# taz.de -- Was von Trump bleibt: Wahn und Wirklichkeit | |
> Das vorläufige Ende der Trump-Ära hat uns eine geschichtliche Atempause | |
> verschafft. Die müssen wir nutzen, um zu verstehen, was da geschah. | |
Bild: Donald Trump geht, aber das Gespenst des Trumpismus zieht weiter um in de… | |
Die kluge Marilyn Monroe hat bei der antikommunistischen Hexenjagd den | |
Typus ihrer Verfolger treffend beschrieben: „halbfaschistischer | |
Hampelmann“. Einen, den man mit Fug eine Apotheose des halbfaschistischen | |
Hampelmanns nennen kann, scheint die Welt gerade loszuwerden. Uffa! Noch | |
mal gut gegangen. Keine weiteren vier Jahre Lügen, Hetze, Narzissmus und | |
schiere Blödheit. Oder? | |
Es bleibt ja dieser fiese Nachgeschmack: Fast die Hälfte der amerikanischen | |
Wähler*innen haben sich aus all dem, was sich [1][Donald Trump] in seiner | |
Regierungszeit zuschulden hat kommen lassen, nichts gemacht. Sie wollten | |
mehr davon! Der Trumpismus als postpostdemokratische Episode des | |
Niedergangs wird den USA und dem Rest der Welt bleiben. Und bei uns? | |
AfD-Wähler*innen, Coronaleugner*innen, | |
[2][Verschwörungsfantast*innen], Rassist*innen und toxischer | |
Chauvinismus, wo man hinsieht. Von klammheimlicher Zustimmung zu alledem | |
ganz zu schweigen. Wir waren doch schon einmal so viel weiter auf dem Weg | |
zu Aufklärung, Humanismus, Gerechtigkeit und Toleranz! Hat jedenfalls ein | |
Teil der betroffenen Gesellschaften geglaubt. | |
Ein beunruhigend großer Teil unserer Mitmenschen scheint entschlossen, | |
Personen, Ideen, Bewegungen zu folgen, die weder rational zu erklären noch | |
moralisch zu rechtfertigen sind. Besonders erschreckend ist das, wenn man | |
Menschen, denen man lange freundschaftlich verbunden war, sozusagen über | |
Nacht an eines dieser antirationalen und antiethischen Milieus verliert. | |
Der Bruch mit der großen Erzählung von Demokratie und Rechtsstaat, | |
Aufklärung und Humanismus, Wirklichkeit und Wissenschaft geht mitten durch | |
die Familien, die Nachbarschaften, die Arbeitswelten, die Vereine. Oft ist | |
dieser Bruch so fundamental, dass es kaum zur Versöhnung kommen kann. | |
Ich persönlich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, mich mit jemandem noch | |
einmal an einen Tisch zu setzen, der von jüdischen Weltverschwörern mit | |
5G-Strahlen raunt, die soziale Verantwortung von Maske und Abstand zur | |
„Diktatur“ erklärt oder es für notwendig hält, auch auf Kinder zu schie�… | |
um „illegale Einwanderer“ abzuschrecken. Und ich erwarte auch keine | |
Versöhnungsangebote von der anderen Seite. Aber mit einer Definition der | |
Bruchlinie ist es nicht getan. Wir hinterlassen unseren Nachkommen nicht | |
nur einen Planeten in Gefahr und eine Gesellschaft in Auflösung, sondern | |
auch Erzählungen, Wissen und Bilder. Auch um die lohnt es sich zu kämpfen. | |
Und wenn uns die Weltgeschichte mit dem vorläufigen Ende der Trump-Ära eine | |
Atempause verschafft, dann muss die auch für Versuche genutzt werden, zu | |
verstehen, was da geschah. | |
Es gibt die Wahrheit des Materialismus, die Karl Marx in „Die heilige | |
Familie“ formulierte: „Die ‚Idee‘ blamierte sich immer, soweit sie von … | |
‚Interesse‘ unterschieden war.“ Tatsächlich erweist sich immer wieder, d… | |
hinter ideologischem Getöse nichts als egoistisches Interesse zum Vorschein | |
kommt. Daraus lässt sich für die Defekte dieser Zeit eine einfache | |
Richtlinie ableiten: Folge der Spur des Geldes! Universaler lautet das | |
Credo: It’s the economy, stupid! Aber das lässt sich auch umkehren: It’s | |
the stupidity, economist! Das (ökonomisch-egoistische) Interesse erzeugt | |
unter Druck eine so fundamentale Form der Dummheit, dass sie sich sogar | |
gegen das eigene Interesse wendet. | |
Umkehren lässt sich vielleicht auch der Marx-Satz: „Das ‚Interesse‘ | |
blamiert sich oft, wenn ihm die Idee in die Quere kommt.“ Insofern sich als | |
„Idee“ eine Abbildung tieferer Leidenschaften verstehen lässt: Begehren, | |
Hass oder Angst. Materialistische Rationalist*innen können nur den Kopf | |
schütteln angesichts des Verhaltens von Menschen, die sich so entgegen den | |
eigenen Interessen verhalten. Zum Beispiel in Wahlkabinen oder auf | |
Straßenevents. Und was ist mit Autor*innen, Fernsehköch*innen, | |
Kabarettist*innen, Schauspieler*innen, Wissenschaftler*innen et | |
cetera, die ihre Verträge aufs Spiel setzen, nur um bösartige politische | |
Phantasmen zu verfolgen? Interesse (die Hoffnung, Aufmerksamkeit zu Geld zu | |
machen) oder doch Idee (die Ansteckungsgefahr skrupelloser Entwirklichung)? | |
Man könnte also neben der Spur des Geldes auch der der Angst folgen. | |
Natürlich gibt es auch immer wieder Punkte, an denen beides zusammenkommt. | |
Der [3][Rassismus der deutschen Rechten] basiert auf handfesten | |
ökonomischen Interessen und zugleich auf dem sozialen Erbe von Angst- und | |
Hassenergien. Die Angst im Neoliberalismus reduziert sich auf ein Thema: | |
die eigenen Verluste. Verlust an Karriere, Verlust an Freiheit, Verlust an | |
Sex und Macht, Verlust an Spaß. So wie man im Krieg, wie einst eine | |
berühmte Krankenschwester erkannte, beobachten kann, dass die Gier zu töten | |
größer ist als die Angst vor dem Sterben, so erscheint in unserer Gegenwart | |
die Gier, möglichst viel vom Kuchen abzubekommen, größer als die Angst, er | |
könnte vergiftet sein. | |
Wer sich so sehr gegen ein „vernünftiges“ Maß an Interesse sträubt, der | |
braucht Idee, Ideologie, Phantasma – mehr noch: Wahn als Rechtfertigung. | |
Nicht weil einer an eine Ideologie glaubt, tut er alles, um sich einen | |
kurzfristigen Vorteil zu sichern, sondern im Gegenteil: Weil jemand um | |
jeden Preis auf einen kurzfristigen Vorteil aus ist, sucht er oder sie sich | |
eine Ideologie, die genau das erlaubt. Aber die Ideologie, die sich aus | |
Gier und Angst zusammensetzt, verselbständigt sich: Interesse und Idee | |
verknäueln sich unauflöslich. | |
Die halbfaschistischen Hampelmänner dieser Welt machen es vor, wie gut man | |
das Interesse in der Ideologie und die Ideologie im Interesse verbergen | |
kann, wenn es nur gelingt, Gier und Angst in „Überzeugung“ zu verwandeln. | |
Dann kann man in der Tat auf Vernunft und Moral verzichten. Auf | |
Wirklichkeit sowieso. Donald Trump ist fort, aber das Gespenst des | |
Trumpismus geht weiter um in der Welt. | |
11 Nov 2020 | |
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## AUTOREN | |
Georg Seeßlen | |
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