# taz.de -- Gewalt gegen Wohnungslose: Opfer des neoliberalen Kältestroms | |
> Die Zahl der Angriffe auf Wohnungslose steigt. Vor allem Gewalt gegen | |
> Frauen wächst an. Die Frage nach dem Motiv bleibt oft unbeantwortet. | |
Bild: Immer wieder erfahren Wohnungslose Gewalt, mit steigender Tendenz | |
Berlin taz | Eine Hirnblutung war die Todesursache. Erst am vergangenen | |
Dienstag wurde ein schwer verletzter Obdachloser in Immenstadt im Allgäu | |
gefunden, in einem Vorraum einer Bankfiliale. Der 53-Jährige konnte | |
Polizeibeamten noch den Täter beschreiben, eine intensivmedizinische | |
Behandlung aber half nicht mehr – der Mann verstarb. Der Täter, ein | |
17-Jähriger, den die Polizei als Intensivtäter führt, konnte aufgrund der | |
Beschreibung festgenommen werden. | |
Es ist kein Einzelfall. Laut aktueller Antwort des Bundesinnenministeriums | |
auf eine Anfrage der Linken-Bundestagsabgeordneten Martina Renner [1][stieg | |
die Gewaltkriminalität gegen obdachlose und wohnungslose Menschen] von 2018 | |
bis 2023 um 36,8 Prozent an. So wurden allein im vergangenen Jahr 885 | |
Gewalttaten registriert. Die Straftaten gegen Wohnungslose generell stiegen | |
von 1.560 Delikten im Jahr 2018 auf 2.122 im Jahr 2023. | |
Die Antwort aus dem Innenministerium zeigt zudem, dass Gewalt gegen Frauen, | |
die obdachlos oder wohnungslos sind, in den vergangenen fünf Jahren um 46,2 | |
Prozent angestiegen ist, bei den Männern um 34,8 Prozent. Ob das Geschlecht | |
auch mit Auslöser der Tat war, wird in der [2][Polizeilichen | |
Kriminalstatistik (PKS)], welche die Basis für die Zahlen ist, indes nicht | |
erfasst. | |
Das Innenministerium verweist jedoch auf eine empirische Untersuchung des | |
Bundesministeriums für Arbeit und Soziales aus dem Jahr 2021. Dort gaben | |
35,9 Prozent der wohnungslosen Frauen an, seit Beginn der Obdachlosigkeit | |
bereits Opfer von „sexuellen Belästigungen, sexuellen Übergriffen und | |
Vergewaltigungen“ geworden zu sein. Bei den Männer berichteten 3 Prozent | |
von solchen Taten. 13,3 Prozent der Frauen gaben an, zur Prostitution | |
genötigt worden zu sein. Frauen ohne Unterkunft waren wesentlich häufiger | |
von Übergriffen und Vergewaltigung betroffen (50,4 Prozent) als Frauen, die | |
in verdeckter Wohnungslosigkeit lebten (30,6 Prozent). | |
## Die Linke fordert Offensive für Plätze in Frauenhäusern | |
Die Zahlen zeigen für Renner, dass „durch die misogynen Einstellungen | |
insbesondere Frauen und weiblich gelesene Personen stark und offenbar | |
zunehmend gefährdet“ seien. Einmal mehr unterstreiche es „das zusätzliche | |
Schutzbedürfnis von Frauen in Wohnungs- und Obdachlosigkeit“. Renner | |
fordert von der Bundesregierung eine „Offensive für Schutzplätze in | |
Frauenhäusern und Zufluchtwohnungen“. | |
Die Statistik der PKS erfasst allerdings nicht die Tätergruppen. Somit kann | |
das Bundeskriminalamt nicht angeben, wie viele Obdach- oder Wohnungslose | |
Todesopfer rechter Gewalt geworden sind. Renner kritisiert diese | |
Leerstelle: „Die Bundesregierung erkennt zwar Hasskriminalität aufgrund des | |
gesellschaftlichen Status als Tatmotiv an, versäumt es aber, mittels | |
geeigneter und sinnvoller Kategorisierung Täter*innengruppen zu | |
identifizieren.“ | |
In ihrer Antwort verweist das Innenministerium aber auf Zahlen der | |
Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W). Auf Grundlagen von | |
Medienberichten geht die BAG W [3][von 17 Gewalttaten mit Todesfolge im | |
vergangenen Jahr aus]. Seit 1989 seien rund 20 Prozent der Todesopfer | |
rechter Gewalt Menschen gewesen, die auf der Straße lebten, so die BAG W. | |
Viele der Gewaltverbrechen gegen Wohnungslose dürften allerdings „im | |
Dunklen bleiben“. | |
Soweit die Täter*innen nicht selbst aus dem Obdachlosenmilieu kommen, | |
handelt es sich laut der BAG W in der Regel um jüngere Männer, die teils | |
aus einer Gruppe heraus gewalttätig werden. Bei solchen Übergriffen | |
spielten menschenverachtende oder rechtsextreme Motive nicht selten eine | |
zentrale Rolle. Tatmotive seien sozialdarwinistische Einstellungen sowie | |
die Überzeugung, Wohnungslose wären „unwertes Leben“, so die BAG W. | |
## Abgestempelt als „nutzlos, dumm oder faul“ | |
Um zu morden und zuzuschlagen, brauchen die Täter*innen kein | |
geschlossenes rechtsextremes Weltbild, betont die 2023 erschienene Studie | |
„Die distanzierte Mitte“ der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES). Eine „soziale | |
Dominanzorientierung“ genüge. Schon vor Jahren warnte [4][der jüngst | |
verstorbene Soziologe Oskar Negt] vor einem „Kältestrom“ durch die | |
neoliberale Alltags- und Berufsrealität. Die Empathie nehme gegenüber | |
Hilfsbedürftigen ab. Der Leistungsdruck und Verlustängste könnten jene, die | |
Einkommen und Wohnung haben, zu Abwertungen und Angriffen auf andere | |
treiben. | |
Auch die FES-Studie stellte fest, dass Menschen und Gruppen, die | |
vermeintlich gegen das gesellschaftliche Leistungsprinzip handelten, als | |
„nutzlos, dumm oder faul“ abgewertet würden. So wollen fast 20 Prozent der | |
Befragten keine bettelnden Obdachlosen in Fußgängerzonen sehen. In einer | |
früheren Befragung forderten 13 Prozent der Befragten, Bettelnde aus | |
Einkaufsstraßen zu entfernen. | |
13 May 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Zahl-der-Angriffe-auf-Obdachlose-steigt/!6001936 | |
[2] /Kriminalstatistik-der-Polizei/!6001297 | |
[3] /Zahl-der-Angriffe-auf-Obdachlose-steigt/!6001936 | |
[4] /Nachruf-auf-Oskar-Negt/!5989935 | |
## AUTOREN | |
Andreas Speit | |
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