# taz.de -- Verdrängung in Berlin: Geduldeter Horror | |
> Ein Vermieter schikaniert seine Mieter*innen in Berlin-Mitte mit | |
> illegalen Methoden und die Politik schaut tatenlos zu. Ein fatales | |
> Signal. | |
Bild: 100 Wohnungen in bester Innenstadtlage in Berlin. Doch der Investor will … | |
Es ist der Horror aller Mieter*innen: Dein Vermieter will dich los werden, | |
um noch mehr Rendite aus dem Haus, in dem du wohnst, rauszuschlagen. Weil | |
du aber einen gültigen unbefristeten Mietvertrag hast, geht das nicht so | |
einfach. Also schickt er regelmäßig ein paar dubiose Handwerker*innen | |
vorbei, die das Haus unbewohnbar machen, um dich rauszuekeln. | |
Nach Monaten ohne Strom und warmes Wasser gibst du angesichts der eisigen | |
Temperaturen schließlich auf und suchst dir etwas Neues. Sehr viel teurer | |
natürlich und nicht mehr in der Innenstadt, sondern weit außerhalb. Der | |
Vermieter reißt das Haus, das für viele Jahre dein Zuhause war, kurzerhand | |
ab und baut Luxusappartements in bester City Lage für reiche Leute. | |
Klingt unrealistisch, schließlich ist das in Deutschland verboten? Ist es, | |
trotzdem passiert genau das zurzeit in Berlin-Mitte. Bis auf das Ende. Denn | |
die kämpferischen Mieter*innen des Plattenbaus in der Habersaathstraße | |
40-48 lassen sich nicht so einfach vertreiben. Schließlich sind sie im | |
Recht, auch vor Gericht wurde ihnen bislang bestätigt, dass | |
[1][Mieterschutz vor Profitgier] geht. | |
Das juckt den Eigentümer, Andreas Pichotta, Geschäftsführer von Arcadia | |
Estates, wenig. Immer kurz vor den Gerichtsterminen versucht er es mit | |
kalten Räumungsversuchen bei den Mieter*innen. Mal schickt er Bauarbeiter | |
und eine private Sicherheitsfirma, die die [2][Fenster ausbauen und | |
Stromzähler rausreißen], mal lässt er die Schlösser austauschen oder, wie | |
in dieser Woche, [3][mauert eine Brandschutztür zu] und versperrt damit den | |
Bewohner*innen nicht nur den Zugang zu ihren Sachen, sondern auch den | |
im Falle eines Feuers überlebensnotwendigen Fluchtweg. | |
## Spekulanten haben keine Konsequenzen zu befürchten | |
Das alles, man kann es nicht oft genug sagen, ist illegal. Weder hat die | |
Arcadia einen Räumungstitel – im Gegenteil, die Räumungsklage gegen einen | |
Mieter wurde bereits abgewiesen und mit den anderen wird er voraussichtlich | |
ebenfalls nicht durchkommen. Noch ist es erlaubt, bauliche Maßnahmen | |
vorzunehmen, die dazu dienen, die Mieter*innen zum Auszug zu bewegen. | |
Doch die bis zu 100.000 Euro Strafe, die hierfür drohen, scheint Pichotta | |
in Kauf zu nehmen in der Hoffnung, am Ende doch noch das ganz große Geld zu | |
machen. | |
Denn bislang kommt er damit durch. Und das ist der eigentliche Skandal. | |
Dass die Politik in Berlin nichts dagegen unternimmt, dass ein Investor, | |
der aus Spekulationsgründen ein erst in den 1980er Jahren mit öffentlichen | |
Geldern errichtetes Gebäude mit 100 Wohnungen in bewohnbarem Zustand | |
jahrelang leer stehen lässt, um es verfallen zu lassen und dann mit | |
illegalen Methoden die verbliebenen Mieter*innen skupellos zu vertreiben | |
versucht. | |
Das alles geschieht in einer Stadt, in der Wohnraum dringend gebraucht | |
wird. Doch statt sich auf höchster Ebene dafür einzusetzen, dass solche | |
rechtswidrigen und menschenfeindlichen Praktiken keine Schule machen, und | |
die Mieter*innen zu schützen, ist vom Berliner Senat nichts zu hören. In | |
den zuständigen Senatsverwaltungen verweist man auf den Bezirk Mitte, der | |
ist augenscheinlich überfordert oder nicht willens, dem ein Ende zu setzen. | |
## Die Politik muss Wohnraum erhalten und Mieter schützen | |
Dabei gäbe es durchaus Mittel. Die Stadt könnte das Gebäude beschlagnahmen | |
und wieder bewohnbar machen – und jetzt, kurz vor Wintereinbruch, die | |
Strom- und Warmwasserversorgung wiederherstellen. Sie könnte das Haus, das | |
eigentlich ein [4][Housing-First-Vorzeigeprojekt] ist, weil dort 60 ehemals | |
obdachlose Menschen selbstverwaltet wohnen, rekommunalisieren. Sie könnte | |
den Abriss von intaktem Wohnraum verbieten. Sie könnte den Besitzer wegen | |
Zweckentfremdung belangen und damit anderen windigen Spekulanten zeigen, | |
dass sie in Berlin nicht machen können was sie wollen und | |
Mieter*innenschutz oberste Priorität hat. | |
Doch stattdessen wird lieber symbolträchtig über die per Volksentscheid | |
verbotene [5][Bebauung des Tempelhofer Felds] geredet – wodurch vermutlich | |
weniger bezahlbarer Wohnraum entstehen würde, als hier gerade mutwillig | |
zerstört wird. Wenn der schwarz-rote Senat seinen Auftrag ernst nehmen | |
würde, Mieter zu schützen, Wohnraum zu erhalten und [6][Obdachlosigkeit bis | |
2030 abzuschaffen], dürfte er Zustände wie in der Haberaathstraße nicht | |
hinnehmen. | |
Doch bislang sind Mieter*innen in Berlin im Kampf gegen skupellose | |
Investoren auf sich allein gestellt. Und die Hauptstadt des Mietenwahnsinns | |
sendet damit allen Spekulanten auf der Welt das Signal: Die Stadt gehört | |
euch. | |
21 Oct 2023 | |
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[5] /Bebauung-des-Tempelhofer-Feldes/!5950164 | |
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## AUTOREN | |
Marie Frank | |
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