# taz.de -- Wölfe in Deutschland: Er kommt uns näher, immer näher | |
> Die Rückkehr des Wolfs ist ein Erfolg für den Naturschutz. Aber wollen | |
> wir, dass hier Raubtiere leben, die Menschen töten können? | |
Bild: Wolf in einem Gehege im niedersächsischen Springe | |
NEUENDORF AM SEE/HÄHNICHEN taz | Plötzlich steht der Wolf im Garten einer | |
Kindertagesstätte der brandenburgischen Stadt Rathenow. Unter einem Baum | |
frisst das Raubtier Äpfel. Durch eine Glastür habe es an jenem Tag Mitte | |
Dezember die Kinder angeschaut, berichtet die Leiterin der Kita. Ein Tier, | |
ungefähr so groß wie ein Schäferhund, die Beine länger, die Schnauze | |
ausgeprägter und der Hals viel kräftiger. | |
Im selben Ort erzählt eine elfjährige Grundschülerin ihrem Rektor, dass das | |
Tier sich ihr sogar bis auf zwei Meter näherte, sie dann umkreiste und | |
beschnupperte. Der Schulleiter warnt per Aushang: „Vorsicht auf dem | |
Schulweg!“ Ein Glück, sagt er, „dass die Kinder nicht panisch reagiert | |
haben und es nicht zu einem Vorfall kam.“ | |
Auch bei Jörg Dommel im Spreewald sind schon Wölfe aufgetaucht. Der | |
Biobauer erinnert sich an die Woche vor Heiligabend: Kurz nach | |
Sonnenaufgang machte er den täglichen Kontrollgang über seine Rinderweiden, | |
direkt am Neuendorfer See. | |
## Biobauer Dommel und das Massaker | |
„Es sah aus wie ein Schlachtfeld, fast wie im Krieg“, erzählt Dommel. „E… | |
Kalb lag halb aufgefressen da. Alles voller Blut. Kotreste vom Wolf. Hinter | |
dem Genick war an einer Oberseite alles weggefressen. Rippen stachen | |
heraus, der Magen war ausgeräumt.“ Ein „Scheißgefühl“ sei das, sagt der | |
Bauer. „Und man kann nichts dagegen tun.“ | |
Der Wolf ist wieder da. Nach [1][150 Jahren], in denen er in Deutschland | |
als ausgerottet galt. Ein riesiger Erfolg für den Naturschutz: Statt dass | |
immer nur Tierarten aussterben, erobert sich eine Spezies ihren Lebensraum | |
zurück. | |
Alles begann im Jahr 2000 in Sachsen, auf dem Truppenübungsplatz | |
Oberlausitz: Erstmals nach der Ausrottung ihrer Art gebärt eine Wölfin | |
Nachwuchs in freier Wildbahn. Förster sehen vier Welpen, eine | |
Wissenschaftlerin findet Spuren. Die Elterntiere kamen aus Polen, wo es | |
immer Wölfe gab. In Sachsen konnten sie sich ein Revier suchen, weil die | |
Tiere seit dem Ende der DDR auch in Ostdeutschland unter Artenschutz | |
stehen. Vorher durften Wölfe dort gejagt werden. | |
Die Planerfüllung in der Landwirtschaft war im Staatssozialismus wichtiger | |
als der Naturschutz. Nach der Wende drangen [2][Rudel auch nach | |
Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen vor], | |
[3][sogar im Hamburger Stadtteil Kirchwerder wurde schon ein Wolf | |
fotografiert – in der Nähe eines Biobauernhofs]. | |
Freude über die Rückkehr eines Raubtiers? Viel eher weckt sie tief | |
sitzende, jahrhundertealte Ängste. Sie sind in Märchen wie „Rotkäppchen“ | |
oder „Der Wolf und die sieben Geißlein“ überliefert; in Erzählungen über | |
den bösen, den listigen, den gierigen Wolf. Und es ist ja auch eine | |
Tatsache: Kein anderes Raubtier in Deutschland kann Menschen so gefährlich | |
werden. Pro Tag braucht es etwa vier Kilogramm Fleisch. Da Wölfe oft in | |
Gruppen jagen, können sie auch Lebewesen töten, die größer als sie selbst | |
sind. | |
Besonders gefährdet sind Nutztiere wie Schafe und Rinder. Die Zahl der | |
dokumentierten Opfer ist nach den aktuellen Zahlen des Bundesamts für | |
Naturschutz von 2002 bis 2015 von 33 auf 715 gestiegen – um mehr als das | |
20-Fache. Das trifft ausgerechnet Bauern wie Jörg Dommel, die ihr Vieh | |
besonders artgerecht und naturfreundlich halten: auf der Weide und nicht | |
nur im Stall. | |
Der Wolf geht um – sollten dann besser alle Nutztiere eingesperrt werden , | |
in hermetisch abgeriegelte Ställe wie in der Intensivviehhaltung? Und | |
müssen Kindergärten wolfssichere Zäune haben? | |
Die Sache eilt. Denn die Zahl der Wölfe wächst immer schneller – jedes Jahr | |
im Schnitt um 35 Prozent. Das Bundesumweltministerium hat 47 Wolfsrudel, 15 | |
Wolfspaare und vier sesshafte Einzelwölfe erfasst. Der Wolfsexperte Ulrich | |
Wotschikowsky schätzt, dass inzwischen knapp 600 Tiere in Deutschland | |
leben. Wotschikowsky ist Wildbiologe und als Wolfsfreund unverdächtig, die | |
Gefahr zu übertreiben. Sollte seine Schätzung zutreffen, dürften es schon | |
in zwei Jahren mehr als 1.000 Tiere sein – wenn die Gesellschaft es | |
zulässt. | |
Jörg Dommel rollt mit seinem Traktor auf eine seiner Weiden. Mit dem | |
Frontlader hat der Biobauer zwei Heuballen aufgespießt. Langsam setzt er | |
sie neben den 700 Kilogramm schweren, braun-weißen Kühen ab. | |
„Ich bin der letzte Landwirt in Neuendorf am See“, sagt der 55-Jährige. | |
Seinen Vater, einen freien Bauern, zwang die DDR in eine | |
Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft, er selbst musste erst einmal | |
Schlosser lernen. | |
Nach der Wende hat die Familie ihr Land zurückbekommen, Dommel machte einen | |
Ökohof mit rund 200 Rindern für die Fleischproduktion daraus. Ein stämmiger | |
Mann im blauen Arbeitskittel, einer, der kräftig zupacken kann – und jetzt | |
oft mit einem mulmigen Gefühl auf seinem Land unterwegs ist. Denn im | |
Umkreis von 25 Kilometern leben seit ein, zwei Jahren drei [4][Wolfsrudel]. | |
Dommel sagt: „Ich hätte die Hosen schon richtig voll, wenn ich mit meinem | |
Hund spazieren gehe im Wald und drei, vier Wölfe kommen. Ich bin mir nicht | |
sicher, ob sie mich angreifen würden. Entweder ich muss den Hund opfern | |
oder ich werde selber Opfer.“ Oft sehen Wölfe Hunde als Konkurrenten um ihr | |
Territorium an. | |
## Manche leben vom Wolf | |
Es ist nicht auszuschließen, dass Dommel die Gefahr durch den Wolf etwas | |
dramatisiert. Denn er ist vor allem gegen den Wolf, weil er ihn Geld | |
kostet. Seit Juli hätten die Raubtiere sechs seiner Rinder getötet, ein | |
Verlust von rund 4.000 Euro, sagt der Landwirt. Das ist eine Menge für | |
einen, der zehn Stunden täglich inklusive Wochenende arbeiten muss, um über | |
die Runden zu kommen. | |
Andere Menschen leben vom Wolf. Biologen, Naturschützer und Beamte sollen | |
dafür sorgen, dass Mensch und Raubtier miteinander auskommen. [5][2002 | |
beauftragte Sachsens Umweltministerium das Wildbiologische Büro Lupus. | |
Aufgabe unter anderem: Wölfe zählen.] 2004 eröffnete das vom Land bezahlte | |
„[6][Kontaktbüro Wölfe]“, das Bürger und Journalisten informieren soll. | |
Der Staatsbetrieb Sachsenforst ernannte einen Wolfsbeauftragten, der | |
Nutztierhalter berät, wie sie ihre Herden vor Wölfen schützen können. In | |
Behörden gibt es Sachbearbeiter, die sich um Anträge auf Entschädigung nach | |
Rissen oder Zuschüsse für Zäune kümmern. | |
Markus Bathen ist der wichtigste Wolfsexperte des Naturschutzbunds, der | |
größten deutschen Umweltorganisation, bekannt als Nabu. Vor einigen Jahren | |
ist er mitten in das Territorium eines Wolfsrudels nahe der Kleinstadt | |
Niesky in Ostsachsen gezogen. Zweimal ist vor seinem Haus im Dorf Hähnichen | |
eine Wölfin vorbeigelaufen, der Forscher einen Ortungssender umgehängt | |
haben. Bathen hat das Rudel auch schon heulen gehört. Seine Hunde schleppen | |
immer mal die zerfetzten Reste von Rehen an, die der Wolf erwischt hat. | |
Bathen hat einen dreijährigen Sohn. Ungefähr so groß und schwer wie ein | |
Reh. „Er macht eigenständig das Tor auf und läuft dann in der Dämmerung | |
oder abends genau dort lang und spielt, wo mit Sicherheit schon ein Wolf | |
langgelaufen ist“, sagt der Naturschützer. „Total entspannt“ seien er und | |
seine Frau, weil „da eigentlich nichts passiert“. Normalerweise sähen Wöl… | |
Menschen nicht als Beute an. „[7][Rotkäppchen lügt]“, steht auf der | |
Internetseite des Nabu. Anderslautende Behauptungen seien: Märchen. | |
Bathen hat Naturschutz studiert und sieht auch so aus: Der 45-Jährige trägt | |
Outdoor-Kleidung in Grüntönen und feste Wanderschuhe. Seine Argumente | |
beruhigen, meist redet er sachlich und abwägend. | |
Wölfe faszinieren ja auch. Sie sind soziale Wesen und uns Menschen so nah | |
wie kaum ein anderes wildes Tier. Die Eltern bleiben ein Leben lang | |
zusammen. Junge Tiere lernen von den alten, zu jagen. Sobald sie | |
geschlechtsreif sind, verlassen sie ihr Elternterritorium, um anderswo eine | |
Familie zu gründen. Dafür laufen sie [8][oft hunderte Kilometer]. | |
## Wolfgang, stark und mutig | |
Der Wolf ist tief verankert in unserer Tradition: Orte sind nach ihm | |
benannt, Fußball- und Eishockeyteams nennen sich „Wölfe“. Wolfgang, das i… | |
in der Vornamenskunde der, der mit dem Wolf in den Kampf zieht, stark und | |
mutig. | |
Ein Tier, das uns so nahe ist, wieder auszurotten, klingt verkehrt. Und | |
sind wir heute nicht viel weiter als die Menschen des Mittelalters, in dem | |
die Märchen über den bösen Wolf entstanden? | |
Aber wenn Bathen recht haben sollte, würde das bedeuten, dass der Mensch | |
und seine Interessen kaum wichtiger als das Tier sind. Gegen Bathen spricht | |
zudem, dass möglicherweise auch er in dieser Sache persönliche Interessen | |
verfolgt: Er wird dafür bezahlt, für den Wolf zu kämpfen. | |
Bathen steigt ins Auto. Er will zeigen, durch welche Wälder der Wolf in | |
seiner Nachbarschaft streift. An einem Feld wenige Kilometer von seinem | |
Haus entfernt bleibt sein Wagen stecken. In einer Kuhle, die Bauern mit | |
ihren Traktoren in den Schlamm gefahren haben. Die Bauern, seine | |
wichtigsten Gegner im Streit über den Wolf. Er will jetzt lieber nicht die | |
örtliche Agrargenossenschaft bitten, sein Auto freizuschleppen, und | |
versucht, Freunde zu erreichen, die ihm helfen. Das dauert. | |
Er nutzt die Zeit, um seine These vom gar nicht so bösen Wolf zu | |
untermauern. Bathen sagt, dass die Tiere seit 1950 in Europa nur in neun | |
Fällen Menschen getötet hätten. „Bei fünf dieser Fälle waren die Wölfe … | |
Tollwut erkrankt.“ Deshalb hätten sie sich anormal verhalten. | |
Deutschland gilt aber seit 2008 als tollwutfrei. Bei den anderen | |
Vorkommnissen wurde bestätigt, dass die Tiere zuvor angefüttert worden | |
waren und ihre Angst vor Menschen verloren hatten. Oder dass sie provoziert | |
wurden. „Nullmal, dass Wölfe zum Nahrungserwerb Menschen getötet haben.“ … | |
steht es auch in einer allseits anerkannten [9][Studie des Norwegischen | |
Instituts für Naturforschung]. | |
## Vom Wolf umgebracht werden | |
Von einem Wolf umgebracht zu werden, sei so wahrscheinlich, wie von einem | |
Ast im Wald erschlagen oder von einem Wildschwein getötet zu werden, | |
folgert Bathen. Eine „Gefahr des täglichen Lebens“. | |
Und was die Übergriffe auf Nutztiere angeht: Rinder jage der Wolf nur sehr | |
selten. „Sie sind ihm zu groß.“ Die Schäfer könnten ihre Tiere gegen Wö… | |
mit Zäunen und Hunden schützen. 2015 haben die Länder dafür 1,05 Millionen | |
Euro überwiesen, wie das Bundesamt für Naturschutz mitteilt. Sollte es doch | |
zu Übergriffen kommen, zahlen die Behörden Entschädigungen; 2015 knapp | |
108.000 Euro. | |
Ein Klacks im Vergleich zu den Milliarden, die der Staat jährlich für | |
Agrarsubventionen ausgibt. | |
Bathen schaut zufrieden, als er mit seinem Vortrag durch ist. Und endlich | |
kommt eine Freundin, die sein Auto mit ihrem VW-Bus aus der Kuhle | |
herauszieht. | |
Als Biolandwirt Dommel Bathens Argumente hört, wird er wütend. Er gehört zu | |
den wenigen Bauern in Deutschland, die ihre Tiere noch auf der Weide | |
halten. Seine Rinder haben jede Menge Platz, sie sehen die Sonne und nicht | |
nur Neonröhren, die Kühe werden nicht mit einer Spritze, sondern von ihrem | |
Stier befruchtet, sie fressen kein Kraftfutter, sondern Gras. So, wie es | |
sich Tierschützer und auch Bathens Nabu wünschen. | |
Doch in Dommels Augen gefährdet der Wolf genau diese Weidehaltung. „Unsere | |
Tiere sind die ersten, die dran sind.“ | |
Das Land Brandenburg, sagt Dommel, zahle zwar eine Entschädigung für Risse, | |
aber nur den Wert zum Zeitpunkt des Übergriffes. Dabei hätte er das Kalb | |
gemästet und später als ausgewachsenes Schlachtrind verkauft, für rund | |
1.200 Euro, fast das Doppelte. Es kann Monate dauern, bis er das Geld | |
bekommt. Und wer bezahlt ihm die Zeit, die er für die Entsorgung der | |
Kadaver und die Gespräche mit dem Rissgutachter aufwenden musste, der sich | |
jeden Fall anschaut? „Natürlich niemand.“ | |
## Jetzt ist die Herde nervös | |
Überhaupt nicht entschädigt werden die Folgen eines Wolfsrisses für das | |
unverletzt gebliebene Vieh. „Die Herde ist seit den Angriffen sehr | |
unruhig“, klagt Dommel. Es sei jetzt zum Beispiel viel schwerer, einzelne | |
Tiere einzufangen. | |
Der Bauer könnte sein Vieh mit 1,20 Meter hohen Elektrozäunen schützen. | |
Aber Dommel bewirtschaftet 334 Hektar Land, größer als 450 Fußballfelder. | |
Allein das rund 20 Hektar große Winterquartier wolfsicher einzuzäunen, | |
würde 40.000 Euro kosten. Im Sommer müssen die Zäune umgesetzt werden, wenn | |
eine Weide abgegrast ist und die Herde auf eine andere wechselt. | |
Und einmal pro Woche muss am Zaun gemäht werden, damit Grashalme nicht die | |
unteren Drähte berühren und so die Spannung ableiten. „Für alles bräuchte | |
ich Arbeitskräfte, die ich nicht bezahlen kann“, sagt Dommel. Außerdem | |
würden Wölfe lernen, Schutzmaßnahmen zu überwinden. | |
Tatsächlich fanden vergangenes Jahr 66 Prozent der Übergriffe auf Nutztiere | |
in Sachsen nach offiziellen Angaben in Haltungen statt, die so geschützt | |
waren, wie es die Behörden für Entschädigungen verlangen. Ähnliche Zahlen | |
gibt es aus Frankreich. | |
Warnungen vor dem Wolf kommen nicht mehr nur von konservativen | |
Bauernorganisationen, sondern auch von Teilen der ökologisch orientierten | |
Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft, der AbL. Das ist der | |
tonangebende Verband in der deutschen Bewegung für eine Agrarwende und eine | |
umweltfreundlichere, sozialverträglichere Nahrungsmittelerzeugung. | |
## Ende der Weidehaltung? | |
Die Zahl der Risse könnte weiter zunehmen, wenn mehr Wölfe Futter suchen. | |
Was uns dräut, zeigt ein Blick auf die italienische Provinz Grosseto, wo | |
Wölfe immer präsent waren. Von 2014 bis 2016 sind jedes Jahr 0,7 Prozent | |
aller Schafe von Wölfen getötet oder verletzt worden oder verschwanden bei | |
Wolfsattacken. Das berichtet die Forscherin Valeria Salvatori. | |
0,7 Prozent klingt nicht nach einer großen Belastung. Aber die Weidehaltung | |
steht schon lange aus ökonomischen Gründen unter Druck. Die Belastung durch | |
den Wolf könnte ihr den Rest geben, befürchten viele. | |
Wenn man genauer hinschaut, ist es auch nicht völlig unwahrscheinlich, dass | |
das Raubtier auf Menschen losgeht. Im März 2010 töteten Wölfe in Alaska | |
eine 32 Jahre alte Joggerin – und fraßen sie teilweise. Das Opfer, eine | |
Lehrerin, war nur 1,47 Meter groß, sie rannte – das könnte zu dem Vorfall | |
beigetragen haben, vermuteten die Behörden. Einer der Wölfe wurde später | |
geschossen und per Erbgutanalyse als „Täter“ identifiziert. Er hatte keine | |
Tollwut. Und es gab keine Hinweise darauf, dass die Wölfe „provoziert“ | |
worden wären. | |
Ist nicht ohnehin jeder Tote einer zu viel? In Deutschland ist es verboten, | |
Kampfhunde ohne Aufsicht frei herumlaufen zu lassen. Weil es zu riskant | |
ist. Warum soll das bei einem wilden Raubtier anders sein, das noch | |
gefährlicher ist? Warum sollten wir das zusätzliche Risiko durch Wölfe | |
akzeptieren? | |
Bathen steht an einem Feld in Sachsen. Er zeigt auf eine Gruppe Rehe, die | |
einige hundert Meter entfernt Futter sucht. „Wenn eines der Tiere ein | |
Krankheitsüberträger ist und deswegen schwächelt, dann würde der Wolf das | |
als erstes erwischen, weil es schwächer ist als die anderen“, sagt Bathen. | |
Dann können die anderen Rehe nicht mehr infiziert werden. „Der Wolf hält | |
Beutetierbestände gesund, er ist der Gesundheitspolizist.“ Das sei seine | |
Funktion, und deshalb hält Bathen den Wolf für wichtig in der Natur. | |
Bauer Dommel sagt dazu: „Auch Jäger können kranke Tiere schießen. Wir sind | |
über Generationen ohne den Wolf ganz gut ausgekommen.“ | |
Wenn der praktische Nutzen des Wolfs für den Menschen gegen null tendiert, | |
was ist es dann, das das Risiko rechtfertigen könnte? | |
## Respekt für den Wolf | |
Eine Frage für Nathalie Soethe. Sie ist Agrarwissenschaftlerin und Mitglied | |
der Arbeitsgemeinschaft „Umweltethik“ an der Universität Greifswald. Privat | |
hat sie 2015 die Initiative „[10][WikiWolves“] gegründet. Soethe baut da | |
gemeinsam mit anderen Freiwilligen Zäune etwa für Schäfer, damit deren | |
Tiere vor dem Wolf sicher sind. | |
Denn Soethe freut sich, dass der Wolf wieder in Deutschland ist. „Wir | |
schulden dem Wolf als Teil der Natur Demut und Respekt“, sagt sie. Ein | |
wichtiges Argument ist für die Forscherin auch „[11][unsere Glaubwürdigkeit | |
als reiche Mitteleuropäer] gegenüber Menschen in weniger technisierten | |
Regionen der Erde, von denen wir erwarten, dass sie in Koexistenz mit | |
Schneeleoparden, Löwen oder Jaguaren leben und diese vorm Aussterben | |
bewahren.“ | |
Doch Leute wie Bauer Dommel würden wohl nie Afrikanern verbieten, Löwen auf | |
bestimmte Gebiete zu begrenzen, um Dörfer zu schützen. Und was ist schon | |
„die Natur“? Sind nicht auch die Menschen Teil der Natur, die sich ständig | |
ändert? Und wenn irgendwann dauerhaft Bären aus Italien nach Deutschland | |
einwandern – muss der Respekt vor der Natur dann auch das zulassen? Obwohl | |
der Bär ein Raubtier ist, gegen das Menschen noch weniger Chancen haben? | |
Das sind Einwände, die Soethe nachdenklich machen. | |
Vor einiger Zeit, erzählt sie, habe es mal ein Gerücht gegeben, dass ein | |
Wolf in Brandenburg ein Kind getötet hätte. „Da dachte ich: Ich höre auf | |
mit der Sache, die ich hier mache.“ Zum Glück stellte sich das Gerücht als | |
falsch heraus. | |
Aber die Fragen bleiben: Was würden Sie Eltern eines Kindes sagen, das von | |
Wölfen gefressen wurde, Frau Soethe? „Da kann ich Ihnen keine Antwort | |
geben. Da muss ich wirklich passen.“ Und sie sagt: „Letztendlich ist das | |
ein Experiment. Es ist ergebnisoffen.“ | |
Das Ganze klingt auf einmal doch ziemlich beunruhigend. | |
„Ich warte auf den Tag, an dem der Wolf den ersten Menschen reißt. Mal | |
sehen, wie der Nabu darauf reagiert“, ruft Dommel auf seiner Weide. „Ich | |
fordere einen Abschussplan für den Wolf.“ Der Bauernbund Brandenburg will, | |
dass dafür der strenge Artenschutz für das Tier gelockert wird. Der Wolf | |
ist ja auch nicht mehr vom Aussterben bedroht, auf der [12][Roten Liste der | |
Weltnaturschutzunion] steht er als „ungefährdet“. | |
Die AbL Niedersachsen verlangt, anders als bisher Wölfe schon dann zu | |
vergrämen, wenn sie sich Nutztieren nähern – „auch mit Abschüssen“. Im | |
Moment [13][greifen die Behörden nur zu solchen Mitteln, wenn die Tiere | |
sich zu häufig oder aggressiv Menschen nähern]. | |
Markus Bathen und der Nabu argumentieren vor allem mit einer Studie aus den | |
USA gegen eine Obergrenze für Wölfe, demnach nehmen die Übergriffe [14][auf | |
Nutztiere in einem Gebiet nach der Bejagung der Wölfe zu]. Andere Fachleute | |
allerdings [15][haben die Studie] wegen methodischer Mängel verrissen. | |
Bleibt der gesunde Menschenverstand. Und der sagt: Weniger Wölfe, weniger | |
Raubtiere, die Futter suchen, weniger Übergriffe. | |
Vielleicht sollte man den Wolf begrenzen auf einen Teil Deutschlands, der | |
möglichst dünn besiedelt ist und möglichst wenig Weidehaltung hat. | |
## Spuren vom Wolf | |
Jetzt geht die Sonne unter in Bathens Wolfsregion. Mit dem Auto biegt der | |
Naturschützer in einen Buchenforst ein, steigt aus und sucht Wolfsspuren. | |
Hier ist das Kerngebiet des Nieskyer Rudels, mehrmals warfen die Wölfe dort | |
Welpen. | |
„Der Wolf liebt Wege“, verrät Bathen. Dort kann das Tier schnell laufen, | |
ohne Energie zu verschwenden. Zudem setzt es meist die Hinterpfote einer | |
Körperseite in den Abdruck der Vorderpfote auf der gleichen Seite. So | |
schaffen Wölfe 20 bis 30 Kilometer pro Tag mit Geschwindigkeiten von bis zu | |
60 Stundenkilometern. | |
Auf einmal sind da sieben Abdrücke hintereinander im Schnee. In einer | |
Linie, aufgereiht wie auf einer Schnur. Bathen holt seinen Nabu-Zollstab | |
aus der Hosentasche und misst: Zwischen jedem Abdruck liegen 150 | |
Zentimeter, jeder zeigt vier Zehen, einen herzförmigen Handtellerballen und | |
Krallen. Ohne Krallen ist er acht Zentimeter lang und sieben breit. „So, | |
wie es sein sollte“, sagt Bathen. | |
Da ist sie, die Freude über den Wolf. Dieses seltene, anmutige Tier war | |
hier, genau hier. Am besten bleibt es aber auch da – weit weg im | |
sächsischen Wald. Zur Not müssen wir es zwingen, mit dem Gewehr. | |
30 Mar 2017 | |
## LINKS | |
[1] http://www.bundestag.de/blob/393542/5e21bfea995e1f0f0f19271d442f365d/berich… | |
[2] http://www.wolf-sachsen.de/verbreitung-in-deutschland | |
[3] http://www.mopo.de/hamburg/fotografiert-in-kirchwerder--erster-wolf-in-hamb… | |
[4] http://www.lugv.brandenburg.de/cms/media.php/lbm1.a.3310.de/wolf_nachw.pdf | |
[5] https://publikationen.sachsen.de/bdb/artikel/11883 | |
[6] http://www.wolf-sachsen.de/home/vorstellung-kontaktbuero | |
[7] https://www.nabu.de/tiere-und-pflanzen/saeugetiere/wolf/nabu-aktivitaeten/t… | |
[8] https://publikationen.sachsen.de/bdb/artikel/11883/documents/38682 | |
[9] http://www.nina.no/archive/nina/PppBasePdf/oppdragsmelding/731.pdf | |
[10] http://www.wikiwolves.org/ | |
[11] http://www.regiocrowd.com/duebener-heide/media/602214a94933352e6f54847d28e… | |
[12] http://www.iucnredlist.org/details/3746/0 | |
[13] http://www.lfu.brandenburg.de/cms/media.php/lbm1.a.3310.de/wmp_2013_2017.p… | |
[14] https://www.nabu.de/tiere-und-pflanzen/saeugetiere/wolf/wissen/15812.html | |
[15] http://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371%2Fjournal.pone.0148743 | |
## AUTOREN | |
Jost Maurin | |
## TAGS | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Tiere | |
Natur | |
Wild | |
Wölfe | |
Thüringen | |
Bundesamt für Naturschutz | |
Landwirtschaft | |
Landwirtschaft | |
Landwirtschaft | |
Landwirtschaft | |
Jagd | |
Stiftung Naturschutz | |
Sachsen-Anhalt | |
Nutztiere | |
Bären | |
Ökologie | |
Landwirtschaft | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Streit um Thüringer Wölfin: Zwischen Tod und Leben | |
Die Thüringer Behörden wollen die Wölfin von Ohrdruf abschießen lassen, | |
Umweltschützer gehen dagegen vor. Nachwuchs könnte die Wölfin retten. | |
Ergebnisse von neuer Raubtierzählung: Viel mehr Wolfsrudel – und Fragen | |
28 Prozent mehr „Familien“ des Raubtiers binnen eines Jahres. Doch wie | |
viele Wölfe das sind, sagt das zuständige Bundesamt nicht. | |
Angst vor Übergriffen auf Nutztiere: SPD-Minister für Jagd auf Wölfe | |
Mecklenburg-Vorpommerns Agrarminister Backhaus fordert, die Population zu | |
begrenzen. Wolfsmischlinge in Thüringen sollen doch nicht getötet werden. | |
Trotz Angst vor Übergriffen auf Vieh: Naturschützer stoppen Wolfabschuss | |
Weil die Grüne Liga Widerspruch eingelegt hat, verzichtet Sachsen vorläufig | |
darauf, eines der Raubtiere aus wirtschaftlichen Gründen zu töten. | |
Gefahr für Weidetiere: Bauernverband will Wölfe abschießen | |
Die Raubtiere müssten bereits auf bestimmte Regionen begrenzt werden, sagt | |
der Bauernverband. Naturschützer halten die Wolfspopulation für noch zu | |
klein. | |
Umweltstaatssekretär über Artenschutz: „Gefahr durch Wölfe ist sehr gering… | |
Für Menschen gefährliche Tiere würden geschossen, sagt | |
Umweltstaatssekretär Jochen Flasbarth. Er kritisiert Tierrechtler, die | |
Wolf und Mensch gleichsetzen. | |
Debatte Tierschutz: Das Tier als Herrenhandtasche | |
Bastelanleitungen für Sauenhütten, Tipps für schwangere Jägerinnen: Die | |
Lektüre der „Jagdzeitung“ liefert Einblicke in eine verstörende Welt. | |
Forderung der Naturschutzverbände: Neue Hürde für Wolfsabschuss | |
Viele Wölfe, die sich nicht von Menschen fernhalten, werden erschossen. | |
Naturschützer fordern, dass vorher eine Beratungsstelle befragt wird. | |
Kenia-Koalition in Sachsen-Anhalt: Regieren mit „Achterbahnqualität“ | |
Seit einem Jahr regieren in Magdeburg erstmals CDU, SPD und Grüne | |
gemeinsam. Die Zusammenarbeit knirscht bisweilen. | |
Wolfsregionen in Europa: Viele Kälber gerissen | |
In Nordkastilien waren zuletzt 36 Prozent der von Wölfen getöteten | |
Nutztiere Rinder. In Frankreich sind Zäune oft zwecklos. | |
Konkurrenten auf Beutejagd: Wenn der Bär mit dem Wolf tanzt | |
Wölfe haben in der Regel das Nachsehen, wenn Bären im selben Revier auf | |
Beutejagd gehen. Die Rudeltiere kuschen, wenn ein Bär in der Nähe ist. | |
Landwirte gegen Wölfe: „Wölfe vermehren sich tüchtig“ | |
Warum sie meist gegen Massentierhaltung kämpfen, aber nun auch gegen die | |
wachsende Wolfspopulation, erklärt die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche | |
Landwirtschaft. | |
Streit unter Tierschützern: Landwirte fordern Wolfsjagd | |
Hier sind die Fronten nicht mehr klar: Geschützte Wölfe machen Jagd auf | |
Schafe, Lämmer und Kälber. Bauern verlangen drastische Maßnahmen. |