| # taz.de -- Gefahrengebiet in Hamburg: Petersilie und Sozialismus | |
| > Die Polizei hat aus dem großen Gefahrengebiet in Hamburg drei kleinere | |
| > gemacht. Der Widerstand nimmt immer vielfältigere Formen an. | |
| Bild: Gefahrengebiets-Protest in Hamburgs Bannmeile: Polizeikritische Kissensch… | |
| HAMBURG taz | Es könnte auch ein ganz normaler Abend im Hamburger | |
| Schanzenviertel sein: In der Wohlwillstraße stehen junge Leute vor dem | |
| Tabakladen, rauchen, reden. Mit ihren Rucksäcken und der dunklen Kleidung | |
| könnten sie Studenten sein, die mal eben ein Bier trinken gehen. Aber an | |
| diesem Abend ist die Kneipe um die Ecke nicht ihr Ziel, sie wollen einfach | |
| spazieren – und da endet die Normalität: Denn ein einfacher Spaziergang | |
| kann dieser Tage in Hamburg Zeichen des Protests sein, eine schwarze | |
| Kapuzenjacke ein politisches Statement. | |
| Seit die Polizei am 4. Januar Teile der Stadt zum „Gefahrengebiet“ | |
| erklärte, diskutieren Politik und Medien, ob die verdachtsunabhängigen | |
| Kontrollen angemessen sind. Auf den Straßen hat sich währenddessen neben | |
| ganz normalen Demonstrationen, nicht immer angemeldet, ein spielerischer | |
| Widerstand organisiert: Übers Internet verabreden sich Aktivisten zum „Real | |
| Life Game“ in der „Danger Zone“. Das Ziel: Die Aufmerksamkeit der | |
| Polizeistreifen erregen, Kontrollen provozieren, das Prinzip der | |
| Überwachung ad absurdum führen. | |
| Max hat sich von so einem Aufruf inspirieren lassen. „Die Polizei kann | |
| nicht tausende Menschen unter Generalverdacht stellen“, sagt der | |
| Versicherungskaufmann. „Nur weil ich einen dunklen Pulli trage, bin ich | |
| doch kein Gewalttäter. Hier wird eine Stimmung der Angst verbreitet.“ Er | |
| spricht mit ruhiger Stimme und sieht so gar nicht gefährlich aus. | |
| Genauso wenig wie Johanna, die ihn begleitet. Auch sie sei bereits | |
| kontrolliert worden, erzählt die Studentin mit der bunten Mütze: „Eine | |
| Polizeieinheit hat mich und ein paar Freunde am Neuen Pferdemarkt | |
| aufgegriffen. Wir standen da nur so rum.“ Wegen ihrer Aufmachung sei sie zu | |
| Gewalttaten fähig, habe einer der Polizisten zu ihr gesagt. Auf ihre Frage | |
| nach seiner Dienstnummer habe er nur geantwortet: „Das wäre ja so, als | |
| würde ich sie nach der Größe ihrer Unterwäsche fragen.“ Johanna lacht auf, | |
| aber sie wirkt nicht belustigt. | |
| ## Grundgesetz in der Tasche | |
| Heute ist sie vorbereitet, will die Provokation auf die Spitze treiben: In | |
| ihrer Tasche hat sie allerlei, das irgendwie verdächtig sein könnte: ein | |
| Plastik-Tütchen mit Natron-Tabletten, die wie Drogen aussehen sollen, zum | |
| Beispiel. Aber auch eine Ausgabe des Grundgesetzes, die sie bei einer | |
| Kontrolle den Polizisten direkt unter die Nase halten will. | |
| Viele der „Spaziergänger“ tragen solche Sachen bei sich, beliebt sind in | |
| Tüten abgepackte Petersilie sowie sozialistische Literatur. Albern oder | |
| kindisch finden Max und Johanna das nicht: Es sei ein Spiel mit den | |
| Stereotypen, die immer wieder mit „der linken Szene“ verbunden würden – … | |
| die der Polizeiführung nun dazu dienten, ein allzu grobes Täterprofil zu | |
| erstellen. „Peinlich“ nennen die beiden vielmehr die derzeitige | |
| Inszenierung von Macht. | |
| Gewalt oder Krawall, davon ist an diesem Donnerstagabend nichts zu sehen im | |
| Schanzenviertel, auch Polizeiwagen sind kaum noch unterwegs. Am Nachmittag | |
| hatte die Polizeiführung das Gefahrengebiet in drei kleinere Zonen zerlegt: | |
| „Die haben echt abgerüstet“, sagt Max und klingt dabei so, als wäre von | |
| einer martialischen Militärmacht die Rede. | |
| Bei aller Ruhe wird bei dem Rundgang eines doch spürbar: Das Klima im | |
| Schanzenviertel und auf St. Pauli hat sich verändert, viele Anwohner sind | |
| verunsichert. Zwar gehen die Meinungen darüber, was bei der großen | |
| Demonstration am 21. Dezember geschah, noch immer auseinander: Hatte das | |
| polizeiliche Vorgehen für die Eskalation gesorgt oder der gewaltbereite | |
| Teil der Demonstranten? | |
| Auch wenn die „Spaziergänger“ nicht überall auf Zustimmung stoßen: Die | |
| ständigen Kontrollen werden von vielen Menschen hier abgelehnt. „Wenn man | |
| schon überlegen muss, was man anziehen soll und ob es in Ordnung ist, | |
| zufällig einen Korkenzieher in der Tasche zu tragen, kann ich mich hier | |
| nicht mehr wohl fühlen“, erzählt Meike, Erzieherin aus dem Schanzenviertel. | |
| Die Grundlage für das Gefahrengebiet steht inzwischen in Frage: Der zweite | |
| Angriff auf die „Davidwache“, das weit über die Stadt hinaus bekannte | |
| Polizeirevier an der Reeperbahn, bei der ein Polizist schwer verletzt | |
| wurde, hat höchstwahrscheinlich nicht so stattgefunden, wie es die Polizei | |
| anfangs verbreitet hatte. Auch bei dem Spaziergang durch die „Danger Zone“ | |
| wird an diesem Abend immer wieder über den gezielten Gewaltakt diskutiert, | |
| der in weiten Teilen der linken Szene auf Kritik und Unverständnis gestoßen | |
| war. | |
| ## „Gewalt verhindert“ | |
| Aus Sicht der Polizei sind die Kontrollen jedoch weiter notwendig: „In den | |
| ersten Tagen wurde noch viel Pyrotechnik sichergestellt und wir konnten | |
| Gewalttaten verhindern“, sagt etwa Polizeisprecher Andreas Schöpflin. | |
| Danach seien weniger „potenzielle Gewalttäter“ aufgegriffen worden – weil | |
| in Internetforen aber immer noch Angriffe auf Beamte angekündigt würden, | |
| blieben die nun verkleinerten Gefahrenzonen bis auf Weiteres in Kraft. | |
| Für Max und seine Gruppe geht es nun weiter zu einer Fahrrad-Demo. Auf dem | |
| Weg begegnen ihnen viele, die so aussehen wie sie: Grüppchen schwarz | |
| Gekleideter mit Rucksäcken. Das Erkennungszeichen: eine Klobürste. Das | |
| Badezimmerutensil hat eine bemerkenswerte politischer Symbolkraft bekommen | |
| in den vergangenen Tagen. Die Aktivisten zitieren damit eine Szene aus | |
| einem Fernseh-Nachrichtenmagazin: Ein Polizist hatte einem jungen Mann bei | |
| einer Kontrolle eine Klobürste abgenommen. Auch Johanna hat sich noch | |
| schnell eine besorgt. | |
| Das Klobürsten-Phänomen steht nun für zivilen Ungehorsam und friedlichen | |
| Protest. Es sei aber vor allem eine Reaktion auf die „absurde | |
| Gewaltrhetorik in Politik und Medien“, wie Thomas es ausdrückt. Der | |
| Grafiker ist direkt aus dem Büro hergekommen, in einer Hand hat er eine | |
| Klobürste, in der anderen einen Stadtplan: Darauf sind die neuen | |
| Gefahrengebiete eingezeichnet, in denen nun demonstriert werden soll. In | |
| vielen Berichten sei nur von gewaltbereiten Autonomen die Rede, sagt er. | |
| Dem solle nun widersprochen werden – durch Satire. | |
| Die Demonstration setzt sich in Bewegung: Hunderte Räder ziehen an den | |
| Bürofassaden in der Hamburger Neustadt vorbei und bewegen sich mitten durch | |
| das Treiben zwischen Diskos und Bordellen auf St. Pauli. Die Aktion ist | |
| zuvor nicht angemeldet worden, über die Route einigen sich die | |
| Demonstranten spontan, per Zuruf. | |
| ## „Die geben auch nie Ruhe“ | |
| „Vorsicht, Gefahrengebiet!“, ruft einer und lacht, als sich der Zug der | |
| Davidwache nähert. Aber dann schlagen die Demonstranten doch einen Bogen, | |
| radeln lieber durch Seitenstraßen. Die direkte Konfrontation mit der | |
| Polizei suchen sie nicht, es bleibt ein Spiel, Katz und Maus, eine Form | |
| trotziger Ungehorsamkeit. Etliche Polizisten sehen dem Treiben mit müden | |
| und ausdruckslosen Gesichtern zu, einige können sich aber auch ein Grinsen | |
| nicht verkneifen. Anwohner lehnen sich aus dem Fenster und applaudieren, | |
| einige Passanten reagieren amüsiert, andere genervt. „Die geben aber auch | |
| nie Ruhe“, schimpft ein älterer Mann im Vorbeigehen. | |
| Auch am folgenden Tag will die Protestbewegung zeigen, wie sich der | |
| Gewaltfolklore, die in den Medien so gut läuft, andere Bilder | |
| entgegensetzen lassen: Ganz in der Nähe der Davidwache hat man für den | |
| späten Freitagnachmittag eine Schlacht anberaumt – mit Kissen. | |
| Später an diesem Abend werden auf den Straßen von St. Pauli auch | |
| ausgemusterte Weihnachtsbäume brennen. Am Rande einer Demonstration, so | |
| heißt es später, sollen Polizisten mehrere Demonstranten verletzt haben, | |
| einen davon schwer, der „Ermittlungsausschuss“ sucht nach Zeugen dieser | |
| Vorfälle. | |
| Aber erstmal ist die Stimmung noch ausgelassen, viele Kinder sind dabei und | |
| schon bald bedecken weiße Federn den Spielbudenplatz. „Der absurde Humor | |
| ist doch nur eine Reaktion auf die noch viel absurdere politische Situation | |
| in dieser Stadt“, sagt Thomas und wirft eine Handvoll Federn in die Luft. | |
| 12 Jan 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Annika Lasarzik | |
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