# taz.de -- Zwei Theaterpremieren in Berlin: Die Not transzendieren | |
> Was passiert, wenn Schauspieler Soldaten werden? Danach fragen Künstler | |
> in der Schaubühne in Berlin. Wie ändert sich Kunst in Zeiten des Kriegs? | |
Bild: Oleh Stefan vom Left Bank Theatre Kyiv an der Berliner Schaubühne | |
Die Schaubühne in Berlin eröffnet mit dem dokumentarischen Stück „Sich | |
waffnend gegen eine See von Plagen“ des ukrainischen Regisseurs Stas | |
Zhyrkov über den Krieg in seiner Heimat die Saison und wirft dabei vor | |
allen einen Blick auf Frontlinien. Im Berliner Ensemble erkundet [1][Luk | |
Perceval] in einer Bearbeitung des Romans „Exil“ von Lion Feuchtwanger | |
hingegen die Abgründe der Ferne von der Heimat. | |
Beide Produktionen belegen, dass Theater selbst dann zeitgenössisch sein | |
kann, wenn die Zeitgenossenschaft einem angesichts der Kriege hier, der | |
Gräueltaten da und eines sich immer mehr erhitzenden Globus viel | |
abverlangt. In der Schlusssequenz von „Exil“ wird sogar in den Raum | |
gestellt, dass es in der größten Not erst die Kunst ist, die die Not auch | |
transzendiert und den leidenden Menschen überhaupt zum gesellschaftlichen | |
Wesen macht. | |
[2][Lion Feuchtwanger ließ in seinem Roman „Exil“] den aus München vor den | |
Nazis geflohenen Komponisten Sepp Trautwein in der Pariser Emigration erst | |
dann zu sich kommen, als er die elenden Zustände des Wartens auf | |
Bescheinigungen zum Arbeiten, zum Weiterfliehen, zum Überleben überhaupt in | |
eine Sinfonie über das Warten überführen konnte. Da sitzt der von Oliver | |
Kraushaar als bayrischer Polterkopf angelegte Tonsetzer am Bühnenrand und | |
lässt all das, was in diesem sehr episch angelegten Abend erzählt wurde, zu | |
Klängen kondensieren. | |
## Vom Theater zur Armee gemeldet | |
Im Westen Berlins, am Ende des Ku’damms, befragte zur gleichen Zeit ein | |
ukrainisch-deutsches Ensemble aus Mitgliedern des [3][Left Bank Theatre | |
Kyiv] und der Schaubühne, was Künstler in Kriegszeiten überhaupt tun | |
können. Left-Bank-Intendant Stas Zhyrkov verzichtete dabei völlig auf eine | |
rhetorische Fragepose. Er interviewte stattdessen ganz direkt | |
Schauspielkollegen, die sich von der durch den russischen Angriffskrieg | |
geschlossenen Bühne direkt zur Armee gemeldet haben. | |
Ihre Interview-Aussagen werden von Oleh Stefan und Dmytro Oliinyk, zwei | |
nach Berlin gekommenen Ensemblekollegen des Left Bank Theatre, sowie | |
Schaubühnenensemblemitglied Holger Bylow szenisch umgesetzt. | |
Stefan und Oliinyk treibt dabei auch die Frage um, warum sie hier und die | |
anderen dort sind. Sie, und alle anderen, denen es vielleicht ähnlich geht, | |
werden von einem, der an der Front ist, maximal entlastet. „Nicht alle | |
müssen zur Armee, das ist überhaupt nicht notwendig“, teilt Wowa | |
Krawtschuk, Schauspieler des Left Bank Theatre, in seiner Soldatenkluft | |
per Videointerview mit. | |
Krawtschuk spricht auch über seine Zweifel, über seine Auseinandersetzung | |
mit der Vorstellung vom eigenen Tod und der Vorstellung, andere töten zu | |
müssen, ja, sie töten zu wollen. Auseinandersetzungen dieser Art findet man | |
natürlich in der klassischen Dramenliteratur. Hier aber führt sie ein | |
Mensch von heute, einer, der Schauspiel studiert, in Komödien und Dramen | |
aufgetreten ist. Das macht es anders, direkter und verstörender zugleich. | |
Krawtschuk schlägt auch noch andere Volten. Er entheroisiert das Militär, | |
indem er verschiedene Kriegertypen vorstellt, den Nato-Supersoldaten etwa, | |
der sich von der Frau im Ausland die tollsten Ausrüstungsstücke zuschicken | |
lässt und wie ein Robotersoldat über das Schlachtfeld stolziert. Überhaupt | |
sind Ausrüstungsfragen in den Berichten der zu Soldaten gewordenen | |
Schauspieler von Humor geprägt. Stefan, Oliinyk und Bülow überhöhen das | |
Ganze noch, indem sie statt des soliden Schuhwerks dann Pumps anziehen, | |
statt der langen dicken Unterhosen glitzernde Slips überstreifen oder sich | |
in Ponchos und Sombreros hüllen. | |
Erschreckende Szenen haben Regisseur Stas Zhyrkow und Dramaturg Pavlo Arie | |
ebenfalls eingebaut. Die Tonspur von Telefonaten, die laut Unterzeile | |
russische Soldaten mit ihren Frauen und Freundinnen geführt haben und die | |
der ukrainische Geheimdienst auffing, wird über die Lautsprecher des | |
Theaters ausgegeben. Da sind Männerstimmen zu hören, die ihren Frauen von | |
Vergewaltigungen erzählen und noch um Erlaubnis dafür bitten. | |
Die Authentizität des Tonbands kann man vom Theatersitz aus nicht | |
verifizieren. Deutlich wird, dass man sich eben auch in einem Kriegstheater | |
befindet, einem, das Stellung nimmt – und das das Stellungnehmen auch in | |
den Zuschauerraum ausweitet. | |
## Die Sache mit der Nationalität | |
Aber auch andere Töne werden angeschlagen. In einer autobiografischen | |
Skizze zu Beginn wirft Stefan Schlaglichter auf das | |
Nationalitätendurcheinander im postsowjetischen Riesenreich. Bei ihm stand | |
Russe im Ausweis, weil auch beim Vater Russe stand. Der war aber | |
ursprünglich Moldawier, die Mutter hingegen Ukrainerin. Seine | |
Muttersprache, die, mit der er aufwuchs, trotz einer Wochenstunde | |
Ukrainisch in der Schule, war Russisch. Jetzt ist er Ukrainer, Punkt. Auch | |
das machen Kriege. | |
Um Fragen der Identität kreist auch „Exil“, die Saisoneröffnungspremiere … | |
Berliner Ensemble. Was ist der Mensch in der Fremde noch, was kann er sein? | |
Trautwein, der Komponist, ist im Exil vor den Nazis Hilfslehrer an der | |
Musikschule. Er steigert sich zudem in den Journalistenberuf bei einer | |
Emigrantenzeitung in Paris hinein. Seine Frau Anna ist lebenspraktischer, | |
sie organisiert das Durchkommen. Auch sie merkt aber die Entfremdung. „Eine | |
Arbeitskarte ist mir wichtiger als deine Musik“, sagt sie als Quintessenz | |
des Nichtmehrseins, was man einmal war. | |
Die Inszenierung von Luc Perceval braucht etwas Zeit, bevor sie Fahrt | |
aufnimmt. Im Schatten eines aus vielen Stühlen gebauten Eiffelturms | |
entfaltet er die vielen narrativen Stränge des Romans: Intrigen zwischen | |
den Emigranten, aber auch das subversive Tun der NS-Gesandten in Paris, | |
denen die Emigrantenzeitung ein Dorn im Auge ist. | |
## Kammerspiel ums Überleben | |
Nach der Pause, wenn die vielen Erzählfäden endlich ausgelegt sind, | |
verdichtet sich die Inszenierung zu einem mit bedingungsloser Härte | |
ausgefochtenen Kammerspiel ums Überleben. Keinen Ausweg mehr sieht Anna. | |
Wie sie stirbt, wie sie sich selbst das Leben nimmt, vor allem angesichts | |
der Sprachlosigkeit zwischen ihr und dem einst geliebten Partner, das | |
spielt Pauline Knof in einer Dringlichkeit, die tief in jedes Herz geht. Es | |
ist der emotionale Höhepunkt des Abends. | |
Und ohne dass Perceval sein Ensemble explizite Anspielungen auf die Ukraine | |
machen lässt, drängen sich unweigerlich Gedanken über jene auf, die sich | |
jetzt im Exil befinden, wieder in Paris unter dem Eiffelturm, aber auch | |
hier unter dem Fernsehturm ganz in der Nähe des Theaters. „Exil“ wird damit | |
zum Komplementärabend von „Sich waffnend gegen eine See von Plagen“. | |
Künstlerisch ist Percevals Inszenierung viel stärker durchgearbeitet, viel | |
aufwendiger produziert auch. Sie hätte schon viel früher draußen sein | |
sollen, war lange vor dem russischen Angriffskrieg geplant und ist durch | |
die Pandemie verschoben worden. Jetzt wird sie zum Analysestück zu | |
aktuellen Exilsituationen. Zhyrkows Produktion hingegen ist schnell | |
hingeworfen, brandaktuell, und geht trotzdem in die Tiefe. | |
Dass in „Exil“ der Komponist aus all dem Leiden noch ein Werk schafft, kann | |
man einerseits als Trost betrachten. Andererseits ist es auch ein sehr | |
bitterer Kommentar zum künstlerischen Produktionsgeschäft: Erst aus dem | |
Suizid der eigenen Frau schöpft der Mann die Kraft zum Tönesetzen. Viel | |
Stoff zum Denken. | |
14 Sep 2022 | |
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## AUTOREN | |
Tom Mustroph | |
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