| # taz.de -- Anschlag auf Berliner S-Bahn-Netz: Losgelöste Militanz | |
| > Das Bekennerschreiben der Saboteure ist ein Armutszeugnis. Es zeigt, der | |
| > Szene fehlt es an Empathie, Theorie und Rückkopplung. | |
| Bild: Der Bevölkerung nicht zu vermitteln: verkohlte S-Bahn-Kabel in Berlin. | |
| BERLIN taz | Isländische Vulkane, die mit ihrer unbändigen Gewalt – allem | |
| technologischen Fortschritt zum Trotz – das öffentliche Leben zum Erlahmen | |
| bringen können, waren in der jüngeren Vergangenheit die Stichwortgeber | |
| großer militanter Sabotageaktionen gegen den öffentlichen Nahverkehr in | |
| Berlin. Bei drei Anschlägen in den Jahren 2011 und 2013 bezogen sich die | |
| Verursacher mit ihrer Namensgebung in den Bekennerschreiben auf die | |
| feuerspeiernde Berge Eyjafjallajökull, Hekla und Grimsvötn. | |
| Die Verursacher des jüngsten Brandanschlages auf einen Kabelschacht, der | |
| seit Mittwoch für Chaos im S-Bahn-Betrieb sorgt, verzichteten in ihrem | |
| [1][Schreiben] auf eine Fortführung dieser Praxis, obwohl sich durch den | |
| gleichzeitigen Ausbruch des Bardarbunga solch eine Möglichkeit geradezu | |
| aufdrängte. Die vermeintlichen Zündler nennen sich schlicht „Autonome | |
| Gruppen“. Man könnte das angemessen nennen, schließlich ist auch die | |
| Begründung, die der Aktion einen inhaltlichen Sinn verleihen soll, vor | |
| allem eines: schlicht. | |
| Als theoretischer, geradezu willkürlich gesetzter Bezugspunkt für ihre Tat | |
| müssen die Flüchtlinge herhalten, die im Kampf für ihre Rechte dieser Tage | |
| erneut das [2][Dach eines Hauses besetzt halten] und damit drohen, bei | |
| einem Polizeieinsatz zu springen. Weil deren Schicksal den Menschen egal | |
| sei, so die Logik des Textes, müsse ihnen Zeit gegeben werden, darüber | |
| nachzudenken. Zeit, die man angeblich gewinne, wenn keine Züge mehr fahren. | |
| Dabei verfängt sich die Argumentation in einem inneren Widerspruch, der | |
| zwar eine lange linke Tradition hat, von den Verfassern des Textes aber | |
| weder erkannt noch reflektiert wird. Es ist die Frage, welche Rolle die | |
| Massen in linker Theorie und Praxis spielen. Sind all jene, die einmal | |
| Proletariat genannt wurden, die Hoffnungsträger für gesellschaftliche | |
| Umwälzungen? Sind sie das revolutionäre Subjekt oder aber eine potenzielle | |
| Gefahr, gegen die eine kleine selbsternannte Avantgarde alle Verbesserungen | |
| erkämpfen muss? | |
| ## Nur eine Bestrafungsaktion? | |
| Die Verfasser des Bekennerschreibens stellen sich zunächst eindeutig auf | |
| die Seite jener, die das Volk verachten: „Die einfachen bürger*innen | |
| berlins und brandenburgs (...) sind es, die getroffen werden sollten“, | |
| heißt es unverblümt. Denn ihnen „fehlt (es) an betroffenheit für die dinge, | |
| die außerhalb der eigenen kleinen lebensrealitäten passieren“. Eine | |
| Argumentation, die eine Bestrafung legitimieren soll. | |
| Die Aussage, Opfer ihrer Tat seien nicht die „Armen“, sondern „eine reiche | |
| Gesellschaft“, passt in dieses Bild. Hier fehlt die Empathie für die | |
| Mehrheit der Menschen, die auch hierzulande nicht zwangsläufig auf der | |
| Gewinnerseite stehen. Und es fehlt das Verständnis dafür, dass gerade jene, | |
| die auf den öffentlichen Nahverkehr angewiesen sind, zu den Benachteiligten | |
| gehören. Gerade auch die Flüchtlinge und Migranten, auf die in dem | |
| Schreiben Bezug genommen wird, sind es, die sich keine andere Form von | |
| Mobilität leisten können. | |
| Paradoxerweise halten die Schreiber die naive Hoffnung aufrecht, mit der | |
| künstlich erzeugten Entschleunigung eine Bewusstseinsbildung anzustoßen: | |
| „Vielleicht nutzen ja die wartenden menschen an den bahnhöfen die zeit, um | |
| über die herkunft ihres wohlstandes nachzudenken, über die gründe, warum es | |
| ihnen möglich ist ohne ständige bedrohung durch mord und folter in ruhe zu | |
| leben.“ | |
| ## Nicht zu vermitteln | |
| Dass die Arbeiter und Angestellten, die auf ihrem morgendlichen Arbeitsweg | |
| behindert werden, Verständnis für die Autonomen und deren Anliegen | |
| aufbringen, ist jedoch ausgeschlossen, das zeigen schon die Reaktionen auf | |
| die Vorgängeraktionen. Die Verursacher des ersten großen Anschlages dieser | |
| Art, die im Mai 2011 mit einer Sabotage am Ostkreuz beträchtliche Störungen | |
| verursachten, haben dies in einem [3][Schreiben] drei Monate nach ihrer Tat | |
| konstatiert. | |
| Die Gruppe, die sich [4][“Das Grollen des Eyjafjallajökull“] nannte, | |
| schrieb damals: „Was die Vermittlung der Aktion angeht, hatten wir | |
| tatsächlich ein echtes Problem. Damit meinen wir nicht die inhaltliche | |
| Tatbegründung. Sondern den Umstand, dass wir die Menschen nicht direkt | |
| ansprechen konnten, um ihnen zu vermitteln, warum wir ‚ihnen das jetzt | |
| antun‘, sie derart aus dem Funktionieren herausreißen.“ | |
| Viel zu lernen war aus dieser Analyse dennoch nicht, denn sie betreibt | |
| Schönfärberei. Für die Vermittlungsprobleme wird eine | |
| Presseberichterstattung verantwortlich gemacht, die Verständnis für ihre | |
| Tat vermissen ließ. Ob die schreibenden Saboteure tatsächlich eine | |
| gegenteilige Hoffnung hatten – man kann es sich kaum vorstellen. Eine | |
| radikale, ja militante Linke, die sich bewusst außerhalb der | |
| gesellschaftlichen Ordnung stellt, aber auf Verständnis für derartige | |
| Aktionen hofft, liefert ein Armutszeugnis ab. Ein Zeugnis für ihre | |
| Realitätsferne – und ihre theoretische Schwäche in der Analyse | |
| gesellschaftlicher Zusammenhänge. | |
| ## Die Machtfrage wird nicht gestellt | |
| Selbst wenn es diesen Militanten darum ginge, die Machtfrage zu stellen und | |
| den Kampf gegen die herrschende Klasse aufzunehmen – was sie | |
| augenscheinlich nicht tun –, könnten sie sich auf einen Rückhalt in der | |
| befriedeten deutschen Gesellschaft nicht mehr stützen. Vorbei sind die | |
| Zeiten, in denen Anschläge der RAF oder RZ, die gegen die ökonomischen und | |
| politischen Eliten gerichtet waren, noch auf gelegentliche, überwiegend | |
| heimliche, Unterstützung stießen. Vor diesem Hintergrund zu glauben, heute | |
| seien die Menschen bereit, sich persönliche Entbehrungen von einer kleinen | |
| Minderheit aufzwingen zu lassen, ist mehr als vermessen. | |
| Die Gruppe „Hekla-Empfangskommitee“, die mit einem S-Bahn-Anschlag im | |
| Oktober 2011 auf sich aufmerksam machte, war in ihrem | |
| [5][Bekennerschreiben] wenigstens ehrlich genug, nichts mehr zu erwarten: | |
| „Wo es keine Alternative gibt, gibt es nichts mehr zu diskutieren oder | |
| einzufordern“, hieß es da. | |
| Es ist die Erkenntnis dessen, dass nichts mehr zu retten ist. „Die | |
| Katastrophe ist nicht, was kommt, sondern was da ist“, heißt es in der | |
| Kampfschrift [6][“Der kommende Aufstand“], von dessen Lektüre die Autonomen | |
| in Wort und Tat maßgeblich beeinflusst scheinen. Ein Buch als | |
| Untergangsszenario, eine Kampfschrift gegen die Dekadenz der Metropolen und | |
| die westliche Zivilisation per se, das sich an der Phantasie berauscht, | |
| Sand ins Getriebe zu streuen: „Alles blockieren ist deshalb der erste | |
| Reflex all dessen, was sich gegen die gegenwärtige Ordnung richtet.“ | |
| Mit dieser Haltung muss nicht mehr um Verständnis gebuhlt werden, sie ist | |
| einzig der Ausdruck der Hoffnung, dass es nach der Apokalypse besser wird. | |
| Anlass für diese Hoffnung besteht indes nicht. Denn anders als bei der | |
| Militanz vergangener Zeiten, die sozialen Bewegungen entsprang und in denen | |
| Bekennerschreiben mit diesen verknüpft und rückgekoppelt werden mussten, | |
| fehlt das unterstützende Milieu heute nahezu vollständig. Die vereinzelten | |
| „Revolutionäre“ agieren im luftleeren Raum, eine Debatte über ihr Tun, ü… | |
| die Begründungen ihres Handelns und ihrer Zielrichtung entfällt. Daher sind | |
| die Taten ziellos und haben noch weniger Potenzial an den | |
| gesellschaftlichen Verhältnissen zu rütteln als ein Vulkan auf Island. | |
| 29 Aug 2014 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://linksunten.indymedia.org/de/node/121501 | |
| [2] /Dachbesetzung-in-Berlin/!144953/ | |
| [3] http://linksunten.indymedia.org/node/45572 | |
| [4] http://linksunten.indymedia.org/node/40279 | |
| [5] http://linksunten.indymedia.org/de/node/48377 | |
| [6] http://www.boelters.de/Aufstand/der-kommende-aufstand.pdf | |
| ## AUTOREN | |
| Erik Peter | |
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