# taz.de -- Subkultur im Gefahrengebiet: Notstandsgesetz light | |
> Hamburgs subkulturelle Szene verteidigt ihre Viertel. Doch nicht alle | |
> befürworten die Gewalt gegen die Polizei. Ein Einblick in die Hamburger | |
> Kulturszene. | |
Bild: Bunt, aber umzingelt. Der Kampf um selbstgestaltete Räume geht weiter. | |
HAMBURG taz | Wer im mittelhessischen Wetzlar wohnt oder im ostfriesischen | |
Emden, wird sich wohl nur schwer vorstellen können, wie es ist, wenn jeder | |
Bürger der Stadt beim Spazierengehen jederzeit einem behelmten Polizisten | |
ohne erkennbaren Anlass den Personalausweis vorzeigen muss. Oder dem | |
Beamten seinen Rucksack zu übergeben hat, auf dass dieser ihn dann mithilfe | |
einer Taschenlampe minutenlang ausforscht. | |
In den beiden Mittelstädten leben mit jeweils etwas mehr als 50.000 | |
Einwohnern etwa so viele Menschen wie in jenen Regionen Hamburgs, die diese | |
Form des Ausnahmezustands seit dem vergangenen Wochenende ertragen mussten. | |
Die Schaffung dieses temporären Gefahrengebiets in St. Pauli, im | |
Schanzenviertel und Teilen Altonas war der Höhepunkt der | |
Eskalationsstrategie der Hamburger Polizei. Sie begann am 21. Dezember im | |
Schanzenviertel, als die Polizei eine angemeldete Demonstration für das | |
Kulturzentrum Rote Flora und für die derzeit in der Stadt lebende | |
Lampedusa-Flüchtlingsgruppe gewaltsam stoppte, bevor sie überhaupt richtig | |
angefangen hatte. | |
Rund eine Woche später verschickte die Polizei eine Pressemitteilung über | |
einen Angriff auf die Davidwache an der Reeperbahn, der, wie mittlerweile | |
bekannt ist, in der geschilderten Form wohl gar nicht stattgefunden hat. | |
Die fingierte Darstellung des Ablaufs dieser Attacke war der Vorwand dafür, | |
das Gefahrengebiet einzurichten. | |
Dieses „Notstandsgesetz light“, wie es Ale Dumbsky nennt, dem früher das | |
Label Buback Tonträger gehörte und der heute das Magazin Read herausgibt, | |
betraf auch zahlreiche Menschen aus dem Kulturbetrieb, der sich seit den | |
frühen 1990er Jahren mit dem örtlichen Protestmilieu überschneidet. In den | |
einmal zum „Gefahrengebiet“ erklärten Stadtteilen wohnen etliche Musiker | |
und DJs, und hier befindet sich auch der Großteil der Clubs und | |
Plattenläden, die die lokale Szene prägen. | |
Marga Glanz legt als DJ unter anderem im Pudel Club auf. Außerdem führt sie | |
im Karolinenviertel den Plattenladen Groove City. „Sehr geehrte Polizei, | |
wahrscheinlich arbeiten und halten sich in diesem Geschäft folgende | |
,relevante Personengruppen‘ auf“, steht auf einem Aushang im Schaufenster | |
des Ladens. In der folgenden Auflistung finden sich Anhänger der Bewegung | |
„Recht auf Stadt“, „Bulgaren“, „Rumänen“ und „illegale Einwander… | |
## Leidtragende sind auch die Migranten ohne Papiere | |
„Für Migranten ohne gültige Papiere ist die jetzige Entwicklung am | |
schlimmsten“, sagt Glanz. „Die können in dieser Gegend nicht mehr auf die | |
Straße gehen.“ | |
Das war im Oktober bereits ähnlich, als die Polizei in den Stadtteilen St. | |
Pauli und St. Georg nach der „Racial Profiling“-Methode gegen | |
Lampedusa-Flüchtlinge gerichtete Kontrollen durchführte. Anfang November | |
brachte der Protest gegen die Flüchtlingspolitik des Senats in der | |
Hamburger Innenstadt 15.000 Menschen auf die Straße – unterwegs war nicht | |
nur die bekannte Demoklientel, die Zusammensetzung war heterogener als | |
sonst, Menschen aus dem bürgerlichen Milieu waren stark vertreten. In | |
Zusammenhang mit diesem überraschenden Zuspruch für die Großdemonstration | |
sei auch die Polizeigewalt am 21. Dezember zu sehen. Der Senat wolle dafür | |
sorgen, „dass die Leute nicht mehr mit ihren Kindern auf Demonstrationen | |
gehen, damit ein Teil der Kritik unsichtbar wird“, sagt Glanz. | |
Die Groove-City-Inhaberin ist zwar wütend auf den Senat und seine | |
Flüchtlings- und Stadtentwicklungspolitik, aber auch verärgert darüber, | |
dass aufseiten der Protestler zu viele Dicke-Hose-Typen unterwegs sind, auf | |
die die Vernünftigen in der Szene offenbar keinen Zugriff haben. | |
Schorsch Kamerun, der gerade mit den Goldenen Zitronen auf Tournee ist, | |
sieht das nicht unähnlich. Am 21. Dezember war er Teilnehmer der | |
Demonstration. Er sagt, es sei ihm bereis zwei Minuten, nachdem er am | |
Abmarschort im Schanzenviertel eingetroffen war, klar gewesen, dass man | |
keinen „kreativen, fantasievollen Nachmittag“ erleben würde und die | |
Veranstaltung eskalieren sollte. Bestimmte Gruppen aus der Szene sowie | |
„nicht unwesentliche Polizeieinheiten“ schienen sich hier zum „gewollten | |
Scharmützel“ verabredet zu haben. | |
## Rückwärtgewandte Denke | |
„Nur Hammer gegen Wand, daran glaube ich nicht“, sagt Kamerun. Und unter | |
den gegebenen Umständen seien „bloße Steine gegen die Polizei unzulängliche | |
Stiche“, die dazu führten, dass diese in ihrer „aktuell äußerst | |
rückwärtsgewandten Denke“ weiter stumpf aufrüste. Es müsse in der | |
„inhaltlich eigentlich geschlossenen Protestszene deshalb auch über interne | |
Abgrenzungen diskutiert werden, zumindest, was das Vorgehen angeht“, sagt | |
Kamerun, der sich über eine „Archaisierung des Diskurses und einen Rückfall | |
in längst überwunden geglaubte Eindimensionalitäten“ ärgert. | |
Andere halten eine Abgrenzung von Jungerwachsenen, die Steine schmeißen, | |
nicht für opportun. „Ich verurteile das auf gar keinen Fall“, sagt Ale | |
Dumbsky, der auf der Demo am 21. Dezember als Teil des losen Netzwerks | |
„Grauer Block. Autonome 40 +“ dabei war. Es sei angesichts des Ausmaßes vor | |
allem der Flüchtlingspolitik in Hamburg „Zeit, eine Linie zu ziehen und zu | |
sagen: Bis hierher und nicht weiter.“ Das sage ihm auch seine 25-jährige | |
Demoerfahrung. Er werde sich jedenfalls „nicht hinstellen und Sitzblockaden | |
empfehlen“, sagt Dumbsky. | |
Während sich Mitglieder der Musikszene zum Thema äußern, überwiegt bei | |
namhaften Vertretern des bürgerlichen Kulturbetriebs noch das Schweigen. | |
Hervorgetan hat sich immerhin das Kampnagel-Theater – das weit außerhalb | |
des Gefahrengebiets liegt – mit einem offenen Brief an Bürgermeister Olaf | |
Scholz und Innensenator Michael Neumann. Angesichts des herrschenden | |
„Kontrollwahns“ und der „Aufrüstung der Polizei“ schreiben die | |
Theatermacher an den „lieben Olaf“ und den „lieben Michael“: „Da werd… | |
frühkindliche Erinnerungen vom Spielplatz bei uns wach, wenn ein anderes | |
Kind uns die Schaufel entrissen hat. Zugegeben, da wollten auch wir mal | |
zuschlagen und die Faust ballen, um unsere Schaufel zurückzubekommen […]. | |
Aber mal ehrlich, hat uns das jemals wirklich weitergebracht?“ | |
Der offene Brief endet mit der Forderung „Make love, not Gefahrengebiet!“ �… | |
einer Parole, die dann wenige Stunden später auch auf einer Demo durch St. | |
Pauli Verwendung fand. | |
„Der Zeitpunkt der Eskalation zwischen Polizei und Demonstranten war aus | |
Sicht der Stadtregierung günstig, weil viele Leute über Weihnachten in | |
Urlaub waren und es daher vergleichsweise wenig Kritik gab“, sagt | |
Intendantin Amelie Deuflhard. Am Montag dieser Woche, dem ersten Arbeitstag | |
nach den Weihnachtsferien, habe sich das künstlerische Team von Kampnagel | |
zusammengesetzt. „Wir waren uns einig, dass wir uns positionieren müssen“, | |
sagt Deuflhard. Unter anderem, um den „einseitigen Informationen“ und der | |
„gefährlichen Aufrüstung“ etwas entgegenzusetzen sowie „ein | |
Diskussionsforum anzubieten“. | |
## Pickelhauben-Journalismus | |
Deuflhard lebt seit sechs Jahren in Hamburg. Sie fände es „beunruhigend und | |
bedrohlich“, wenn die Polizei hier nun auf unbestimmte Zeit tun könnte, was | |
sie nirgendwo sonst in der Bundesrepublik darf: ohne richterliche Anordnung | |
Gefahrengebiete definieren und dort nach Belieben Menschen kontrollieren. | |
Aufgefallen ist Deuflhard in diesen sechs Jahren auch, dass „die Härte der | |
Polizeieinsätze nicht davon abhängt, welche Partei gerade an der Regierung | |
ist“. Die Polizei, ein Staat im Staate? | |
Es müsse „dringendst runde Tische geben, um zu einer friedlichen Lösung zu | |
kommen“, ergänzt die Kampnagel-Intendantin. So etwas sagen Kulturschaffende | |
gern, und für Außenstehende mag das wohlfeil klingen. In der exklusiven | |
Hamburger Gemengelage – zu der der Pickelhauben-Journalismus der | |
Lokalzeitungen einiges beiträgt – hat so eine Formulierung in der | |
derzeitigen Situation aber Gewicht. Denn Deuflhard lässt damit ein | |
Verantwortungsbewusstsein für die Stadt erkennen, das beim Senat derzeit | |
kaum zu spüren ist. | |
In Hamburg gebe es derzeit „eigentlich kein konkretes politisches Problem“, | |
hat Innensenator Neumann vor einigen Tagen im Innenausschuss der | |
Bürgerschaft gesagt. Mit etwas Wohlwollen könnte man das eine solide | |
bananenrepublikanische Haltung nennen. | |
11 Jan 2014 | |
## AUTOREN | |
René Martens | |
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