# taz.de -- Umziehen im Alter: Neuanfang ist immer möglich | |
> Die Umzugsfreudigkeit der über 65-Jährigen steigt. Ein Altersforscher | |
> erklärt, woran das liegt, und vier Pensionist:innen erzählen von | |
> ihren Erlebnissen. | |
wochentaz: Herr Oswald, die Babyboomer:innen gelten im Alter als | |
flexibler im Vergleich zu den älteren Generationen vor ihnen. Wagen jetzt | |
also viele der über 65-Jährigen noch mal einen Neuanfang und wechseln den | |
Wohnort? | |
Frank Oswald: Die Umzugshäufigkeit älterer Menschen nimmt zwar zu, aber auf | |
einem sehr niedrigen Niveau. [1][Die Umzugshäufigkeit jenseits des 65. | |
Lebensjahrs] ist sehr viel geringer als im Rest der Bevölkerung. | |
Welches sind denn die Motive für Umzüge nach dem Beginn des Ruhestands? | |
Wir unterscheiden Grundmotive und sogenannte Wachstumsmotive. Ein | |
Grundmotiv ist zum Beispiel, wenn mir das Haus zu groß geworden ist, wenn | |
ich den Garten nicht mehr schaffe, wenn ich barrierefrei wohnen will, um | |
selbstständig zu bleiben. Dann muss ich umziehen, zum Beispiel in eine | |
altersgerechte Wohnung. Bei der Hälfte der älteren Umziehenden erkennen wir | |
aber Wachstumsmotive, das heißt, die Menschen entscheiden sich freiwillig | |
für einen Umzug, vielleicht um näher zu den Kindern und Enkeln zu ziehen | |
und sich aktiv an deren Betreuung zu beteiligen. Manchmal ziehen Menschen | |
auch wieder in ihre Herkunftsregion, nachdem sie vorher aus beruflichen | |
Gründen woanders gelebt haben. | |
Spielt denn auch ein wärmeres Klima eine Rolle? Die Deutsche | |
Rentenversicherung überweist alljährlich an 22.000 deutsche | |
Ruheständler:innen in Spanien Renten. | |
Es gibt Deutsche, die beispielsweise nach Mallorca ziehen als | |
Zweitwohnsitz, meist sind das dann ihre früheren Urlaubsorte. Das ist aber | |
eher eine temporäre Migration, viele behalten trotzdem noch eine Wohnung in | |
Deutschland. Der Umzug mündet dann oftmals eher in die Segregation, nicht | |
in die Integration, die deutschen Rentnerinnen und Rentner bleiben im | |
Ausland häufig unter sich. | |
Ziehen Rentner:innen auch aus Kostengründen um? Etwa weil sie glauben, | |
im Ausland billiger leben zu können? | |
Die temporäre transnationale Migration gibt es in der teuren und in der | |
billigen Variante, je nachdem wo man hinzieht. Aber das trägt langfristig | |
eher nicht. Man merkt vielleicht, dass die gesundheitliche Versorgung vor | |
Ort nicht so gut ist wie gewünscht; dass der Nachbar mit seinem | |
Schlaganfall doch sehr weit weg war vom nächsten Krankenhaus. Diese Umzüge | |
betreffen zudem nur eine kleine Gruppe. Zwei Drittel aller Umzüge jenseits | |
der 65 finden im unmittelbaren Umfeld im Inland statt. | |
Wer umzieht, bleibt also lieber in der Region? | |
Die Verbundenheit mit der Region, mit dem Ort, [2][dem Kiez] und der | |
Wohnung ist grundsätzlich stark und im hohen Alter noch mal stärker. Die | |
Menschen wollen, wenn sie im Alter umziehen, möglichst in ihrer Stadt und | |
möglichst fußläufig zu ihrem alten Kiez bleiben. Man muss aber sehen: Die | |
allermeisten älteren Menschen wollen gar nicht umziehen, sie wollen in | |
ihrer angestammten Wohnung und Gegend bleiben, fast um jeden Preis. | |
Woher kommt diese Verbundenheit, wenn die Wohnung doch eigentlich zu groß | |
geworden ist und sich die Nachbarschaft über die Jahre stark verändert hat? | |
Zum einen ist es schlichte Gewohnheit, zum anderen ist die Verbundenheit | |
zur Wohnung, zum Haus und zur Umgebung so stark, weil das eine Verbindung | |
zur eigenen Biografie, ein wichtiger Erinnerungsanker in die Vergangenheit | |
sein kann. Hier habe ich mit meinem Mann gelebt, in diesem Zimmer haben | |
meine Kinder gespielt, auf diesem Sessel herumgeturnt. Ich kenne die | |
Nachbarschaft, als es noch kaum Autos gab auf der Straße, und so weiter. | |
Das ist eine Verbundenheit, die man von außen gar nicht sieht, die mit der | |
Dauer zu tun hat, die man hier gelebt hat. Deswegen funktioniert es nur | |
selten, wenn man von Menschen verlangt, die größere Wohnung gegen eine | |
kleinere irgendwo anders einzutauschen. Da helfen auch keine Umzugsprämien. | |
Viel wird ja immer erzählt über das [3][gemeinschaftliche Wohnen im Alter] | |
als alternative Lebensform zum Alleinsein. Werden diese Modelle denn | |
tatsächlich populärer? | |
Na ja, es wird über das gemeinschaftliche Wohnen mehr berichtet als drin | |
gewohnt. Die Häufigkeit von alternativen Wohnformen für Menschen ab 65 | |
Jahre und älter liegt unter 3 Prozent. | |
Welche Voraussetzungen bringen die Leute dafür mit? | |
Das Wichtigste ist: Ich muss dafür bereit sein, mich aktiv einzubringen, | |
Mitverantwortung zu übernehmen und nicht nur Annehmlichkeiten zu empfangen | |
und darauf zu warten, dass ich bedient oder im Falle des Falles sogar | |
versorgt werde. Das funktioniert sicher nicht. Es ist kein Modell, das | |
quasi dem Heim vorgelagert ist. Es funktioniert immer nur dann, wenn eine | |
grundlegende Bereitschaft zur Mitwirkung vorhanden ist. | |
Welche Menschen beteiligen sich denn an solchen Projekten? | |
Relativ häufig sind es jüngere, allein lebende Frauen, etwa 65 bis 80 Jahre | |
alt. Paare in dieser Altersgruppe sind ebenfalls häufig. Allein lebende | |
Männer sind dagegen eher relativ selten, vielleicht sind sie nicht | |
entscheidungsfreudig genug. | |
Wenn Frauen zahlenmäßig so stark vertreten sind in den Projekten, müssen | |
sie wohl nicht zuletzt auch untereinander sehr konfliktfähig sein? | |
Man sollte in jedem Fall ein gerüttelt Maß an Sozialkompetenz mitbringen. | |
Zwei andere Eigenschaften helfen auch – und das sind Offenheit und soziale | |
Verträglichkeit. Offenheit für neue Erfahrungen ist generell wichtig für | |
ein gutes Altern, Offenheit Neuem gegenüber, ob es Technik ist oder ob es | |
andere Menschen sind, das ist enorm wichtig, nicht nur, aber auch im | |
Bereich des Wohnens. | |
Hat das auch etwas mit Bildung zu tun? | |
Der Bildungsvorteil schwingt immer mit, weil Menschen mit höherer Bildung | |
häufig bessere finanzielle Ressourcen haben und sich mehr leisten können. | |
So sind Angebote, die zum Beispiel Barrierefreiheit mit ökologischem | |
Wohnungsbau verbinden, besonders attraktiv, aber auch eher hochpreisig. Wir | |
haben solche Angebote auch hier in Frankfurt und der Region. | |
Ist auch die Biografie wichtig für die Sozialkompetenz? | |
Es gibt Hinweise darauf, dass es hilfreich ist, dass viele Babyboomer | |
früher schon mit anderen Personen zusammengewohnt haben, als Studenten in | |
einer Wohngemeinschaft zum Beispiel. Wenn jemand Wohngemeinschafts- und | |
Umzugserfahrungen von früher mitbringt, macht das einen Unterschied, was | |
die realistische Einschätzung von Erwartungen an gemeinschaftliches Wohnen | |
im Alter betrifft. Aber man darf nicht vergessen: Die Planungsdauer für | |
solche Projekte beträgt oft fünf, sechs Jahre. Wer am Anfang dabei ist, | |
zieht am Ende vielleicht gar nicht mehr ein. Und Gruppen haben häufig ihre | |
eigene Dynamik: Mitunter sind es persönlichkeitsstarke „Projektprofis“, die | |
sich engagieren und dann auch durchsetzen, auch damit muss man klarkommen. | |
Interview: Barbara Dribbusch | |
## Wilfried und Doris Weber sind 72 und kürzlich aus Mittelhessen nach | |
Berlin gezogen | |
Nach Berlin gehen, das machen die jungen Leute, die Studierenden, die | |
Kreativen, die Spinner, die für das Leben auf dem Land zu verrückt sind. So | |
hört man es oft. Doris und Wilfried Weber sind auch gerade hierher gezogen, | |
allerdings sind die beiden 72 Jahre alt und damit eigentlich schon aus dem | |
Gröbsten raus. | |
„Wir haben uns mit 15 kennengelernt, als wir in dieselbe Klasse kamen“, | |
erzählt Doris Weber. „Einmal habe ich eine Feier unten in unserem | |
Partykeller veranstaltet. Wilfried erschien einfach uneingeladen. Seitdem | |
sind wir zusammen.“ | |
In dem großen Haus darüber, dem ihrer Eltern, wohnten die beiden später | |
selbst und gründeten eine Familie. Zehn Zimmer, der Speicher, der | |
Wintergarten, der Partykeller natürlich und der riesige Garten drumherum: | |
jede Menge Platz im kleinen Niederkleen bei Gießen. Doch spätestens, als | |
die beiden Töchter ausgezogen waren, spürte das Ehepaar, wie es im Dorf | |
nach und nach leerer wurde. „Ich fing an, mich alleine im Haus zu | |
fürchten“, sagt Doris Weber. „Ich spürte, dass ich hier nicht einsam alt | |
werden will. Dazu die viele Arbeit mit dem Haus und dem Garten, das konnten | |
wir kaum allein bewältigen.“ | |
Also verkauften die Webers ihr Haus und tauschten es gegen eine Wohnung in | |
Friedrichshain um, drei Zimmer in einem schicken Neubau. „Wir sind für mehr | |
Familienleben nach Berlin gezogen“, erklärt Wilfried Weber. „Eine Tochter | |
lebt hier, wir können hier viel mehr Zeit mit unseren beiden Enkelkindern | |
verbringen. Auch Doris’ Bruder lebt schon lange hier.“ Durch die vielen | |
Besuche war die große Stadt längst keine unheimliche Unbekannte mehr. | |
Doch sich von so vielen Dingen trennen, den Heimatort verlassen, noch | |
einmal neu anfangen: das muss doch furchtbar schwer gefallen sein, wird | |
Doris Weber oft gefragt. „Die Trennung vom Haus eigentlich nicht“, | |
antwortet sie. „Es ist eher eine große Erleichterung, dass wir die viele | |
Arbeit nicht mehr haben. Dass wir uns rechtzeitig zum Umzug entschieden | |
haben, bevor wir zu müde werden.“ | |
Aus dem alten Haus konnten die beiden kaum etwas mit in die neue Wohnung | |
nehmen. Eine Lampe, eine kleine Modelleisenbahn, die bunte Schlangenfigur, | |
die Briefmarkensammlung, der Karton mit den ganzen Dias, die man mal wieder | |
durchschauen müsste. „Die alten Möbel waren viel zu groß für die Zimmer | |
hier, wir haben viel verschenkt und uns neu eingerichtet.“ Aber an | |
Gegenständen würden die beiden ohnehin nicht so besonders hängen. An den | |
Menschen aus der Heimat schon eher. | |
„Sich von den Freunden und Bekannten zu verabschieden, in meiner | |
Gymnastikgruppe und Wilfrieds Handballverein, das war schwer“, sagt Doris | |
Weber. In Berlin müssen sie neben dem Familienleben erst einmal wieder | |
Kontakte knüpfen. Dafür aber haben sie gleich ums Eck ein neues Stammlokal | |
für sich entdeckt und erkunden bei Ausflügen die schönen Ecken der Stadt | |
und ihres Brandenburger Umlands. Und wenn der Berliner Winter mal aufs | |
Gemüt drückt, besuchen sie einfach ihre andere Tochter. Die wohnt in | |
Australien. Die Flüge sind schon gebucht. | |
Von Philipp Brandstädter | |
## Peter Heinzke, 74, Angelika Pohlert, 79, Shahla Feyzi, 70, betreiben | |
Co-Housing in Köln-Nippes | |
Gerade war die taz gegründet worden, da zog Angelika Pohlert in ihre erste | |
Wohngemeinschaft. Leben und lieben, mit sechs anderen Leuten, und das auch | |
noch auf dem Land, in einem Gutshaus in Kleve an der holländischen Grenze. | |
„Solche unbürgerlichen Wohnverhältnisse waren nahezu anrüchig damals“, | |
erzählt Pohlert und schmunzelt. 46 Jahre ist das nun her. | |
Heute [4][ist das WG-Konzept] völlig normal, vor allem in den Großstädten. | |
Unter Rentner:innen bleibt es eher ungewöhnlich. Und das ist auch das | |
Co-Housing-Projekt in Köln-Nippes, in dem Pohlert heute wohnt. Eine | |
Freundin Pohlerts, Gisela Hauck, wollte nicht alleine wohnen, ebenso Shahla | |
Feyzi, nachdem deren Tochter ausgezogen war. Sie war in den 1980er-Jahren | |
aus dem Iran geflohen. In Teheran hatte auch sie im Studentenwohnheim | |
gewohnt. Nun sind die drei Frauen im fortgeschrittenen Alter | |
WG-Genoss:innen. | |
Der Vierte im Bunde ist Peter Heinzke. „Ich habe schon ein traditionelles | |
Familienleben in einem Haus auf dem Land gehabt, in der Eifel“, sagt er. | |
„Doch nach der Trennung von meiner Frau und dem Auszug der Kinder sehnte | |
ich mich zurück in die Stadt.“ | |
Also haben die vier mit einer Baugemeinschaft ein Wohnprojekt im Kölner | |
Norden gegründet, in einer Neubausiedlung auf einem Gelände, das früher | |
einmal eine Gummifabrik war. „Was gar nicht so einfach war“, erzählt | |
Heinzke. „Es müssen sich ein paar Leute finden, die mutig sind, den Schritt | |
zu gehen und Geld in die Hand nehmen.“ Dann wurde ein Haus gebaut, für das | |
Co-Housing auf der zweiten Etage musste eine passende Eigentumsform | |
entwickelt werden. Alles, was die korrekte Bürokratie eben so verlangt, | |
0,75 Garagenplätze für jeden und anderer Unfug, den keiner vorhergesehen | |
hatte.„Doch nun haben wir es geschafft“, sagt Heinzke und meint damit | |
„einen angenehmen Luxus in der Balance zwischen Zweck- und Kuschel-WG“. | |
„Es ist ein bisschen anders als damals in Kleve“, sagt Pohlert. „Das Alter | |
bringt viel mehr Langmut mit sich.“ Über leere Milchkartons im Kühlschrank, | |
schlecht geputzte Töpfe und zu laute Partys bis in die Morgenstunden muss | |
sich hier niemand aufregen. | |
Die vier sind entweder in ihrer Gemeinschaftsküche zusammen, oder sie | |
ziehen sich in ihren eigenen Bereich zurück, 40 Quadratmeter mit eigenem | |
Bad. Dazu die Räume, die das ganze Haus nutzt: eine Dachterrasse, ein | |
Gemeinschaftsraum, eine Werkstatt im Keller, die regelmäßig in ein | |
Repair-Café verwandelt wird. „Wir haben im ganzen Haus eine gute Mischung | |
an Leuten, die sich kennen, mögen und gemeinsam entscheiden, wie wir unser | |
Zusammenleben gestalten“, sagt Heinzke. Und welche Anschaffungen man | |
tätigt: Solar auf dem Dach, Weinreben an der Hausfassade, Vogelkästen auf | |
den Balkons. | |
Angelika Pohlert hat sich übrigens gerade neu verliebt, „in Ulrich“ von | |
Gegenüber. Kennengelernt haben sie sich im Rentner:innen-Café. | |
Von Philipp Brandstädter | |
## Ute Grünwedel, 82, und Hildegard Ruder, 79, leben im Wohnprojekt Olga | |
(„Oldies leben gemeinsam aktiv“) in Nürnberg | |
Warum leben Frauen im Durchschnitt länger als Männer? Weil sie später | |
wenigstens noch ein paar schöne Jahre haben wollen. Diesen Scherz hören die | |
Bewohnerinnen des Wohnprojekts Olga öfter. Im Haus wird gerade das | |
20-jährige Bestehen (nach-)gefeiert, Gratulationen aus der Lokalpolitik und | |
Medienrummel inklusive. | |
Auch ohne Jubiläum ist in dem Haus genug los: Elf Olgas leben in dem Haus | |
mit den Ein- bis Zweiraumwohnungen und einem großen Garten. Bewohnerin Ute | |
Grünwedel ist den Trubel gewohnt. „Das ist gar nichts im Vergleich zu | |
meinem früheren Leben“, sagt sie. 30 Jahre lang hat sie ein Internat mit | |
über 200 Jugendlichen geleitet – und auf dem Gelände gewohnt. Nach dem | |
Ruhestand bekam sie einen Platz in der [5][Hausgemeinschaft]. | |
Die besteht ausschließlich aus Frauen. Bei der Gründung hatten sich | |
ursprünglich auch drei Männer beworben. „Doch als das Haus gebaut und die | |
Sache verbindlich wurde, sprangen die ab“, erzählt Ute Grünwedel. „Die | |
haben wohl gemerkt, dass sie hier nicht bekocht werden und ihre Wäsche | |
selbst machen müssen.“ | |
Jede Bewohnerin hat hier ihre eigene Wohnung mit eigener Küche, Bad und | |
Balkon, bis zu 60 Quadratmeter pro Partei. „Wir entscheiden selbst, wie | |
viel Gemeinschaft und wie viel Rückzug wir wollen und brauchen“, sagt | |
Hildegard Ruder – dieses angenehme Zusammenleben schätzt die 79-Jährige. | |
Sie wagte den späten Umzug, als sie sich von ihrem Mann getrennt hatte und | |
ihr das Haus, in dem sie lebte, zu groß wurde. Erst wollte sie selbst eine | |
WG gründen, dann stieß sie auf Olga. „Das eigene Haus aufzugeben war | |
anfangs eine einzige Katastrophe“, sagt Ruder. „Meine Schwester musste mit | |
einem großen Anhänger vorfahren – allein, um den Keller auszuräumen.“ He… | |
ist sie froh, den Schritt gewagt zu haben. „Zusammen alt werden ist | |
wichtiger und schöner, als möglichst viel Platz für sich selbst zu haben.“ | |
Im Olga gibt es regelmäßige Treffen, Besprechungen, Spieleabende. Mal | |
werden Garteneinsätze, mal Ausflüge organisiert. Die Frauen haben sich | |
gegenseitig unterstützt, Aufgaben bewältigt, Reisen unternommen. Sie haben | |
gemeinsam gefeiert, gemeinsam getrauert. Im Todesfall oder bei Auszug zieht | |
rasch eine Neu-Olga in die frei gewordene Wohnung. Die Liste der | |
Interessentinnen ist lang. | |
„Wir sind ein bisschen ruhiger geworden“, erzählt Ute Grünwebel. „Die | |
Älteste von uns wird 86, da ist mehr Ruhe und Bequemlichkeit gewünscht und | |
mehr Hilfe und Toleranz gefragt.“ Und jede Bewohnerin ist erleichtert, dass | |
zur Not immer jemand einen Zweitschlüssel hat – wenn mal was ist. | |
Von Philipp Brandstädter | |
## Bernhard von Roon, 72, ist vor zwei Jahren nach Alt Tellin gezogen | |
Berlin, Rio, Goa, Genua, Alt Tellin, so würden sich die Kapitel der | |
Biografie von Bernhard von Roon lesen. Ein Leben lang ist der heute | |
72-Jährige durch die Welt gereist – um schließlich in einem 400-Seelen-Dorf | |
in [6][der Nähe von Greifswald] anzukommen. Dort steht der Mann mit den | |
langen weißen Haaren, den die lokale Zeitung schon als „Aussteiger im | |
Plattenbau“ betitelte, in einem seiner zwei Zimmer und schaut auf das | |
sattgrüne Tal des Flusses Tollense. | |
„Die Aussicht ist herrlich“, sagt er, „hier knallt den ganzen Tag die Son… | |
rein.“ Manchmal ist es so hell, dass er das Fenster mit Tüchern abhängen | |
muss, um etwas auf dem Bildschirm seines Computers sehen zu können, beim | |
Videocall mit seiner Tochter in China zum Beispiel. Und diese Ruhe. Einige | |
Sekunden hören wir nichts bis auf das Zwitschern der Schwalben, die an den | |
Ecken der porösen Hausfassade nisten. Bernhard von Roon ist ja auch fast | |
der Einzige, der in dem unsanierten Plattenblock am Ortseingang wohnt. „Es | |
ist warm, ich muss kein Holz hacken, es ist immer Wasser da.“ Der Müll wird | |
abgeholt, der Garten wird gemacht, jemand wischt das Treppenhaus. Bernhard | |
von Roon weiß zu schätzen, was für andere selbstverständlich ist. | |
Der studierte Elektrotechniker jobbte erst für ein paar Rockbands, mischte | |
deren Musik und tourte mit ihnen. So auch Ende der siebziger Jahre im | |
indischen Goa, allerdings für den umstrittenen Guru Bhagwan, später auch | |
als Osho bekannt. Dort verbrachte von Roon die Winter zusammen mit seiner | |
Partnerin Sarah, im Sommer waren sie in ihrem Haus in Ligurien. Bis Sarah | |
starb. | |
„Ich kehrte aus Goa zurück, mit meinem Koffer von damals in der einen und | |
ihrer Asche in der anderen Hand“, erzählt Bernhard von Roon. In Sarahs Haus | |
kam er gar nicht mehr, da waren die Schlösser schon ausgetauscht. Also ging | |
es zurück nach Deutschland, erst nach Berlin, wo er keine Wohnung fand. | |
Dann lud ihn ein Freund nach Vorpommern ein und Bernhard bezog seine 48 | |
Quadratmeter in Alt Tellin. | |
Im Nachbarort Hohenbüssow gibt es ein paar Dutzend Aussteiger, die dort | |
schon seit der Wende leben. „Da habe ich sofort Anschluss gefunden. Ich | |
fahre oft dorthin und wir musizieren, reden, basteln, genießen den Moment.“ | |
Bernhard nimmt fast immer das Fahrrad. Die Busse fahren hier zu selten. Zu | |
seinen medizinischen Checks in Demmin lässt er sich von Freunden fahren. | |
„Im Leben kommt es darauf an, zufrieden zu sein“, sagt von Roon und | |
lächelt, als er mit seinen dunkel funkelnden Augen ins grüne Tal schaut. | |
„Ich hatte das Privileg, mein ganzes Leben lang machen zu dürfen, was ich | |
wollte. Dafür bin ich dankbar.“ Und er braucht ja auch gar nicht viel. | |
Miete und Heizung übernimmt der Staat, die Grundsicherung genügt ihm. | |
„Die in Hohenbüssow leben alle so“, sagt Bernhard von Roon und lacht. „W… | |
man kein Trinker oder Kettenraucher ist und sonst keine teuren Hobbys hat, | |
reicht das völlig. Ich esse ja auch nur ganz wenig.“ Das sagt der, der die | |
längste Zeit vor allem von Luft und Liebe gelebt hat. | |
Von Philipp Brandstädter | |
20 May 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Umzug-im-Rentenalter/!5988168 | |
[2] /Hamburger-Kiez-frueher-und-heute/!5814277 | |
[3] /Gemeinsam-leben-im-Alter/!5078399 | |
[4] /Ungewoehnliche-Wohngemeinschaft/!5837803 | |
[5] /Ein-Haus-fuer-alle-in-Hamburg/!5994440 | |
[6] /Buergerinnenentscheid-Greifswald/!5938848 | |
## AUTOREN | |
Barbara Dribbusch | |
## TAGS | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Longread | |
wochentaz | |
Wohnen | |
Altersarmut | |
Umzug | |
GNS | |
Kolumne Aus dem Leben einer Boomerin | |
Tiny Houses | |
Aktienrente | |
Schwerpunkt Wohnen ist Heimat | |
Babyboomer | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Altern in einer jungen Stadt: Ich bin gerne Boomerin | |
Alle wollen jugendlich bleiben und verfallen dabei manchmal ins Kindliche. | |
Unsere Kolumnistin hat die Kindheit lange zurückgelassen. | |
Vom Ahrtal ins Tiny House: Das Leben nach der Flut | |
Die Mutter unserer Autorin verlor in der Ahrtal-Flut vor drei Jahren ihr | |
Zuhause und zog in ein Tiny House. Was braucht sie, um glücklich zu sein? | |
Ampel stellt neues Rentenpaket vor: Unsichere Wette auf die Zukunft | |
Die Ampel will das Rentenniveau sichern und dafür einen Fonds an den | |
Kapitalmärkten einrichten. Gewerkschaften und Finanzexperten sind | |
skeptisch. | |
Umzug im Rentenalter: Auf die Parkbank nach Altötting | |
Im Alter dahin, wo es billiger ist? Rentner:innen in Deutschland | |
riskieren eher Altersarmut, anstatt umzuziehen. Anders in den USA. | |
Buch über die Boomer: Generation Plauderton | |
Heinz Bude skizziert die Babyboomer, die nun in Rente gehen. Das | |
Generationsbuch hat Schwächen – aber auch ein paar funkelnde Ideen. |