| # taz.de -- Georgisches Leben im Thalia Theater: Unschärfe der Erinnerung | |
| > Frauenfreundschaft: Jette Steckel hat am Thalia Theater Hamburg „Das | |
| > mangelnde Licht“ nach einem Roman von Nino Haratischwili inszeniert. | |
| Bild: „Das mangelnde Licht“ (Nino Haratischwili) in einer Inszenierung von … | |
| Sie küssen und sie schlagen sich. Sie rauchen eine, beruhigen sich und | |
| brüllen sich an. Sie sind in einer Paarhölle voll Misstrauen und Begehren: | |
| Maja Schöne und Ole Lagerpusch als Dina Pirveli und Rati Kipiani. Ihr | |
| Spiel, ihr Kampf ist untermalt von der Hitparade der Liebe: Meat Loafs „I | |
| would do anything for love“ dröhnt laut und, auf dem Höhepunkt der Gewalt, | |
| Haddaways „Baby don’t hurt me“. Das ist zynisch und wirkungsvoll. | |
| [1][Jette Steckel] inszeniert bereits zum dritten Mal einen Roman von | |
| [2][Nino Haratischwili.] Es sind ganze Epochen erzählende Bücher, die die | |
| gebürtige Georgierin schreibt. Alle sind sie eng verflochten mit der | |
| wechselvollen Geschichte ihrer Heimat. | |
| „Das achte Leben“, 2017 am Thalia Theater uraufgerührt, ist eine durch alle | |
| Revolutionen und Kriege des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart ragende | |
| Saga, [3][„Die Katze und der General“] – 2018 erschienen, 2019 auf der | |
| Bühne – schlägt den Bogen von den Tschetschenien-Kriegen über die Welt der | |
| Oligarchen bis ins heutige Berlin. „Das mangelnde Licht“ erschien | |
| zeitgleich zu seiner fast fünfstündigen Uraufführung am Thalia Theater. | |
| Darin geht es um eine Frauenfreundschaft, die in den Hinterhöfen von Tiflis | |
| ihren Anfang nimmt. | |
| Gewalt und organisierte Kriminalität sind dauerpräsent im Leben von Qeto | |
| (Lisa Hagmeister), Dina (Maja Schöne), Nene (Rosa Thormeyer) und Irine | |
| (Fritzi Haberlandt als Gast am Thalia). Außerdem: Träume, erste Küsse und | |
| Partys, arrangierte Ehen, Drogen und karierte Tischtücher und immer: | |
| patriarchale Patriarchen. | |
| ## Vier Teenager in den 90ern | |
| Die vier Teenager der 1990er Jahre sind überfordert von sich selbst und von | |
| einer quecksilbrigen Zeit, in der Georgien seine Unabhängigkeit erlangt | |
| (1991). Eine Zeit geprägt von Clan-Strukturen, Kalaschnikows, Panzern und | |
| einem Staat, der keine Sicherheit mehr garantiert. Die Parallelen zur | |
| Gegenwart sind da. Explizit werden sie in Steckels Inszenierung nicht. „Die | |
| Zeiten schieben sich wie Vorhänge ineinander“, heißt es einmal im Text. | |
| Gerahmt werden Roman und Inszenierung von einer Vernissage in Brüssel im | |
| Jahre 2019. Denn eine der Freundinnen (Dina) war Fotografin geworden, auch | |
| Kriegsreporterin. Doch irgendwann hielt sie das Leben nicht mehr aus und | |
| brachte sich schließlich um. Für die Erzähl-Retrospektive hat der | |
| Bühnenbildner Florian Lösche eine schlüssige Übersetzung gefunden. | |
| Seine bunt verpixelten Stellwände erzählen von der Unschärfe der | |
| Erinnerung. Die zahlreichen dokumentarischen Schnipsel, Nachrichten, | |
| Straßenszenen und Regierungserklärungen (Video: Zasa Rusadze), bekommen | |
| darauf projiziert die nötige Patina. Klar, dass sich die Wände außerdem | |
| drehen und zusammenschieben lassen zu Galerien oder Gassen, zu Zimmern oder | |
| aufgeklappten Büchern – ein Effekt, der sich allerdings schnell leer läuft. | |
| ## Leben im Fast-Forward-Modus | |
| Jette Steckel inszeniert den Roman chronologisch, mit realitätstreuer | |
| Beflissenheit. Im Fast-Forward-Modus lässt sie die vier Frauen aufwachsen. | |
| Die Kostümbildnerin Sibylle Wallum steckt sie zunächst in | |
| Polyester-Skianzüge mit baumelnden Fäustlingen, später werden die Röcke | |
| kürzer und die Stiefeletten hochhackiger – die Vernissage-Outfits sind dann | |
| erwachsen schwarz. | |
| In kurzen Spielszenen tauchen die zehn Darsteller*innen ein in das | |
| Leben der Figuren, skizzieren die Charaktere oder streiten am Küchentisch | |
| (Karin Neuhäuser und Barbara Nüsse) über Politik. Alle und alles sind fast | |
| ständig in Bewegung: Die Bühne dreht sich, die Wände verschieben sich, die | |
| Figuren suchen sich ihren Weg, tanzen, dealen, picknicken, vergewaltigen, | |
| schießen oder knattern mit dem Moped. | |
| Mark Badur untermalt musikalisch, mindestens aber akustisch nahezu jede | |
| Szene. Am ehrlichsten dröhnt aus dieser Atmo-Masse heraus noch der | |
| Generator, mit dem die regelmäßigen Stromausfälle im Land überbrückt werden | |
| müssen. | |
| ## Permanent Bilder und Videos | |
| Gelingt Steckel anfangs eine ruhige Annäherung an die Figuren, werden ihre | |
| Mittel im Laufe des Abends immer drastischer. Da wird aus allen Räumen und | |
| Ecken hysterisch geschrieen oder plump gegockelt, werden Drohungen stets | |
| mit gepresster Stimme ausgesprochen, Unheilsmeldungen extra kühl | |
| dargebracht und immerzu Bilder und Videos projiziert. | |
| Der Abend erinnert an einen dokumentarischen Dauerlauf voller | |
| Re-enactements, produziert für phoenix in der Primetime. Im Materialmeer | |
| geht der Fokus auf die Frauenfiguren unter und damit auch auf das, wofür | |
| sie eintreten: War es Moral, Freiheit, Treue, Vertrauen, Selbstbestimmung, | |
| Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, Rache, Freude, Liebe, Leben oder Rausch? Das | |
| Ende jedenfalls kommt ohne happy. Und mit „mangelndem (Hinterhof)licht“. | |
| 1 Mar 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Katrin Ullmann | |
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