer: Die Politik betrachtet das Fahrrad immer noch als Freizeit- oder | |
Sportgerät, nicht als normales Fahrzeug. | |
A propos Politik: Haben Sie denn Verbündete in der Verwaltung? | |
Runge: Es gibt da Leute, die sich wirklich engagieren und etwas | |
voranbringen wollen, aber es gibt höchstwahrscheinlich auch andere. | |
Wirklich bedauerlich ist, dass es seit Jahren keinen Fahrradbeauftragten | |
mehr gibt. Es wäre schön, wenn es jemanden gäbe, den jeder ansprechen kann, | |
und der das auch nicht im Ehrenamt macht - dazu ist die Stadt einfach zu | |
groß. Was wir nicht verstehen, ist Folgendes: Die Politik in Berlin wird | |
ständig für irgendetwas geschlagen, das nicht funktioniert. Warum erhöht | |
man nicht den Fahrradetat um drei Millionen, Klaus Wowereit lässt sich auf | |
dem Fahrrad fotografieren, und der Senat streicht einen Erfolg ein? Ich | |
würde das gar nicht auf bösen Willen zurückführen, eher auf fehlenden | |
politischen Instinkt. | |
Wo wir gerade beim Senat sind. Was halten Sie eigentlich von der | |
Plakatkampagne mit den kleinen blauen Getränkedosen, auf denen „Rücksicht“ | |
drauf steht? | |
Schön: Gute Frage. Einerseits wäre ein angenehmeres Verkehrsklima schön. | |
Auf der anderen Seite versucht die Kampagne das mit sehr einfachen Mitteln | |
zu erreichen, nämlich mit Moral. Wir glauben nicht, dass das so einfach | |
funktioniert. | |
Heringer: Das Geld für solche zu kurz gedachten Kampagnen wäre in | |
Infrastruktur wahrscheinlich besser investiert. Oder in Verkehrsforschung. | |
Dieses Interview ist Teil des aktuellen Themenschwerpunkts in der | |
Wochenendausgabe der taz.berlin. In Ihrem Briefkasten und am Kiosk. | |
31 May 2014 | |
## AUTOREN | |
Claudius Prößer | |
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