# taz.de -- Radtour: Freundliche Übernahme | |
> 800 Pedalisten können den Autoverkehr ganz schön durcheinanderbringen – | |
> wie die Teilnehmer der Fahrraddemo „Critical Mass“. | |
Bild: Radprofis haben wie hier selbst in Innenstädten immer Vorrang und freie … | |
Wie auf ein geheimes Zeichen hin füllt sich um kurz vor acht Uhr abends der | |
Kreuzberger Heinrichplatz mit Radfahrern. Es sind so viele, dass sie sich | |
auf den Gehwegen drängeln. Sie begrüßen einander mit Schulterklopfen und | |
Umarmungen, die Eingeschworenen kennen sich. Kurz vor dem Start ist der | |
Fußweg auf allen Seiten des Platzes so voller Fahrräder, dass es kein | |
Durchkommen gibt. Dann ergießt sich die Menge auf die Straße. | |
Sofort bricht der Verkehr auf der Oranienstraße zusammen. Die Autofahrer | |
fluchen und hupen, die Radfahrer winken und klingeln. Die Menge von etwa | |
500 Radlern fährt in hohem Tempo Richtung Westen. Wenn die Gruppe | |
auseinanderreißt, rufen Nachzügler „Anschluss!“, erhöhen das Tempo und | |
schließen die Reihen. Am Kreisverkehr am Moritzplatz dreht der Konvoi | |
einige Runden und bringt den Verkehr damit völlig zum Erliegen. Dann geht | |
es weiter in Richtung Potsdamer Platz. | |
Die Fahrraddemo „Critical Mass“, die seit 2006 jeden Monat in Berlin | |
stattfindet, ist nicht angemeldet, es gibt keinen Veranstalter und | |
Verantwortlichen – offiziell. Eine Website veröffentlicht die Termine und | |
das Selbstverständnis der Menge: Man will nicht blockieren, sondern | |
gemeinsam die Rechte der Radfahrer im Verkehr einfordern. Die Bewegung ist | |
global: 1992 bildeten Radfahrer in San Francisco die erste kritische Masse, | |
2008 nahmen über 80.000 Fahrer an der Aktion in Budapest teil – bisheriger | |
Rekord. | |
## Neu an der Spitze | |
Während der Fahrt sind es immer wieder andere Radfahrer, die sich an die | |
Spitze setzen und spontan über die Route entscheiden. Legal ist die Aktion | |
trotzdem: Die Radfahrer nutzen eine Ausnahmegenehmigung in der | |
Straßenverkehrsordnung. Gruppen von 15 Radfahrern und mehr bilden demnach | |
eine kritische Menge und werden behandelt wie ein einziges, langes | |
Fahrzeug. | |
Damit darf der Konvoi eine komplette Fahrbahn blockieren, die hinteren | |
Radfahrer dürfen über Rot fahren, wenn vorn beim ersten die Ampel noch | |
grünes Licht zeigte. Der Zug, der sich durch die Berliner Nacht schlängelt, | |
ist mehrere hundert Meter lang, an jeder Kreuzung stauen sich die Autos. | |
Die Polizei verfolgt die Critical Mass heute nicht – häufig jedoch | |
begleiteten Beamten per Motorrad die Menge. Einmal stoppte die Polizei die | |
Critical Mass sogar, erzählt Ben Georg, der schon seit drei Jahren | |
mitfährt: „Wir wurden eingekesselt und die Polizei hat alle unsere | |
Personalien aufgenommen.“ Auf seinem mit Lichterketten verzierten Fahrrad | |
fährt Georg weiter. | |
Die rund 500 Radler, die nach weniger als 20 Minuten Fahrt am Potsdamer | |
Platz angekommen sind und auf die Leipziger Straße einbiegen, fahren sich | |
gemeinsam in einen kleinen Rausch. Es ist ein machtvolles Gefühl und eine | |
Befreiung aus dem Alltag, der die Radfahrer oft zwischen Autos einquetscht | |
und mit aufspringenden Fahrertüren bedroht. „Wann kann man in Berlin schon | |
mit so viel Platz Fahrrad fahren“, ruft Hannah Schurian rüber. Die | |
Studentin hat sich auf ihrem klapprigen, alten Fahrrad spontan | |
angeschlossen, als die Critical Mass an ihr vorbeifuhr. | |
Mit ihrem Fahrrad ist Schurian in der Minderheit: Die Critical Mass ist | |
eine Modenschau für Fahrradverliebte. Stolz zeigen die Radfahrer ihre | |
Käppis und Kuriertaschen, der Preis mancher Rennräder übersteigt vermutlich | |
den Wert der Kleinwagen, die in den Seitenstraßen stehen und hupen, weil | |
die Menge den Verkehr blockiert. | |
Auf der Leipziger Straße nimmt die Menge nicht nur eine, sondern drei | |
Fahrbahnen ein und blockiert damit die gesamte Straße Richtung | |
Alexanderplatz. „Ihr seid doch total bescheuert“, brüllt ein Autofahrer mit | |
schlechten Nerven aus dem Seitenfenster. Wer sich zu einem der Autofahrer | |
ins Fenster lehnt, sieht Hilflosigkeit und Ärger. „Ich hab keine Ahnung, | |
was hier passiert, ich will einfach nur zum Hockeyspiel“, sagt die Fahrerin | |
eines SUV gestresst. | |
Immer wieder kommt es zu Konfrontationen mit Autofahrern, die sich nicht | |
damit abfinden wollen, dass die Radfahrer die Straße übernommen haben. | |
Einer drängelt sich von hinten in die Gruppe rein, kommt einigen | |
Fahrradfahrern gefährlich nahe. Zur Strafe bekommt er Bier über die | |
Windschutzscheibe gekippt. | |
Sebastian, ein junger Mann mit Radlerhosen und Nasenpiercing, der seinen | |
Nachnamen nicht verraten möchte, hält an einer Kreuzung die Autos davon ab, | |
in die Menge zu fahren, indem er sich vor ein Auto stellt und sich anhupen | |
lässt. Er fährt schon seit langem bei der Critical Mass mit. „Heute ist ein | |
guter Tag“, sagt er. Die Polizei ist nicht zu sehen, die Menge mittlerweile | |
800 Fahrer groß. In Hamburg, sagt Sebastian, fahren bis zu 3.000 Menschen | |
bei den Fahrraddemos mit. Warum es in Berlin weniger sind? „Hier gehen die | |
Leute lieber Party machen“, vermutet er. | |
Aber die Berliner Critical Mass ist auch eine kleine Party: Einige | |
Fahrräder beschallen mit einem mobilen Soundsystem die ganze Straße. Die | |
Musik ändert sich am späteren Abend, Techno löst jetzt alte Rockhits ab. | |
Hält der Zug an einer Ampel, nutzen Pärchen die Pause zum Knutschen. Viele | |
fahren mit einer Flasche Bier in der Hand, immer wieder riecht es nach | |
Gras. Anders als bei vielen Demos ist die Critical Mass dynamisch und laut. | |
Aber obwohl obendrein das Tempo hoch ist, kommt es zu keinen | |
Zusammenstößen. Man passt aufeinander auf. | |
Paul Fliedner hat eine Kamera auf den Helm montiert und filmt die Masse. | |
Sein Bruder soll einen Film darüber schneiden, mit dem er auch auf die | |
schlechte Situation für Fahrradfahrer in Berlin hinweisen will. „Viele Wege | |
sind schlecht ausgebaut und nicht ausgeschildert.“ Fliedner bekommt | |
leuchtende Augen, als er von den Radwegen in Amsterdam erzählt. | |
Keiner der Radler weiß, wie lange die Kolonne noch weiterfährt, niemand | |
kennt die Route. Die Masse zieht nun, nach zwei Stunden, am Hermannplatz | |
vorbei. Immer wieder klinken sich jetzt ein paar Radfahrer aus. Für den, | |
der am Straßenrand hält, ist der schöne Spuk wenige Meter nach dem letzten | |
Hinterrad zu Ende. Nur noch leiser werdendes Klingeln ist zu hören. Dann | |
nehmen die Autos wieder die Straßen rund um den Hermannplatz ein. Die | |
Hackordnung im Verkehr ist wieder hergestellt. | |
## ■ Nächster Termin: Freitag, 29. November, 20 Uhr, Treffpunkt | |
Heinrichplatz. Mehr Infos unter | |
28 Nov 2013 | |
## AUTOREN | |
Kersten Augustin | |
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