# taz.de -- Debatte Kampfschrift nach Flora-Demo: Ein Stück Bullshit | |
> Um den Ausnahmezustand zu rechtfertigen, wird ein pseudolinkes Pamphlet | |
> hochgejazzt. Das ist zu viel der Ehre für so einen Text. | |
Bild: Die Proteste am 21. Dezember im Hamburger Schanzenviertel eskalierten. | |
Hamburg kocht, Randale, Verletzte, ein ganzer Stadtteil gilt als | |
„Gefahrengebiet“. Eine gute Zeit, sich mit einem Text zu beschäftigen: | |
Nicht mit irgendeinem, sondern mit dem, der zu einem PR-Desaster der | |
Hamburger Linken werden sollte. Denn die heimliche Hauptrolle in dem Drama | |
spielt [1][ein Pamphlet], das kurz nach der aus dem Ruder gelaufenen | |
Demonstration für die Rote Flora vom 21. Dezember kursierte. | |
Es dürfte hierzulande kaum ein Medium mehr geben, das es nicht als | |
authentische Äußerung Hamburger „Autonomer“ zitiert und zur Rechtfertigung | |
der polizeilichen Maßnahmen herangezogen hat. | |
Tatsächlich bietet das Schreiben alles, was es zum Spektakel braucht: | |
„Irgendwann werden wir schießen müssen“, tönt der Titel, es geht ziemlich | |
breitbeinig zu (Rechtschreibung im Original): „Unsere Hypothese für die | |
Flora-Räumung: 200 Leute, 400 Mollis und dazu 50 GenosInnen mit Zwillen, | |
jeweils 15 Schuss Stahlkugeln – und die Bullen werden den Abstand einhalten | |
der geboten ist. Zweitausend bewaffnete, mit Hand- und Schnellfeuerwaffen – | |
und die Bullen werden das Viertel verlassen.“ | |
Beim unterzeichnenden „unverbesserlichen Kollektiv“ ist tatsächlich nichts | |
mehr zu machen. Es hapert dramatisch an Orthografie und Realitätssinn. Nun | |
gibt es fraglos einige Militanztrottel, denen so ein kleiner Gewaltporno | |
zuzutrauen ist, doch ausgerechnet bei der Roten Flora dürfte mit solchem | |
„Gemackere“ nicht viel zu holen sein. | |
## Unkritische Zitation | |
Dennoch wurden die Passagen unhinterfragt als Nachweis einer akuten Gefahr | |
zitiert. Kaum jemand prüfte, wie relevant oder repräsentativ die Erklärung | |
überhaupt ist. Das lädt zu einer Quellenkritik ein: | |
Das Elaborat erschien anonym bei Indymedia, über den oder die Autoren weiß | |
man nichts. Es kombiniert zu Allgemeingut gewordene Floskeln linker | |
Klassiker. Als „Analyse“ der Situation dient ein altes Spannungsszenario: | |
Der Staat habe sein wahres Antlitz der „Diktatur“ offenbart, nun sei | |
Widerstand mit militärischen Mitteln notwendig. Die Zeile „Irgendwann | |
werden wir schießen müssen“ kaut eine Parole Ulrike Meinhofs wieder: | |
„Natürlich kann geschossen werden“ von 1970. | |
Auch der bedeutungsschwangere Schluss paraphrasiert abgehangenen Kitsch. Im | |
Sinne von Che Guevaras „Wir müssen stark werden, ohne je unsere | |
Zärtlichkeit zu verlieren“, heißt es: „Wir hoffen nur, dass wir nach der | |
Scheiße, die uns der Bürgerkrieg abverlangt, noch genügend Menschlichkeit | |
besitzen, das Andere, wozu wir antraten, zu verwirklichen.“ | |
Zwischen diesen Reminiszenzen an RAF und Revolution finden sich Heroismus | |
und Innerlichkeit: „Am 21. Dezember 2013 in Hamburg haben wir die Sau raus | |
gelassen. Jeder von uns auf seine Art und Weise. Wir haben Barris gebaut, | |
die Bullen Steine fressen lassen, Schaufenster entglast, Mülltonen | |
angezündet, Hinterhalte gelegt, gelacht und eine heiden Angst gehabt.“ | |
## Linke Befindlichkeitsprosa | |
Omnipotenzfantasien, gepaart mit einem traurigen Niedergang von | |
Originalität und Stil; ein paar Schlagworte wie „Flüchtlingspolitik“, | |
„Mieterhöhung“ und etwas Konsumkritik ersetzen den politischen Gehalt. An | |
die Stelle von Gesellschaftskritik tritt Befindlichkeitsprosa: „Der 21.12 | |
ist in jeden Fall das klare Zeichen, dass die antiautoritäre Bewegung in | |
Deutschland immer noch da ist. Nicht der Pathos daran belebt uns, sondern | |
die reale Hoffnung auf gesellschaftliche Veränderung, die wir daran | |
knüpfen. Der Moment kann uns Kraft geben, wenn er in einem Kontext von | |
Momenten steht. Er kunann helfen vertrauen zurück zu gewinnen. In uns | |
selbst. In die Bewegung. In die Hoffnung dass irgendwann alles anders | |
wird.“ | |
Ähnlich unbestimmt bleiben die Aggregatszustände des Widerstands: | |
„gegenläufige, schwingende, wabbernde oder hämmernde“. Doch „wabbernd�… | |
vor allem der Text selbst. Am antiautoritären Charakter der Autoren darf | |
angesichts der Diktion gezweifelt werden. | |
Und wie geht es weiter mit der Revolution? Plötzlich wird es persönlich: | |
„Das Empire strauchelt, genaugenommen liegt es am Boden. Aber es lebt mein | |
Freund, es ist lebendiger denn je. Doch wenn es schon am Boden liegt, so | |
lasst uns darauf eintreten. Soviel es eben geht. Und ohne die falsche | |
Sklavenmoral, ohne Gnade für das Biest, ohne die bürgerliche Wehleidigkeit, | |
ohne das schlechte Gewissen des bürokratischen Wendehalses. Ohne Mitleid | |
für den Golem, der sich vor unseren Augen in eine Diktatur verwandelt hat.“ | |
„Sklavenmoral“? Bei dieser Nietzsche-Aneignung durch einen angeblichen Text | |
der Randalefraktion dürfte es sich um eine Premiere handeln. Das freut den | |
Philologen – aber galt nicht ausgerechnet der Begriff „Sklavenmoral“ dem | |
Gebot der Nächstenliebe, der Solidarität? War ihr Gegenstück nicht die | |
„Herrenmoral“, die für eine Werte schaffende „Rasse“ von Eroberern ste… | |
für Kraft und Selbstzucht? | |
## Der Golem und das Pogrom | |
Solange das Plenum der Roten Flora nicht beschlossen hat, ihr Zentrum in | |
„Blonde Bestie“ umzubenennen, ist das wenig glaubhaft. Der aus der | |
jüdischen Sagenwelt stammende Golem schützte übrigens die Prager Juden vor | |
Pogromen. Als eine Allegorie des Bösen ist er ungeeignet. | |
Bei Marx steht er für das Proletariat, mit seinen dienenden wie auch | |
unberechenbaren Eigenschaften. Die Figur wäre daher ein hübscher Begriff | |
für den Aufstand selbst. Und wie nennt sich gleich ein Treffpunkt für die | |
anspruchsvollere linke Boheme in St. Pauli-Süd? Richtig: Golem. | |
Der Text auf Indymedia kann alles sein, die bekiffte Gewaltfantasie eines | |
pubertierenden Teenagers ebenso wie – angesichts einiger Anachronismen – | |
das Ventil eines frustrierten Rentners, Werk eines Provokateurs jedweder | |
Herkunft oder tatsächlich Ausdruck diffuser Militanz. Hätte man ihm nicht | |
medial diese immense Bedeutung aufgepfropft, könnte er als das ignoriert | |
werden, was er ist: Bullshit. | |
Sicher, er kann von Linken geschrieben worden sein, ein linker Text ist er | |
jedoch nicht. Repräsentativ für das Milieu, dem die polizeilichen Maßnahmen | |
in Hamburg gelten, ist er keinesfalls. Aber er ist ein hervorragendes | |
Werkzeug der Propaganda für den Ausnahmezustand. | |
10 Jan 2014 | |
## LINKS | |
[1] http://linksunten.indymedia.org/de/node/102039 | |
## AUTOREN | |
Volker Weiss | |
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