| # taz.de -- Umziehen im Alter: Neuanfang ist immer möglich | |
| > Die Umzugsfreudigkeit der über 65-Jährigen steigt. Ein Altersforscher | |
| > erklärt, woran das liegt, und vier Pensionist:innen erzählen von | |
| > ihren Erlebnissen. | |
| wochentaz: Herr Oswald, die Babyboomer:innen gelten im Alter als | |
| flexibler im Vergleich zu den älteren Generationen vor ihnen. Wagen jetzt | |
| also viele der über 65-Jährigen noch mal einen Neuanfang und wechseln den | |
| Wohnort? | |
| Frank Oswald: Die Umzugshäufigkeit älterer Menschen nimmt zwar zu, aber auf | |
| einem sehr niedrigen Niveau. [1][Die Umzugshäufigkeit jenseits des 65. | |
| Lebensjahrs] ist sehr viel geringer als im Rest der Bevölkerung. | |
| Welches sind denn die Motive für Umzüge nach dem Beginn des Ruhestands? | |
| Wir unterscheiden Grundmotive und sogenannte Wachstumsmotive. Ein | |
| Grundmotiv ist zum Beispiel, wenn mir das Haus zu groß geworden ist, wenn | |
| ich den Garten nicht mehr schaffe, wenn ich barrierefrei wohnen will, um | |
| selbstständig zu bleiben. Dann muss ich umziehen, zum Beispiel in eine | |
| altersgerechte Wohnung. Bei der Hälfte der älteren Umziehenden erkennen wir | |
| aber Wachstumsmotive, das heißt, die Menschen entscheiden sich freiwillig | |
| für einen Umzug, vielleicht um näher zu den Kindern und Enkeln zu ziehen | |
| und sich aktiv an deren Betreuung zu beteiligen. Manchmal ziehen Menschen | |
| auch wieder in ihre Herkunftsregion, nachdem sie vorher aus beruflichen | |
| Gründen woanders gelebt haben. | |
| Spielt denn auch ein wärmeres Klima eine Rolle? Die Deutsche | |
| Rentenversicherung überweist alljährlich an 22.000 deutsche | |
| Ruheständler:innen in Spanien Renten. | |
| Es gibt Deutsche, die beispielsweise nach Mallorca ziehen als | |
| Zweitwohnsitz, meist sind das dann ihre früheren Urlaubsorte. Das ist aber | |
| eher eine temporäre Migration, viele behalten trotzdem noch eine Wohnung in | |
| Deutschland. Der Umzug mündet dann oftmals eher in die Segregation, nicht | |
| in die Integration, die deutschen Rentnerinnen und Rentner bleiben im | |
| Ausland häufig unter sich. | |
| Ziehen Rentner:innen auch aus Kostengründen um? Etwa weil sie glauben, | |
| im Ausland billiger leben zu können? | |
| Die temporäre transnationale Migration gibt es in der teuren und in der | |
| billigen Variante, je nachdem wo man hinzieht. Aber das trägt langfristig | |
| eher nicht. Man merkt vielleicht, dass die gesundheitliche Versorgung vor | |
| Ort nicht so gut ist wie gewünscht; dass der Nachbar mit seinem | |
| Schlaganfall doch sehr weit weg war vom nächsten Krankenhaus. Diese Umzüge | |
| betreffen zudem nur eine kleine Gruppe. Zwei Drittel aller Umzüge jenseits | |
| der 65 finden im unmittelbaren Umfeld im Inland statt. | |
| Wer umzieht, bleibt also lieber in der Region? | |
| Die Verbundenheit mit der Region, mit dem Ort, [2][dem Kiez] und der | |
| Wohnung ist grundsätzlich stark und im hohen Alter noch mal stärker. Die | |
| Menschen wollen, wenn sie im Alter umziehen, möglichst in ihrer Stadt und | |
| möglichst fußläufig zu ihrem alten Kiez bleiben. Man muss aber sehen: Die | |
| allermeisten älteren Menschen wollen gar nicht umziehen, sie wollen in | |
| ihrer angestammten Wohnung und Gegend bleiben, fast um jeden Preis. | |
| Woher kommt diese Verbundenheit, wenn die Wohnung doch eigentlich zu groß | |
| geworden ist und sich die Nachbarschaft über die Jahre stark verändert hat? | |
| Zum einen ist es schlichte Gewohnheit, zum anderen ist die Verbundenheit | |
| zur Wohnung, zum Haus und zur Umgebung so stark, weil das eine Verbindung | |
| zur eigenen Biografie, ein wichtiger Erinnerungsanker in die Vergangenheit | |
| sein kann. Hier habe ich mit meinem Mann gelebt, in diesem Zimmer haben | |
| meine Kinder gespielt, auf diesem Sessel herumgeturnt. Ich kenne die | |
| Nachbarschaft, als es noch kaum Autos gab auf der Straße, und so weiter. | |
| Das ist eine Verbundenheit, die man von außen gar nicht sieht, die mit der | |
| Dauer zu tun hat, die man hier gelebt hat. Deswegen funktioniert es nur | |
| selten, wenn man von Menschen verlangt, die größere Wohnung gegen eine | |
| kleinere irgendwo anders einzutauschen. Da helfen auch keine Umzugsprämien. | |
| Viel wird ja immer erzählt über das [3][gemeinschaftliche Wohnen im Alter] | |
| als alternative Lebensform zum Alleinsein. Werden diese Modelle denn | |
| tatsächlich populärer? | |
| Na ja, es wird über das gemeinschaftliche Wohnen mehr berichtet als drin | |
| gewohnt. Die Häufigkeit von alternativen Wohnformen für Menschen ab 65 | |
| Jahre und älter liegt unter 3 Prozent. | |
| Welche Voraussetzungen bringen die Leute dafür mit? | |
| Das Wichtigste ist: Ich muss dafür bereit sein, mich aktiv einzubringen, | |
| Mitverantwortung zu übernehmen und nicht nur Annehmlichkeiten zu empfangen | |
| und darauf zu warten, dass ich bedient oder im Falle des Falles sogar | |
| versorgt werde. Das funktioniert sicher nicht. Es ist kein Modell, das | |
| quasi dem Heim vorgelagert ist. Es funktioniert immer nur dann, wenn eine | |
| grundlegende Bereitschaft zur Mitwirkung vorhanden ist. | |
| Welche Menschen beteiligen sich denn an solchen Projekten? | |
| Relativ häufig sind es jüngere, allein lebende Frauen, etwa 65 bis 80 Jahre | |
| alt. Paare in dieser Altersgruppe sind ebenfalls häufig. Allein lebende | |
| Männer sind dagegen eher relativ selten, vielleicht sind sie nicht | |
| entscheidungsfreudig genug. | |
| Wenn Frauen zahlenmäßig so stark vertreten sind in den Projekten, müssen | |
| sie wohl nicht zuletzt auch untereinander sehr konfliktfähig sein? | |
| Man sollte in jedem Fall ein gerüttelt Maß an Sozialkompetenz mitbringen. | |
| Zwei andere Eigenschaften helfen auch – und das sind Offenheit und soziale | |
| Verträglichkeit. Offenheit für neue Erfahrungen ist generell wichtig für | |
| ein gutes Altern, Offenheit Neuem gegenüber, ob es Technik ist oder ob es | |
| andere Menschen sind, das ist enorm wichtig, nicht nur, aber auch im | |
| Bereich des Wohnens. | |
| Hat das auch etwas mit Bildung zu tun? | |
| Der Bildungsvorteil schwingt immer mit, weil Menschen mit höherer Bildung | |
| häufig bessere finanzielle Ressourcen haben und sich mehr leisten können. | |
| So sind Angebote, die zum Beispiel Barrierefreiheit mit ökologischem | |
| Wohnungsbau verbinden, besonders attraktiv, aber auch eher hochpreisig. Wir | |
| haben solche Angebote auch hier in Frankfurt und der Region. | |
| Ist auch die Biografie wichtig für die Sozialkompetenz? | |
| Es gibt Hinweise darauf, dass es hilfreich ist, dass viele Babyboomer | |
| früher schon mit anderen Personen zusammengewohnt haben, als Studenten in | |
| einer Wohngemeinschaft zum Beispiel. Wenn jemand Wohngemeinschafts- und | |
| Umzugserfahrungen von früher mitbringt, macht das einen Unterschied, was | |
| die realistische Einschätzung von Erwartungen an gemeinschaftliches Wohnen | |
| im Alter betrifft. Aber man darf nicht vergessen: Die Planungsdauer für | |
| solche Projekte beträgt oft fünf, sechs Jahre. Wer am Anfang dabei ist, | |
| zieht am Ende vielleicht gar nicht mehr ein. Und Gruppen haben häufig ihre | |
| eigene Dynamik: Mitunter sind es persönlichkeitsstarke „Projektprofis“, die | |
| sich engagieren und dann auch durchsetzen, auch damit muss man klarkommen. | |
| Interview: Barbara Dribbusch | |
| ## Wilfried und Doris Weber sind 72 und kürzlich aus Mittelhessen nach | |
| Berlin gezogen | |
| Nach Berlin gehen, das machen die jungen Leute, die Studierenden, die | |
| Kreativen, die Spinner, die für das Leben auf dem Land zu verrückt sind. So | |
| hört man es oft. Doris und Wilfried Weber sind auch gerade hierher gezogen, | |
| allerdings sind die beiden 72 Jahre alt und damit eigentlich schon aus dem | |
| Gröbsten raus. | |
| „Wir haben uns mit 15 kennengelernt, als wir in dieselbe Klasse kamen“, | |
| erzählt Doris Weber. „Einmal habe ich eine Feier unten in unserem | |
| Partykeller veranstaltet. Wilfried erschien einfach uneingeladen. Seitdem | |
| sind wir zusammen.“ | |
| In dem großen Haus darüber, dem ihrer Eltern, wohnten die beiden später | |
| selbst und gründeten eine Familie. Zehn Zimmer, der Speicher, der | |
| Wintergarten, der Partykeller natürlich und der riesige Garten drumherum: | |
| jede Menge Platz im kleinen Niederkleen bei Gießen. Doch spätestens, als | |
| die beiden Töchter ausgezogen waren, spürte das Ehepaar, wie es im Dorf | |
| nach und nach leerer wurde. „Ich fing an, mich alleine im Haus zu | |
| fürchten“, sagt Doris Weber. „Ich spürte, dass ich hier nicht einsam alt | |
| werden will. Dazu die viele Arbeit mit dem Haus und dem Garten, das konnten | |
| wir kaum allein bewältigen.“ | |
| Also verkauften die Webers ihr Haus und tauschten es gegen eine Wohnung in | |
| Friedrichshain um, drei Zimmer in einem schicken Neubau. „Wir sind für mehr | |
| Familienleben nach Berlin gezogen“, erklärt Wilfried Weber. „Eine Tochter | |
| lebt hier, wir können hier viel mehr Zeit mit unseren beiden Enkelkindern | |
| verbringen. Auch Doris’ Bruder lebt schon lange hier.“ Durch die vielen | |
| Besuche war die große Stadt längst keine unheimliche Unbekannte mehr. | |
| Doch sich von so vielen Dingen trennen, den Heimatort verlassen, noch | |
| einmal neu anfangen: das muss doch furchtbar schwer gefallen sein, wird | |
| Doris Weber oft gefragt. „Die Trennung vom Haus eigentlich nicht“, | |
| antwortet sie. „Es ist eher eine große Erleichterung, dass wir die viele | |
| Arbeit nicht mehr haben. Dass wir uns rechtzeitig zum Umzug entschieden | |
| haben, bevor wir zu müde werden.“ | |
| Aus dem alten Haus konnten die beiden kaum etwas mit in die neue Wohnung | |
| nehmen. Eine Lampe, eine kleine Modelleisenbahn, die bunte Schlangenfigur, | |
| die Briefmarkensammlung, der Karton mit den ganzen Dias, die man mal wieder | |
| durchschauen müsste. „Die alten Möbel waren viel zu groß für die Zimmer | |
| hier, wir haben viel verschenkt und uns neu eingerichtet.“ Aber an | |
| Gegenständen würden die beiden ohnehin nicht so besonders hängen. An den | |
| Menschen aus der Heimat schon eher. | |
| „Sich von den Freunden und Bekannten zu verabschieden, in meiner | |
| Gymnastikgruppe und Wilfrieds Handballverein, das war schwer“, sagt Doris | |
| Weber. In Berlin müssen sie neben dem Familienleben erst einmal wieder | |
| Kontakte knüpfen. Dafür aber haben sie gleich ums Eck ein neues Stammlokal | |
| für sich entdeckt und erkunden bei Ausflügen die schönen Ecken der Stadt | |
| und ihres Brandenburger Umlands. Und wenn der Berliner Winter mal aufs | |
| Gemüt drückt, besuchen sie einfach ihre andere Tochter. Die wohnt in | |
| Australien. Die Flüge sind schon gebucht. | |
| Von Philipp Brandstädter | |
| ## Peter Heinzke, 74, Angelika Pohlert, 79, Shahla Feyzi, 70, betreiben | |
| Co-Housing in Köln-Nippes | |
| Gerade war die taz gegründet worden, da zog Angelika Pohlert in ihre erste | |
| Wohngemeinschaft. Leben und lieben, mit sechs anderen Leuten, und das auch | |
| noch auf dem Land, in einem Gutshaus in Kleve an der holländischen Grenze. | |
| „Solche unbürgerlichen Wohnverhältnisse waren nahezu anrüchig damals“, | |
| erzählt Pohlert und schmunzelt. 46 Jahre ist das nun her. | |
| Heute [4][ist das WG-Konzept] völlig normal, vor allem in den Großstädten. | |
| Unter Rentner:innen bleibt es eher ungewöhnlich. Und das ist auch das | |
| Co-Housing-Projekt in Köln-Nippes, in dem Pohlert heute wohnt. Eine | |
| Freundin Pohlerts, Gisela Hauck, wollte nicht alleine wohnen, ebenso Shahla | |
| Feyzi, nachdem deren Tochter ausgezogen war. Sie war in den 1980er-Jahren | |
| aus dem Iran geflohen. In Teheran hatte auch sie im Studentenwohnheim | |
| gewohnt. Nun sind die drei Frauen im fortgeschrittenen Alter | |
| WG-Genoss:innen. | |
| Der Vierte im Bunde ist Peter Heinzke. „Ich habe schon ein traditionelles | |
| Familienleben in einem Haus auf dem Land gehabt, in der Eifel“, sagt er. | |
| „Doch nach der Trennung von meiner Frau und dem Auszug der Kinder sehnte | |
| ich mich zurück in die Stadt.“ | |
| Also haben die vier mit einer Baugemeinschaft ein Wohnprojekt im Kölner | |
| Norden gegründet, in einer Neubausiedlung auf einem Gelände, das früher | |
| einmal eine Gummifabrik war. „Was gar nicht so einfach war“, erzählt | |
| Heinzke. „Es müssen sich ein paar Leute finden, die mutig sind, den Schritt | |
| zu gehen und Geld in die Hand nehmen.“ Dann wurde ein Haus gebaut, für das | |
| Co-Housing auf der zweiten Etage musste eine passende Eigentumsform | |
| entwickelt werden. Alles, was die korrekte Bürokratie eben so verlangt, | |
| 0,75 Garagenplätze für jeden und anderer Unfug, den keiner vorhergesehen | |
| hatte.„Doch nun haben wir es geschafft“, sagt Heinzke und meint damit | |
| „einen angenehmen Luxus in der Balance zwischen Zweck- und Kuschel-WG“. | |
| „Es ist ein bisschen anders als damals in Kleve“, sagt Pohlert. „Das Alter | |
| bringt viel mehr Langmut mit sich.“ Über leere Milchkartons im Kühlschrank, | |
| schlecht geputzte Töpfe und zu laute Partys bis in die Morgenstunden muss | |
| sich hier niemand aufregen. | |
| Die vier sind entweder in ihrer Gemeinschaftsküche zusammen, oder sie | |
| ziehen sich in ihren eigenen Bereich zurück, 40 Quadratmeter mit eigenem | |
| Bad. Dazu die Räume, die das ganze Haus nutzt: eine Dachterrasse, ein | |
| Gemeinschaftsraum, eine Werkstatt im Keller, die regelmäßig in ein | |
| Repair-Café verwandelt wird. „Wir haben im ganzen Haus eine gute Mischung | |
| an Leuten, die sich kennen, mögen und gemeinsam entscheiden, wie wir unser | |
| Zusammenleben gestalten“, sagt Heinzke. Und welche Anschaffungen man | |
| tätigt: Solar auf dem Dach, Weinreben an der Hausfassade, Vogelkästen auf | |
| den Balkons. | |
| Angelika Pohlert hat sich übrigens gerade neu verliebt, „in Ulrich“ von | |
| Gegenüber. Kennengelernt haben sie sich im Rentner:innen-Café. | |
| Von Philipp Brandstädter | |
| ## Ute Grünwedel, 82, und Hildegard Ruder, 79, leben im Wohnprojekt Olga | |
| („Oldies leben gemeinsam aktiv“) in Nürnberg | |
| Warum leben Frauen im Durchschnitt länger als Männer? Weil sie später | |
| wenigstens noch ein paar schöne Jahre haben wollen. Diesen Scherz hören die | |
| Bewohnerinnen des Wohnprojekts Olga öfter. Im Haus wird gerade das | |
| 20-jährige Bestehen (nach-)gefeiert, Gratulationen aus der Lokalpolitik und | |
| Medienrummel inklusive. | |
| Auch ohne Jubiläum ist in dem Haus genug los: Elf Olgas leben in dem Haus | |
| mit den Ein- bis Zweiraumwohnungen und einem großen Garten. Bewohnerin Ute | |
| Grünwedel ist den Trubel gewohnt. „Das ist gar nichts im Vergleich zu | |
| meinem früheren Leben“, sagt sie. 30 Jahre lang hat sie ein Internat mit | |
| über 200 Jugendlichen geleitet – und auf dem Gelände gewohnt. Nach dem | |
| Ruhestand bekam sie einen Platz in der [5][Hausgemeinschaft]. | |
| Die besteht ausschließlich aus Frauen. Bei der Gründung hatten sich | |
| ursprünglich auch drei Männer beworben. „Doch als das Haus gebaut und die | |
| Sache verbindlich wurde, sprangen die ab“, erzählt Ute Grünwedel. „Die | |
| haben wohl gemerkt, dass sie hier nicht bekocht werden und ihre Wäsche | |
| selbst machen müssen.“ | |
| Jede Bewohnerin hat hier ihre eigene Wohnung mit eigener Küche, Bad und | |
| Balkon, bis zu 60 Quadratmeter pro Partei. „Wir entscheiden selbst, wie | |
| viel Gemeinschaft und wie viel Rückzug wir wollen und brauchen“, sagt | |
| Hildegard Ruder – dieses angenehme Zusammenleben schätzt die 79-Jährige. | |
| Sie wagte den späten Umzug, als sie sich von ihrem Mann getrennt hatte und | |
| ihr das Haus, in dem sie lebte, zu groß wurde. Erst wollte sie selbst eine | |
| WG gründen, dann stieß sie auf Olga. „Das eigene Haus aufzugeben war | |
| anfangs eine einzige Katastrophe“, sagt Ruder. „Meine Schwester musste mit | |
| einem großen Anhänger vorfahren – allein, um den Keller auszuräumen.“ He… | |
| ist sie froh, den Schritt gewagt zu haben. „Zusammen alt werden ist | |
| wichtiger und schöner, als möglichst viel Platz für sich selbst zu haben.“ | |
| Im Olga gibt es regelmäßige Treffen, Besprechungen, Spieleabende. Mal | |
| werden Garteneinsätze, mal Ausflüge organisiert. Die Frauen haben sich | |
| gegenseitig unterstützt, Aufgaben bewältigt, Reisen unternommen. Sie haben | |
| gemeinsam gefeiert, gemeinsam getrauert. Im Todesfall oder bei Auszug zieht | |
| rasch eine Neu-Olga in die frei gewordene Wohnung. Die Liste der | |
| Interessentinnen ist lang. | |
| „Wir sind ein bisschen ruhiger geworden“, erzählt Ute Grünwebel. „Die | |
| Älteste von uns wird 86, da ist mehr Ruhe und Bequemlichkeit gewünscht und | |
| mehr Hilfe und Toleranz gefragt.“ Und jede Bewohnerin ist erleichtert, dass | |
| zur Not immer jemand einen Zweitschlüssel hat – wenn mal was ist. | |
| Von Philipp Brandstädter | |
| ## Bernhard von Roon, 72, ist vor zwei Jahren nach Alt Tellin gezogen | |
| Berlin, Rio, Goa, Genua, Alt Tellin, so würden sich die Kapitel der | |
| Biografie von Bernhard von Roon lesen. Ein Leben lang ist der heute | |
| 72-Jährige durch die Welt gereist – um schließlich in einem 400-Seelen-Dorf | |
| in [6][der Nähe von Greifswald] anzukommen. Dort steht der Mann mit den | |
| langen weißen Haaren, den die lokale Zeitung schon als „Aussteiger im | |
| Plattenbau“ betitelte, in einem seiner zwei Zimmer und schaut auf das | |
| sattgrüne Tal des Flusses Tollense. | |
| „Die Aussicht ist herrlich“, sagt er, „hier knallt den ganzen Tag die Son… | |
| rein.“ Manchmal ist es so hell, dass er das Fenster mit Tüchern abhängen | |
| muss, um etwas auf dem Bildschirm seines Computers sehen zu können, beim | |
| Videocall mit seiner Tochter in China zum Beispiel. Und diese Ruhe. Einige | |
| Sekunden hören wir nichts bis auf das Zwitschern der Schwalben, die an den | |
| Ecken der porösen Hausfassade nisten. Bernhard von Roon ist ja auch fast | |
| der Einzige, der in dem unsanierten Plattenblock am Ortseingang wohnt. „Es | |
| ist warm, ich muss kein Holz hacken, es ist immer Wasser da.“ Der Müll wird | |
| abgeholt, der Garten wird gemacht, jemand wischt das Treppenhaus. Bernhard | |
| von Roon weiß zu schätzen, was für andere selbstverständlich ist. | |
| Der studierte Elektrotechniker jobbte erst für ein paar Rockbands, mischte | |
| deren Musik und tourte mit ihnen. So auch Ende der siebziger Jahre im | |
| indischen Goa, allerdings für den umstrittenen Guru Bhagwan, später auch | |
| als Osho bekannt. Dort verbrachte von Roon die Winter zusammen mit seiner | |
| Partnerin Sarah, im Sommer waren sie in ihrem Haus in Ligurien. Bis Sarah | |
| starb. | |
| „Ich kehrte aus Goa zurück, mit meinem Koffer von damals in der einen und | |
| ihrer Asche in der anderen Hand“, erzählt Bernhard von Roon. In Sarahs Haus | |
| kam er gar nicht mehr, da waren die Schlösser schon ausgetauscht. Also ging | |
| es zurück nach Deutschland, erst nach Berlin, wo er keine Wohnung fand. | |
| Dann lud ihn ein Freund nach Vorpommern ein und Bernhard bezog seine 48 | |
| Quadratmeter in Alt Tellin. | |
| Im Nachbarort Hohenbüssow gibt es ein paar Dutzend Aussteiger, die dort | |
| schon seit der Wende leben. „Da habe ich sofort Anschluss gefunden. Ich | |
| fahre oft dorthin und wir musizieren, reden, basteln, genießen den Moment.“ | |
| Bernhard nimmt fast immer das Fahrrad. Die Busse fahren hier zu selten. Zu | |
| seinen medizinischen Checks in Demmin lässt er sich von Freunden fahren. | |
| „Im Leben kommt es darauf an, zufrieden zu sein“, sagt von Roon und | |
| lächelt, als er mit seinen dunkel funkelnden Augen ins grüne Tal schaut. | |
| „Ich hatte das Privileg, mein ganzes Leben lang machen zu dürfen, was ich | |
| wollte. Dafür bin ich dankbar.“ Und er braucht ja auch gar nicht viel. | |
| Miete und Heizung übernimmt der Staat, die Grundsicherung genügt ihm. | |
| „Die in Hohenbüssow leben alle so“, sagt Bernhard von Roon und lacht. „W… | |
| man kein Trinker oder Kettenraucher ist und sonst keine teuren Hobbys hat, | |
| reicht das völlig. Ich esse ja auch nur ganz wenig.“ Das sagt der, der die | |
| längste Zeit vor allem von Luft und Liebe gelebt hat. | |
| Von Philipp Brandstädter | |
| 20 May 2024 | |
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