# taz.de -- Vom Ahrtal ins Tiny House: Das Leben nach der Flut | |
> Die Mutter unserer Autorin verlor in der Ahrtal-Flut vor drei Jahren ihr | |
> Zuhause und zog in ein Tiny House. Was braucht sie, um glücklich zu sein? | |
Bild: Wohnküche mit bodentiefen Fenstern: Platz ist in der kleinsten Hütte | |
Meine Mutter lebt in einem Tiny House. Es ist 34 Quadratmeter groß und | |
steht auf einer Wiese zwischen Rosenhecken und Pflaumenbäumen, flankiert | |
von zwei großen Einfamilienhäusern. Seit drei Jahren lebt sie jetzt schon | |
darin. Ihr vorheriges Zuhause verließ sie nicht freiwillig. [1][Die | |
Flutkatastrophe im Ahrtal] zerstörte 2021 ihre Mietwohnung und mein | |
Elternhaus, ein paar Straßen weiter. Nach der Flut wurden im Ahrtal 170 | |
Tiny Houses aufgestellt. Meine Mutter konnte für eine monatliche Gebühr von | |
400 Euro eines davon beziehen. Sie wohnt gerne in diesem Tiny House. | |
Menschen wollen beides: Wohlstand und Sicherheit. Vertrackterweise ist es | |
gerade unser Wohlstand und unsere Art zu leben, [2][die die Welt unsicherer | |
machen]. Um das auszutarieren, müssen wir in verschiedenen Lebensbereichen | |
den Sweetspot zwischen Wohlstand und selbst auferlegter Beschränkung | |
finden, der sich angesichts des Klimawandels rechtfertigen lässt – auch | |
beim Wohnen. Es war unter anderem die dichte Bebauung, die die Flut im | |
Ahrtal so verheerend ausfallen ließ. Wie viel Platz braucht es also zum | |
Leben? Und wie viel zum guten Leben? | |
Es gibt darauf unzählige Antworten, die sich je nach Lebensphase ändern | |
können. Hätte ich meine Mutter vor dreißig Jahren gefragt, hätte sie | |
vermutlich gesagt: Ein Haus mit einem großen Garten! Das waren die | |
Wohnverhältnisse, in die ich hineingeboren wurde: Ich wuchs in einem alten | |
Haus mit Garten auf, in dem wir als Kinder herumtollten. 120 Quadratmeter | |
für eine Familie. Die nächste Station war für meine Mutter nach der | |
Trennung eine Wohnung mit rund 60 Quadratmetern. Sie hatte sich gerade | |
fertig eingerichtet, als die Flut sie am Abend des 14. Juli 2021 | |
überraschte. Sie entkam dem Wasser so gerade noch, durchs Fenster. Es | |
folgten Monate in Gummistiefeln und Gästezimmern. | |
[3][Und dann das Tiny House], 34 Quadratmeter. Wieder ein neuer Ort. „Das | |
hätte ich damals auch nicht gedacht, dass mein Leben so verläuft“, sagt | |
sie. Dennoch fühlt sie sich wohl. Da kann der Wind noch so sehr an der | |
Plastikfassade rütteln, hier drinnen hat sie wieder ihren Platz. Doch auch | |
aus dem Tiny House muss sie bald wieder raus – bis Ende des Jahres muss sie | |
ausziehen. | |
Einer der Gründe dafür: Das Häuschen entspricht nicht der Bauordnung. In | |
Rheinland-Pfalz ist unter anderem festgelegt, dass die Deckenhöhe in | |
Wohnräumen 2,40 Meter hoch sein muss. In Hamburg reichen 2,30 Meter aus, in | |
Berlin sind es sogar 2,50 Meter. Das Häuschen, in dem sie nun seit drei | |
Jahren lebt, und mit dessen wenigen Quadratmetern sie gut zurechtkommt, ist | |
also laut Baurecht zu klein für sie. | |
Herbert Hofer, Vorstandsmitglied der Architektenkammer Rheinland-Pfalz, | |
schmunzelt ein bisschen, als ich ihm von der Situation meiner Mutter | |
erzähle. Dass es diese Regelungen im Baurecht gibt, hat natürlich gute | |
Gründe. | |
## Wohnen muss Bedürfnisse erfüllen | |
Vor etwa 150 Jahren noch war das Wohnen mancherorts sehr beengt, es | |
entstand der Begriff der Mietskaserne. Eigentümer machten Geld mit kleinen | |
Parzellen, Hinterhöfe wurden zugebaut, sodass die dort gelegenen Zimmer | |
kaum Luft und Licht erreichte. Mehrköpfige Familien hausten oft gedrängt in | |
einem Zimmer. Die Kinder schliefen auf dem Fußboden und manchmal war es in | |
den Räumen so feucht, dass sich Schimmel ausbreitete und die Tapete von den | |
Wänden löste. | |
Als Reaktion auf diese unmenschlichen Verhältnisse wurden Vorschriften | |
formuliert – um Mieter*innen zu schützen. Mindestmaße sind also zunächst | |
einmal gut, denn: Man kann auch zu wenig Platz zum Leben haben. Was diese | |
Regel jedoch eigentlich zu fassen versucht, so Architekt Hofer, sei das | |
Bedürfnis nach Privatsphäre, nach Licht, Luft und Wärme. Es geht also | |
darum, dass Wohnen menschliche Bedürfnisse erfüllen muss. | |
Hofer ist begeistert von der Idee, Wohnraum möglichst effektiv zu nutzen. | |
Er entwirft gelegentlich selbst Tiny Houses, die dann allerdings dem | |
Baurecht entsprechen. Richtig in Fahrt kommt er, als er vom Ownhouse | |
erzählt. Das sieht fast aus wie ein Tiny House, ist aber quasi next level. | |
Das Ownhouse wurde von seinem Erfinder Klemens Jakob im Sinne maximaler | |
Nachhaltigkeit konzipiert. Es kann aus natürlichen Materialien wie Holz und | |
Lehm selbst gebaut werden, um darin autark zu leben. Gemüse wächst im | |
Wintergarten, das Regenwasser wird durch eine Pflanzenkläranlage gereinigt. | |
Und das alles auf 18 Quadratmetern! | |
## Der plötzliche Verlust des Zuhauses traumatisiert | |
Gerade in puncto Nachhaltigkeit unterscheidet sich das Ownhouse von | |
gewöhnlichen Tiny Houses – denn besonders nachhaltig sind Letztere nicht | |
unbedingt. Das Tiny House meiner Mutter ist etwa nicht gut gedämmt, die | |
Wände sind dünn und der Stromverbrauch ist darum relativ hoch. Hofer ist | |
dennoch überzeugt: Wer minimalistisch lebt, der verbraucht weniger. | |
Schließlich muss weniger Wohnfläche beheizt werden, und viel besitzen kann | |
man auch nicht, dafür fehlt schlicht der Platz. „Ich habe hier nur das, was | |
ich wirklich brauche“, sagt auch meine Mutter. Vieles, was sie früher | |
besaß, benötigt sie hier nicht. | |
Vielleicht sollte man die Frage also anders formulieren – offenbar geht es | |
beim Wohnen weniger um die Quadratmeterzahl als vielmehr um die Frage: Was | |
braucht es fürs gute Wohnen? | |
Hofer sagt: „[4][Wenn wir die Bedürfnisse ans Wohnen herunterbrechen, ist | |
es zunächst Schutzbedürfnis]. Die erste Schutzhülle ist die Haut, die | |
zweite die Kleidung und die dritte ist sozusagen der Wohnraum.“ Das meint | |
er ganz praktisch, als Schutz vor Hitze, Regen und Kälte. Aber auch | |
psychologisch gesehen sind die eigenen vier Wände ein Schutz vor der | |
Außenwelt. Sie sind Abgrenzung und ermöglichen Privatsphäre. | |
Was passiert, wenn diese Schutzhülle fehlt, hat der Architekt Hofer selbst | |
erlebt. Er steht regelmäßig in Schuld, einem Dorf an der Ahr, an einem | |
Infopoint. Dieser ist ein gemeinsames Angebot des Helfer-Stabs, der | |
Investitions- und Strukturbank Rheinland-Pfalz und der Architektenkammer. | |
Expert:innen beraten hier zum Wiederaufbau. Manche Menschen, die zu ihm | |
kämen, kämpfen seit der Flutkatastrophe mit Traumata. Hofer befasst sich | |
also als Architekt auch mit Schwierigkeiten im Wiederaufbau, die | |
psychologischer Ursache sind. Dass man durch den Verlust des Zuhauses über | |
Nacht traumatisiert werden kann, leuchtet ein: Schließlich wird der | |
vermeintliche Schutz vor dem Außen jäh zerstört. | |
## Immer mehr Raum für immer weniger Menschen | |
Schutz vor dem Außen suchen die Deutschen in den letzten Jahrzehnten auf | |
immer mehr Wohnraum. Lebte eine Person in Deutschland 1991 im Durchschnitt | |
noch auf 34,9 Quadratmetern, standen einem Menschen im Jahr 2021 bereits | |
47,7 Quadratmeter zur Verfügung. Das ist ein Anstieg von 37 Prozent binnen | |
30 Jahren. Bedürfnisse sind dadurch allerdings nicht zwingend besser | |
erfüllt: Viele ältere Menschen haben wesentlich mehr Wohnraum zur | |
Verfügung, als sie brauchen, und fühlen sich in leeren Zimmern einsam, | |
junge Familien drängen sich in engen Wohnungen. | |
Womit wir beim nächsten Thema wären: Was es aktuell am dringendsten | |
braucht, ist mehr bezahlbarer Wohnraum in den Städten. Für viele Menschen | |
ist die Miete der größte Ausgabenposten. Hierzulande leben mehr als die | |
Hälfte der Menschen in Mietwohnungen, Höchstwert in der EU. In den | |
vergangenen 30 Jahren ist jedoch – parallel zur steigenden Quadratmeterzahl | |
– die Anzahl an Sozialwohnungen zurückgegangen und der Mietpreis pro | |
Quadratmeter gestiegen. Hofer fordert daher, dass das Wohnraumschaffen | |
einfacher werden müsse. Das hieße auch: „Man müsste schauen, welche | |
Regelungen wirklich notwendig sind.“ | |
Hofer wünscht sich mehr Flexibilität. Für sinnvolle Lösungen müsse man | |
verschiedene Wege gleichzeitig gehen. Vor meinem inneren Auge entstehen | |
Städte, in denen Tiny Houses in Baulücken stehen und die sich organisch | |
nach den Bedürfnissen der Menschen entwickeln. An der Ahr ist genau das | |
gelungen – die Not hat flexibel gemacht. Durch eine Kooperation der | |
Gemeinden, dem Aktionsnetzwerk „Deutschland hilft“ und der Tatkraft vieler | |
Helfenden konnten nach der Flut die Tiny Houses aufgestellt werden, von | |
denen auch meine Mutter eines bewohnt. Diese Art von unbürokratischer | |
Kooperation war „ein absoluter Sonderfall in unserer gesamten Geschichte“, | |
erklärt Birte Steigert vom Aktionsnetzwerk „Deutschland Hilft“. | |
## Wo sie gebraucht werden | |
Könnte das auch eine Lösung für Süddeutschland nach dem Hochwasser sein? | |
Dazu Steigert: „Angesichts von Flutkatastrophen wird das in Zukunft ein | |
wichtiges Thema.“ | |
Was mit den Tiny Houses im Ahrtal passiert? Das lässt sich pauschal nicht | |
beantworten. Viele sind in den Besitz der Gemeinden übergegangen, werden | |
weggekarrt und anderweitig genutzt. Sie waren schließlich von Anfang an nur | |
als provisorische Notlösung gegen drohende Obdachlosigkeit angedacht. Und | |
vielleicht finden ein paar von ihnen auch den Weg dorthin, wo sie gerade | |
dringender gebraucht werden. | |
Meine Mutter hat inzwischen eine neue Wohnung gefunden, im Herbst wird sie | |
einziehen. Wenig zu besitzen, sagt sie, sei für sie mittlerweile auch eine | |
Form von Freiheit geworden. | |
19 Jun 2024 | |
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## AUTOREN | |
Lena Frings | |
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