| # taz.de -- Kleist an der Schaubühne Berlin: Mensch bleiben im Krieg | |
| > Wie soll man als Soldat im Krieg nicht verrückt werden? Um diese Frage | |
| > kreist Jette Steckels Inszenierung vom „Prinz von Homburg“in Berlin. | |
| Bild: Szene aus Jette Steckels „Prinz von Homburg“, mit Bastian Reiber (l.)… | |
| Prinz Friedrich von Homburg erschießt sich in der Berliner Schaubühne. | |
| Regisseurin Jette Steckel greift hier massiv ins Kleistsche Ouevre ein. | |
| Denn [1][Heinrich von Kleist] lässt Friedrich von Homburg am Ende des | |
| gleichnamigen Stückes nur in Ohnmacht fallen. So erleichtert ist er, dem | |
| vom Kriegsgericht verhängten Todesurteil entronnen zu sein. Und dann wird | |
| „sein“ Sieg in der Schlacht gefeiert – und den im Traum heiß ersehnten | |
| Lorbeerkranz bekommt er auch. | |
| [2][Jette Steckels Homburg] hingegen schleudert dem Kurfürsten nach seiner | |
| plötzlichen Begnadigung seine gesammelte Verachtung für den Soldatenstand | |
| entgegen (es sind Kleists eigene Erfahrungen, die hier ins Stück eingefügt | |
| werden). Dann wirft er den soeben erhaltenen Lorbeerkranz von sich, nimmt | |
| die Pistole und bringt sich um. | |
| Es ist das konsequente Ende einer Inszenierung, die sonst nah an Kleists | |
| Text bleibt, aber das Setting verändert. Steckel verlässt den geschützten | |
| Rahmen des Kammerspiels und setzt Kleists ProtagonistInnen der Front aus. | |
| Bühnenbildner Florian Lösche greift Kleists erste Regieanweisung einer | |
| Rampe, die vom Schloss in den Garten führt, auf. Aber die riesige Rampe, | |
| die er auf die Bühne stellt, ist komplett bedeckt mit gefüllten schwarzen | |
| Plastiksäcken. | |
| Ganz am Anfang lässt Steckel den Prinzen von Homburg mit einer MG auf dem | |
| Schlachtfeld stehen. Er erschießt sein feindliches Gegenüber, um selbst zu | |
| überleben, und leidet darunter, den anderen langsam sterben zu sehen. | |
| Steckel fügt dem Kleistschen Schauspiel also am Anfang und am Schluss der | |
| Inszenierung eine eigene inhaltliche Setzung hinzu. Von dieser | |
| Kommentar-Klammer aus wird über die Figur des Prinzen von Homburg | |
| nachgedacht. | |
| ## Verrückt werden | |
| Renato Schuch stattet seinen Homburg mit einer berührenden Fragilität aus. | |
| Wenn er geht, scheint es, als würde ihn eine unsichtbare Last nach unten | |
| drücken. Sein Homburg steht für den Menschen, der in den Krieg geworfen | |
| wird und [3][versucht Mensch zu bleiben]. Mit dem Blick eines gehetzten | |
| Tieres exerziert er und führt alle vor, die am Krieg nicht verrückt werden. | |
| Trotzdem fährt er einen Sieg ein, weil er schnell und richtig reagiert hat, | |
| und wird für sein eigenmächtiges Handeln zum Tode verurteilt. Da rollt er | |
| sich wie ein übergroßer Embryo ein in den Schoß der Kurfürstin. | |
| Steckel gelingt es, in den 150 Minuten Spieldauer kurze einprägsame Szenen | |
| zu modellieren, die wie Gemälde (nach)wirken. Elementar für diesen | |
| Gesamteindruck ist die sensible Lichtregie von Erich Schneider, die | |
| nuanciert exakte Stimmungsbilder kreiert. Und das punktgenaue Spiel des | |
| Ensembles. | |
| Das fällt besonders auf in den Schlüsselszenen, z.B. als der Kurfürst | |
| begreift, dass es Homburg ist, den er dem Kriegsgericht überantworten muss. | |
| Axel Wandtke legt in die Augen des Kurfürsten ein ins Mark treffendes, nach | |
| Innen gerichtetes Erschrecken, bevor er dem Prinzen den Degen abnimmt. Und | |
| Schuchs Homburg – sein Gesicht ist ein einziges Fragezeichen – händigt ihm | |
| eine MG aus. | |
| Steckel verschränkt produktiv zwei Zeitebenen: so trifft die Kleistsche | |
| Spiegelung einer Realität vor mehr als 200 Jahren auf den Versuch einer | |
| Annäherung an das Kriegsgeschehen der Gegenwart. Unwillkürlich denkt man | |
| beim Anblick der schwarzen Bühnenrampe an die Schwarzerde der Ukraine. | |
| Die SchauspielerInnen rennen gebückt querfeldein drüber. Sie hängen im | |
| Schützengraben ab und rollen wie tot die Rampe herunter. Frontgeräusche | |
| werden sparsam eingesetzt, genauso wie der verstörende Klangteppich, der | |
| sogar den Nussknacker zitiert. Es entsteht eine Unmittelbarkeit, die den | |
| Abend trägt und einen stark bewegt. Ein starker nachdenklicher Kommentar | |
| ins Reale hinein. | |
| 17 Nov 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Katja Kollmann | |
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