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# taz.de -- Vize-Regierungschefin will kämpfen: „Ich werde die zweite Chance…
> Bettina Jarasch (Grüne) über ihr Dilemma, mit Franziska Giffey (SPD)
> Berlin durch die Krise bringen und zugleich Wahlkampf gegen sie machen zu
> müssen.
Bild: Lächelnd Seit' an Seit' ist nicht der aktuelle Zustand bei Jarasch (l., …
Frau Jarasch, in der Krise gut zusammen mit Franziska Giffey regieren und
sich gleichzeitig von ihr und der SPD abgrenzen, um im Wahlkampf als Grüne
zu punkten – wie soll das gehen?
Bettina Jarasch: Die Menschen haben gerade ganz andere Sorgen als eine
Wahlwiederholung. Da müssen wir zuallererst mal zeigen, dass wir es
hinkriegen, Berlin verlässlich durch die Krisen zu steuern. Das muss gehen,
und das kann gehen, wenn wir ein paar Dinge, ich nenne es mal so, vor die
Klammer ziehen. Das muss auch gehen, obwohl uns jetzt der Wahlkampf
einholt, wenn das Urteil des Verfassungsgerichts wie erwartet am 16.
November kommt.
Aber das ist ja gerade Ihr Dilemma: Bekommen Sie die Sache gemeinsam
gewuppt, profitiert davon üblicherweise die Nr. 1 – hier eben
Regierungschefin Giffey mit ihrer SPD. Wie gleichzeitig wuppen und explizit
für die Grünen werben?
Das meine ich ja mit dem Vor-die-Klammer-ziehen. Natürlich können wir nicht
so tun, als gäbe es keinen Wahlkampf – das wäre völlig unsinnig. Zugleich
befinden wir uns in einer Energiekrise. Auch die Inflation trifft viele der
Berlinerinnen und Berliner hart. Der Senat muss und wird arbeitsfähig
bleiben, um die Menschen zu entlasten und ihnen zu helfen. Und einige Dinge
müssen wir noch zusätzlich gemeinsam hinkriegen.
Und welche sind das?
Erstmal das Entlastungspaket des Senats als Ergänzung zu dem, was vom Bund
kommt. Dafür beschließen wir kommenden Dienstag einen Nachtragshaushalt …
Auf den kommen wir später noch zu sprechen.
Daneben darf man im Sinne einer guten Regierungsarbeit nicht plötzlich
anfangen, populistisch ganz tolle Dinge in die Welt zu setzen, die dann
nicht kommen …
… was allerdings zum üblichen Spiel gehört.
Das würde aber gerade in der jetzigen Situation das Vertrauen in die
Glaubwürdigkeit von Politik weiter erschüttern. Was gefordert wird, muss
auch umsetzbar sein. Trotz Wahlkampf müssen wir liefern, was mit dem
Entlastungspaket versprochen wurde. Und da kann ich sagen, ich habe
geliefert: Das 29-Euro-Abo ist eine Entlastung, die ankommt und auch schon
in Kraft ist …
Die Urheberschaft dafür hat sich jüngst im Parlament wieder die SPD
zugeschrieben.
Gute Ideen haben immer viele Mütter.
… Väter aber auch.
Mir ist neben dem 29-Euro-Abo aber besonders wichtig, dass wir nun die
Menschen entlasten, die es besonders nötig haben. Deshalb haben wir
vereinbart, dass es von Januar bis März befristet das Sozialticket für 9
Euro gibt. Das haben wir mit dem Verkehrsverbund auch schon verhandelt. Die
Sozialsenatorin hat vorgeschlagen, zusätzlich den Zugang zum Sozialticket
für alle zu erweitern, die durch die Wohngeldreform künftig einen Anspruch
auf Wohngeld haben.
Und Sie finden das …?
Das finde ich gut, das ist gezielte Entlastung für die, die wenig
verdienen. Sozial gestaffelte Angebote brauchen wir natürlich auch dann,
wenn das bundesweit gültige 49-Euro-Ticket kommt. Das muss aber alles im
Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg verhandelt werden, da können wir nicht
alleine Wünsch-dir-was spielen.
Das Besondere ist ja, dass sich die Umfragelage gegenüber 2021 so stark
verändert hat: Die Grünen liegen deutlich vor der SPD, der damaligen
Wahlsiegerin – Sie haben eine zweite Chance, Regierungschefin zu werden.
Wäre die Lage konstant, könnte sich die Koalition ja einfach um Wiederwahl
bewerben.
Dazu kann ich nur sagen: Wir haben den Wahlkampf weder herbeigerufen noch
ausgerufen.
Im Ergebnis ist es gleich: Wenn Sie so viel Grün wie möglich wollen, werden
Sie auch so viel wie möglich kämpfen müssen.
Durch das Wahlchaos von 2021 ist insgesamt das Vertrauen in die
funktionierende Stadt, in die Verlässlichkeit von Politik erschüttert. Das
wird ein Gradmesser in diesem Wahlkampf sein: Wer agiert populistisch und
macht haltlose Versprechungen, wer kann verlässlich durch die Krise steuern
und wer hat Konzepte, wie wir aus der Krise besser und stärker wieder
herauskommen können?
Sie waren auf fünf Jahre als Verkehrssenatorin eingestellt und können nun
unverhofft noch mal versuchen, selbst Chefin zu werden. Da müssen Sie doch
zwangsläufig immer deutlich machen: Ich bin besser als Franziska Giffey.
Wenn es eine Wahlwiederholung gibt, dann werde ich diese zweite Chance auch
nutzen, das ist klar. Aber nochmal: Vielleicht gerade weil wir Grünen in
den Umfragen führen, schreien wir nicht danach, sondern nehmen an, was das
Verfassungsgericht urteilt. Denn das gehört mit zur Verlässlichkeit und zum
Funktionieren von Demokratie.
Rein praktisch ist das alles schwer vorstellbar: Sie treffen sich morgens
mit Frau Giffey und den anderen Senatsmitgliedern, arbeiten hart, aber fair
an der Sache und beharken sich dann abends auf Wahlkampfpodien? Das soll
gehen?
Das muss gehen. Wenn man Regierungsämter übernimmt, dann gibt es eine
Stelle, an der man über seine eigene Partei hinaustreten und einen Schritt
weiter gehen muss. Das gilt für alle Regierungsämter. Wir sind alle
miteinander für die gesamte Stadt zuständig. Diesen Schritt muss man
hinkriegen, wenn man gut regieren will. Auch wenn uns das schizophren
vorkommen mag.
Wie lange Versprechen des guten Umgangs halten, hat sich jetzt nach dem
Urteil zur Friedrichstraße gezeigt, als Sie und Frau Giffey sich mächtig
gefetzt haben.
So etwas sollte sich nicht wiederholen. Wenn wir trotz Wahlkampf
verlässlich miteinander regieren wollen, dann dürfen weder der Senat noch
die Pressekonferenz danach zur Bühne für den Wahlkampf werden. Der findet
draußen statt. Franziska Giffey und ich haben genügend Gelegenheiten,
miteinander auch Konflikte zu besprechen. Die Senats-Pressekonferenz ist
dafür der falsche Ort.
Gesetzt den Fall, Sie kriegen es hin, verlässlich miteinander zu arbeiten:
Dann sitzt Ihnen doch Ihre Partei im Nacken und drängt auf mehr Schärfe, um
mehr für die Grünen rauszuholen.
Natürlich werde ich versuchen, die Menschen davon zu überzeugen, warum ich
die bessere Regierende Bürgermeisterin bin. Aber davon unabhängig stehen
wir in der Verantwortung, die Krisen zu bewältigen – und dazu gehört
natürlich die Klimakrise. Hätten wir den Kampf gegen den Klimawandel in den
letzten Jahrzehnten radikaler geführt und die Energiewende vorangetrieben,
dann wären auch unsere Energiepreise nicht so stark von Importen abhängig.
Womit wir wieder bei der Klammer wären, vor die Sie wichtige Dinge ziehen
wollen – welche außer dem Entlastungspaket?
Die Lehrerverbeamtung und die Anpassung der Besoldung an die
Tarifentwicklung. Da haben wir Versprechen gemacht, die wir einlösen
müssen. Und dann gibt es Gesetzesvorhaben, die schon zweimal vereinbart
waren, aber immer noch nicht umgesetzt sind: die neue, ökologische
Bauordnung und das noch fehlende Kapitel zum Wirtschaftsverkehr im
Mobilitätsgesetz. Bei beidem sind wir uns im Kern einig, und sie sind jetzt
trotzdem im Prozess wieder aufgehalten. Darüber können wir nicht ernsthaft
ein weiteres Mal Koalitionsverhandlungen führen – die müssen wir endlich
beschließen.
Was ist mit der Verfassungsänderung zum Wählen ab 16, die mit der FDP
abgesprochen ist?
Die kommt wohl leider nicht mehr. Zwar müssen sowohl Senat als auch
Parlament ihre politische Verantwortung bis zum Wahltag wahrnehmen – aber
Verfassungsänderungen sind angesichts einer möglichen Wahlwiederholung
zumindest fragwürdig. Zudem hat die FDP schon signalisiert, dass daraus vor
der Wahl nichts mehr wird, und das kann ich auch verstehen.
Jetzt aber wie angekündigt noch zum Nachtragshaushalt. Sie waren ja selbst
fünf Jahre Parlamentarierin – können Sie verstehen, dass es angesichts des
sehr engen Zeitplans bei der Opposition viel Kopfschütteln gibt?
So ein Eilverfahren ist eine Zumutung fürs Parlament, ganz klar. Mir war
deswegen wichtig, dass wir auf die Opposition zugehen, denn das Verfahren
mit den zwei Sondersitzungen verlangt ihr ja einiges ab. Umso mehr, als die
Opposition ja grundsätzlich ein Informationsdefizit im Vergleich zu den
Koalitionsparteien hat, was die Hintergründe des Haushalts angeht.
30 Oct 2022
## AUTOREN
Stefan Alberti
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