# taz.de -- Corona-Protest nach Leipzig-Demo: Sie radikalisieren sich weiter | |
> Corona-Protestler taten sich mit Neonazis zusammen. Einige Politiker sind | |
> alarmiert. Verfassungsschutz will breiter überwachen. | |
Bild: Schreien gegen die Corona Maßnahmen: sogenannte Querdenker in Leipzig | |
LEIPZIG/BERLIN taz | Die Jubelstimmung währte noch am Montag. Die | |
Corona-SkeptikerInnen von Querdenken 711 verkündeten, sie hätten in Leipzig | |
„friedlich und feiernd“ demonstriert. Man habe gezeigt, „dass staatliche | |
Repressionen nicht die Herzen der Menschen zerstören können“. Auch die | |
„Kriminalisierung“ verfange nicht: „Die Bewegung wächst immer weiter.“ | |
Nur: Friedlich waren die Proteste, zu denen mehr als 20.000 Menschen am | |
Samstag nach Leipzig kamen, eben nicht nur. Demonstrierende ignorierten | |
massenhaft Abstände und Mund-Nasen-Schutz, überrannten die Polizei, | |
[1][griffen JournalistInnen an], zündeten Pyrotechnik – und | |
[2][Rechtsextremisten aus dem ganzen Bundesgebiet reihten sich ein]. Und | |
auch die frohlockten. Das „Volk“ habe sich durchgesetzt, jubelte etwa | |
NPD-Funktionär Udo Voigt, der vor Ort war. „Freie Deutsche erheben sich | |
gegen die Corona-Zwangsmaßnahmen.“ | |
Es ist damit ein fatales Fazit, das nach Leipzig bleibt: Coronaleugner und | |
Rechtsextremisten im Schulterschluss – und der Staat weicht zurück. Die | |
zwei Gruppen, die zunehmend zu einer verschmelzen, können den Protesttag | |
als Erfolg verbuchen. Eine klare Distanzierung der „Querdenker“ von den | |
Neonazis jedenfalls blieb aus: Man könne nicht wissen und kontrollieren, | |
wer sich dem Protest anschließe, hieß es dort nur. Und auch die NPD sei ja | |
nicht verboten. | |
Der Schulterschluss von Leipzig markiert damit eine weitere Stufe der | |
Radikalisierung der Coronademonstrierenden. Eine, die einige Länder und | |
Sicherheitsbehörden mit Sorge sehen – während andere weiter zuschauen. | |
## „In Gänze verfassungsfeindlich“ | |
Am deutlichsten wird am Montag Stephan Kramer. „Der Corona-Protest | |
radikalisiert sich immer weiter“, sagt Thüringens | |
Verfassungsschutzpräsident der taz. „Wir sind an einem Punkt, an dem wir | |
prüfen müssen, ob die Bewegung nicht mehr nur durch Rechtsextremisten | |
beeinflusst wird, sondern in Gänze verfassungsfeindlich ist.“ Kramer | |
verweist nicht nur auf die Kooperation mit Rechtsextremisten in Leipzig: | |
„Den ganzen Protest durchziehen antisemitische Verschwörungstheorien, eine | |
staatsfeindliche Rhetorik und Widerstandsaufrufe.“ | |
Dazu kämen Demonstranten, die als „Covidjuden“ die Opfer des | |
Nationalsozialismus herabsetzen würden. „Das sind alles klare Anzeichen von | |
Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung.“ Kramer | |
warnte vor einem „Staatsversagen“, wenn darauf – wie in Leipzig oder Berl… | |
– nicht reagiert werde. | |
Auch aus anderen Ländern kommen Warnungen. Berlins Innensenator Andreas | |
Geisel (SPD) sagte bereits zuletzt, dass bei den Corona-Protesten „[3][der | |
Regelbruch und die Gewaltbereitschaft zunehmen]“. „Das können wir nicht | |
akzeptieren.“ NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) warf Teilen der Bewegung | |
vor, „aggressiv populistisch“ aufzutreten und zu versuchen, demokratische | |
Entscheidungen zu diskreditieren „oder sogar das Vertrauen in die | |
politische Ordnung zu erschüttern“. | |
## Seehofer und Wöller schweigen zu Neonazis | |
In Sachsen hatten Ministerpräsident Michael Kretschmer und Innenminister | |
Roland Wöller, beide CDU, nach der Leipziger Corona-Demonstration die | |
Übergriffe und Rechtsextremisten [4][mit keinem Wort erwähnt]. Auch | |
Bundesinnenminister Horst Seehofer tat dies nicht. „Wir müssen damit | |
aufhören, die Taktik der Polizei im Nachhinein und ohne Kenntnis von | |
Details und ohne vollständiges Bild per Ferndiagnose zu hinterfragen“, | |
verteidigte der CSU-Mann nur den Einsatz. Die Polizei habe seine „volle | |
Rückendeckung“. | |
Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) zeigte sich über die | |
Aussagen konsterniert. Hooligans und Neonazis hätten doch versucht, | |
Polizeisperren zu durchbrechen, sagte er dem MDR. Gerade der sächsische | |
Innenminister sei darüber im Bild. „Ich bin fassungslos, weil Wöller ja | |
offensichtlich im Lagezentrum war und von den Übergriffen aus erster Hand | |
erfahren hat.“ | |
Und auch im Vorfeld war das Innenministerium informiert. Bereits vor dem | |
Wochenende hatte der sächsische Verfassungsschutz vor der Teilnahme von | |
Rechtsextremisten an dem Leipziger Corona-Protest gewarnt: In der Szene | |
werde bundesweit und „massiv“ mobilisiert. Verfassungsschutzchef | |
Dirk-Martin Christian fürchtete, „dass aus einem Nebeneinander mit | |
Rechtsextremisten ein Miteinander entstehen kann, das unsere Demokratie | |
zunehmen aushöhlt“. Am Montag hieß es aus dem Amt, die Befürchtungen hätt… | |
sich bestätigt. Die Vorgänge am Samstag würden nun „intensiv ausgewertet�… | |
## Verfassungsschutz warnt vor „schwersten Gewalttaten“ | |
Auch andere Verfassungsschutzämter haben den Corona-Protest inzwischen im | |
Visier. Schon vor Wochen konstatierte in Baden-Württemberg, einer der | |
Hochburgen des Protests, das Landesamt, dass auf den Kundgebungen | |
Verunglimpfungen von PolitikerInnen und Diffamierungen des Rechtsstaat als | |
Diktatur „immensen Anklang“ fänden. Zusammen mit Verschwörungsnarrativen | |
berge dies eine „Gefahr für die Radikalisierung einzelner | |
Demonstrationsteilnehmer“. | |
Auch der Verfassungsschutz NRW vermerkt aktuell, dass die rechtsextreme | |
Szene nicht mehr eigene Veranstaltungen organisiere, sondern „über | |
zahlreichen Kanäle“ zu den Corona-Protesten mobilisiere. Auch hier wird vor | |
einer „unheiligen Allianz aus Verschwörungsnarrativen und extremistischen | |
Einstellungen“ gewarnt. Es bestehe die Gefahr, dass „eine Radikalisierung | |
Einzelner ausgelöst wird, die dann auch zu schwersten und zu | |
terroristischen Gewalttaten führen kann“. | |
Tatsächlich spitzten sich zuletzt Aktionen zu. Schon in Berlin hatten | |
Rechtsextreme Ende August den Corona-Protest genutzt, [5][um die | |
Reichstagstreppen zu stürmen]. In Thüringen stellten Corona-Gegner | |
Ministerpräsident Bodo Ramelow ein Grablicht vor die Privatwohnung. In | |
Nürnberg kursierte in einer Chatgruppe eine Sprengstoffanleitung. In Minden | |
wurde eine Puppe mit einem „Covidpresse“-Schild stranguliert aufgehängt. | |
Und in Berlin flogen [6][Brandsätze auf das Robert-Koch-Institut], ein | |
Sprengsatz explodierte in der Nähe der Leibniz-Gemeinschaft. Neben | |
letzterem lag ein Bekennerschreiben, in dem die sofortige Beendigung aller | |
Corona-Maßnahmen gefordert wurde. | |
## Berliner Polizei zählt 775 Straftaten bei Corona-Protesten | |
Die Berliner Polizei führt inzwischen intern Statistik. In einer | |
Auflistung, die der taz vorliegt, werden zu allen Coronaprotesten seit März | |
775 Straftaten notiert, darunter 197 Widerstandshandlungen und 97 tätliche | |
Angriffe gegen PolizistInnen. 21 Mal kam es zu besonders schwerem | |
Landfriedensbruch, 20 Mal zu Gefangenenbefreiungen, 14 Mal zu gefährlicher | |
Körperverletzung. Friedlicher Protest? Eher nicht. | |
Ein Sprecher von Kanzlerin Angela Merkel wird am Montag denn auch | |
deutlicher. Er spricht von „Extremisten, Chaoten, gewaltbereiten Menschen“, | |
die nach Auflösung der Corona-Demonstration in Leipzig aktiv gewesen seien. | |
Die Angriffe auf JournalistInnen und PolizistInnen verurteilt er auch. | |
Der Sprecher Seehofers beharrt dagegen darauf, dass der Corona-Protest | |
„sehr heterogen“ sei. Extremisten träten zwar zunehmend offener auf, würd… | |
die Bewegung aber „nicht vollständig“ instrumentalisieren. Und, so der | |
Sprecher nun: Wer Angriffe auf Pressevertreter ausübe, „vergeht sich an | |
unserer Verfassung“. | |
## „Querdenker“ setzen Aktionen fort | |
Die „Querdenker“ machten am Montag dagegen ungerührt weiter. Sie riefen | |
dazu auf, massenhaft in den Büros von Bundestagsabgeordneten anzurufen, um | |
gegen das geplante Infektionsschutzgesetz zu protestieren. Gleichzeitig | |
sollte der Präsident des Leipziger Amtsgerichts mit | |
Dienstaufsichtsbeschwerden überzogen werden, weil er vor dem Leipziger | |
Protesttag angekündigt hatte, bei Straftaten „mit aller Härte“ vorgehen zu | |
werden. | |
Rechtsextreme mobilisierten derweil wieder nach Sachsen, diesmal nach | |
Dresden, zum allmontäglichen Pegida-Aufzug. Auftreten sollte dort der | |
frühere AfD-Rechtsextremist Andreas Kalbitz, auf dem zentralen Altmarkt – | |
just am 9. November, dem Jahrestag der NS-Pogromnacht. Oberbürgermeister | |
Dirk Hilbert (FDP) erklärte, dagegen keine rechtliche Handhabe zu haben. | |
9 Nov 2020 | |
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## AUTOREN | |
Konrad Litschko | |
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