# taz.de -- US-Ansatz „Housing First“: Vision gegen Obdachlosigkeit? | |
> Bis zum Jahr 2030 will die Bundesregierung Obdachlosigkeit überwinden. | |
> Doch der nationale Aktionsplan lässt auf sich warten. | |
Bild: Ein Unterschlupf in Berlin: Die Ampel will, dass bis 2030 niemand mehr au… | |
BERLIN taz | Bis zum Jahr 2030 soll [1][niemand mehr ohne Wohnung auf der | |
Straße leben] – das hat sich die Ampelregierung im Koalitionsvertrag | |
vorgenommen. Sie übernimmt damit die Zielvorgabe der EU. Um diese zu | |
erreichen, soll erstmals ein nationaler Aktionsplan erarbeitet werden. | |
Dabei soll das Konzept Housing First gefördert werden. | |
Housing First stellt das in Deutschland bestehende System der | |
Obdachlosenhilfe auf den Kopf. Wie der Name verrät, gilt der Grundsatz: | |
zuerst eine Wohnung. Obdachlose Menschen müssen sich nicht erst als | |
„wohnfähig“ erweisen, sie bekommen bedingungslos eine Wohnung, mit eigenem | |
Mietvertrag. Begleitende Hilfen sind freiwillig. Der erfolgversprechende | |
Ansatz, der in den USA entstand, [2][wird schon in vielen deutschen Städten | |
erprobt.] | |
Vor diesem Hintergrund fand am vergangenen Donnerstag das Fachgespräch „Mit | |
Housing First zum Ziel?“ statt, das die Grüne Bundestagsfraktion | |
organisiert hat. „Deutschland ist vergleichsweise spät dran“, sagte | |
Grünenpolitiker Wolfgang Strengmann-Kuhn. Er sei aber stolz, dass es einen | |
nationalen Aktionsplan geben soll, für den sich die Grünen lange stark | |
gemacht hätten. | |
Diskussionsgast war unter anderem Christin Weyershausen, Teamleiterin des | |
Berliner Projekts [3][Housing First Frauen]. „Allein in diesem Jahr wurden | |
32 Frauen in Wohnraum gebracht mit dreizehn Kindern“, berichtete sie. Seit | |
2018 wurden insgesamt 83 Mietverträge abgeschlossen. | |
## Raus aus der Projektphase | |
Trotz des Erfolgs gäbe es im Alltag verschiedene Hürden. „Man bekommt oft | |
Wohnungen angeboten, die stark renovierungsbedürftig sind“, erklärte | |
Weyershausen. Die Renovierungspauschale der Ämter reiche meist nicht aus. | |
Erst kürzlich sei eine junge Frau mit Kind in eine Wohnung gezogen, in der | |
immer noch kein Boden war. Bislang sei der Verein in solchen Fällen auf | |
Spenden angewiesen. | |
Julia von Lindern, Vorstand vom Bundesverband Housing First, der sich im | |
September 2022 gegründet hat, forderte, dass man „aus der Projektphase hin | |
in die Verstetigung kommen“ müsse. Es sei vielfach bewiesen, dass Housing | |
First funktioniert, man müsse nun überlegen, wie das unter den deutschen | |
Rahmenbedingungen gut umgesetzt werden kann. | |
Zentral dafür sei „eine Vereinheitlichung der Regelfinanzierung“. Housing | |
First wird meist über den Paragrafen 67 im Sozialgesetzbuch 12 finanziert. | |
Dort heißt es: „Personen, bei denen besondere Lebensverhältnisse mit | |
sozialen Schwierigkeiten verbunden sind, sind Leistungen zur Überwindung | |
dieser Schwierigkeiten zu erbringen, wenn sie aus eigener Kraft hierzu | |
nicht fähig sind.“ Ländern und Kommunen setzten dies aber unterschiedlich | |
um, kritisiert von Lindern. | |
Volker Busch-Geertsema von der Gesellschaft für innovative Sozialforschung | |
und Sozialplanung ist an der Erarbeitung des Nationalen Aktionsplans | |
beteiligt und hat erste Projekte in Leipzig und Bremen evaluiert. Er | |
beklagt, dass die Hilfe meist zeitlich begrenzt sei: „Das ist nicht so gut | |
vereinbar mit dem, was Housing First vorsieht.“ | |
## Kein Konzept für alle | |
Die dauerhafte Bleibeperspektive für Mieter*innen sei zentral. Für die | |
Träger bedeutet das einen konstanten Bedarf an neuen Wohnungen. Dieses | |
Dilemma könne nur durch politische Maßnahmen wie eine Quotierung oder | |
Belegungsrechte gelöst werden, „sonst steht diese Zielgruppe immer am Ende | |
der Schlange“. | |
Insgesamt sei Housing First ein wichtiger Schritt „zur Überwindung von | |
Wohnungslosigkeit, aber nicht der einzige“, so Busch-Geertsema. 10 bis 15 | |
Prozent schafften es nicht über diesen Ansatz, es brauche deshalb | |
ergänzende Angebote. Ein weiteres Problem ist: Anspruch auf Housing First | |
haben nur Menschen, die auch Anspruch auf Sozialleistungen haben. Das | |
trifft auf viele obdachlose EU-Bürger*innen nicht zu. | |
Wann genau mit dem nationalen Aktionsplan zur Überwindung der | |
Wohnungslosigkeit zu rechnen ist, ist unklar. Er war für dieses Jahr | |
angekündigt, doch nun heißt es auf taz-Nachfrage aus dem | |
Bundesbauministerium, er werde erst im ersten Quartal 2024 ins Kabinett | |
kommen. „In den Gesprächen mit der Zivilgesellschaft, mit der | |
Wohnungswirtschaft und mit den Ländern wurde der Wunsch geäußert, mehr Zeit | |
für die Entwicklung des Aktionsplan einzuräumen“, erklärte eine | |
Ministeriumssprecherin. | |
29 Oct 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Obdachlosigkeit-und-Aufbruch/!5931604 | |
[2] /Hilfe-fuer-Obdachlose/!5946235 | |
[3] https://www.caritas.de/magazin/schwerpunkt/armutswochen-2022/housing-first-… | |
## AUTOREN | |
Jasmin Kalarickal | |
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