# taz.de -- Göttinger Grüne schlagen Hostels vor: Vergessene wohnungslose Fra… | |
> Für Frauen, die in prekären Verhältnissen ohne eigene Wohnung leben, gibt | |
> es viel zu wenig Angebote. Dabei ist diese Gruppe besonders gefährdet. | |
Bild: Drogensüchtige Frauen, wie hier im Frankfurter Bahnhofsviertel, sind Tei… | |
Hannover taz | Göttingen hat ein Problem, finden die Grünen im Rat der | |
Stadt. Und das betrifft vor allem wohnungslose Frauen. Für die gibt es kein | |
adäquates Hilfsangebot. Frauen sind häufiger wohnungs- als obdachlos, | |
treten deshalb weniger in Erscheinung – und erhalten auch weniger Hilfe. | |
Die Unterscheidung zwischen Obdachlosigkeit, also denjenigen, die | |
überwiegend auf der Straße leben, und Wohnungslosen, also Menschen, die in | |
prekären Verhältnissen leben, ohne eigenen Mietvertrag, irgendwo | |
unterschlüpfen oder untergebracht werden, ist deshalb hier besonders | |
wichtig. Von den rund 440 Menschen, die in Göttingen als obdachlos | |
eingestuft werden, sollen bis zu 115 weiblich sein. | |
1.350 Wohnungslose für Stadt und Landkreis Göttingen erfasste die | |
Bundesstatistik im Januar 2023 – hier soll der Frauenanteil bei 42 Prozent | |
liegen. Allerdings zählen [1][hier die in Not- und Massenunterkünften | |
untergebrachten Geflüchteten mit]. Unabhängig davon, wie hoch man die | |
Anzahl der Betroffenen genau beziffert: Daran, dass es bei den | |
Hilfsangeboten für Frauen Lücken gibt, zweifelt kaum jemand. Das hat auch | |
der Soziologe Timo Weishaupt festgestellt, der seit Oktober 2020 an der | |
Universität Göttingen zum Thema forscht. | |
Sein Team hat sich in einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) | |
geförderten Projekt drei Jahre lang der Frage gewidmet, wie es in einem so | |
gut ausgebauten Sozialstaat wie Deutschland sein kann, dass | |
Wohnungslosigkeit zu einem wachsenden Problem wird. | |
## Zu wenig Plätze für Frauen | |
Weishaupt engagiert sich auch selbst, sammelt Spenden, versucht, seine | |
Erkenntnisse in die lokale Politik zu tragen. Dabei mahnt er immer wieder | |
die Versorgungslücke bei frauenspezifischen Angeboten an. | |
Während der Coronapandemie musste beispielsweise die Heilsarmee in | |
Göttingen ihren Frauentrakt sperren. [2][Schon länger war klar, dass das | |
historische Gebäude, in dem sich die Einrichtung befindet, baufällig ist.] | |
Weil dann im Sanitärtrakt im Keller Schwarzschimmel auftrat, konnten die | |
Plätze für Frauen nicht mehr genutzt werden. | |
Damit reduzierte sich das Angebot in Göttingen erheblich. Es gibt zwar noch | |
ein Wohnprojekt der Diakonie am Holtenser Berg, das aber oft auf lange | |
Sicht ausgebucht ist. Ähnlich sieht es bei Frauenhäusern aus, die nicht nur | |
ständig überfüllt sind, sondern auch etliche Einschränkungen haben: Sie | |
nehmen zum Beispiel keine Frauen auf, die psychisch auffällig oder | |
suchtkrank sind, die Söhne in der Frühpubertät haben oder Hunde mitbringen | |
möchten. | |
Ersatzweise wurde in der städtischen Notunterkunft eine Frauen-WG | |
geschaffen. Doch die wird von vielen Frauen gemieden, weil die anderen drei | |
Etagen von Männern bewohnt werden und sie sich in dem verwinkelten Bau | |
nicht ausreichend sicher fühlen – zumal auch der Sicherheitsdienst durchweg | |
männlich besetzt ist und manchmal problematisch auftritt, erklärt | |
Weishaupt. Der [3][berichtet im studentischen Podcast „Freiraum*“ auch | |
davon,] wie Frauen während der Interviews im Forschungsprojekt in Tränen | |
ausgebrochen seien – und er keine Hilfsadresse gefunden habe, an die er sie | |
hätte verweisen können. | |
## Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt | |
Fast alle betroffenen Frauen, betont auch der Göttinger | |
Straßensozialarbeiter Mike Wacker im Gespräch mit den Studenten, hätten | |
traumatische Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt gemacht. Zum Teil sei | |
häusliche Gewalt der Grund, aus dem sie auf der Straße landeten, dort seien | |
sie [4][Übergriffen wieder schutzlos ausgeliefert] oder es werden für einen | |
Schlafplatz auf der Couch „Gefälligkeiten“ eingefordert. Mit der | |
Versorgungslücke steht Göttingen nicht allein da, sagt Wacker. Landesweit | |
gäbe es nur fünf bis sechs Angebote speziell für Frauen – die meisten in | |
Hannover, eines in Braunschweig. | |
„Wir haben schon öfter versucht, diese Erkenntnisse in Arbeitsaufträge für | |
die Stadtverwaltung zu übersetzen“, sagt der grüne Ratsherr Cornelius | |
Hantscher. Auch zur Ratssitzung am Freitag liegt ein entsprechender Antrag | |
vor. Darin wird die Verwaltung aufgefordert zu prüfen, ob wenigstens in den | |
Wintermonaten eine Unterbringung von betroffenen Frauen und ihren Kindern | |
in Pensionen oder Hostels möglich sei, wie es während der Pandemie in | |
vielen Städten erprobt wurde. | |
Dabei gucken die Grünen vor allem nach Leipzig. Hier gibt es ein privates | |
Projekt, das Spenden sammelt, um eine kleine Gruppe Obdachlose in einem | |
Hostel unterzubringen. Und hier hat das Sozialgericht kürzlich [5][das | |
Jobcenter dazu verurteilt, die Unterbringung eines obdachlosen Pärchens in | |
einem Hostel zu bezahlen], solange kein angemessener Wohnraum verfügbar | |
ist. | |
Das Paar dürfe nicht einfach an auf die Notunterkunft verwiesen werden, | |
urteilte das Gericht. Dort hätten sie sich nicht nur trennen müssen, | |
sondern auch der Erfolg ihrer Drogentherapie wäre gefährdet gewesen. Das | |
Paar hatte schon länger versucht, eine passende Wohnung zu finden, war | |
unter anderem aufgrund von negativen Schufa-Einträgen gescheitert. | |
## Göttinger Grüne schauen nach Leipzig | |
Das lässt sich nicht einfach so auf Göttingen übertragen, räumt Hantscher | |
auf taz-Nachfrage ein. Die Stadt keine Spenden sammeln, das | |
Jobcenter-Urteil bezieht sich auf einen Einzelfall. Aber grundsätzlich, | |
sagt Hantscher, wäre das der Paradigmenwechsel, den man sich wünsche: hin | |
zu einer bedarfsgerechten Versorgung. | |
„Natürlich würden wir auch gern größere und nachhaltigere Lösungen | |
anstreben: eine eigene Einrichtung für Frauen, eine Fachstelle für alle von | |
Wohnungslosigkeit bedrohten Personen oder konsequentes Housing First“, | |
erklärt Hantscher. Immerhin gelte der nationale Aktionsplan, der Obdach- | |
und Wohnungslosigkeit bis 2030 abgeschafft haben will. | |
Aber auf lokaler Ebene müsse man kleine Schritte machen. Aber man sei immer | |
wieder aufgelaufen, weil der Bedarf nicht gesehen werde oder die Verwaltung | |
an eigenen Konzepten arbeite. Die ließen allerdings genauso lange auf sich | |
warten wie der neue Standort für die Heilsarmee, über den man schon seit | |
2015 rede: Es gibt ihn immer noch nicht. | |
15 Aug 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Wachsende-Wohnungslosigkeit/!6020273 | |
[2] /Haus-der-Heilsarmee-in-Goettingen/!6003757 | |
[3] https://www.zess.uni-goettingen.de/journalistischepraxis/soziologisches-for… | |
[4] /Gewalt-gegen-Wohnungslose/!6009711 | |
[5] https://www.gegen-hartz.de/urteile/buergergeld-jobcenter-muss-hotel-zahlen-… | |
## AUTOREN | |
Nadine Conti | |
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