# taz.de -- Theaterfestival Radar Ost in Berlin: Sein oder nicht sein | |
> Um Fluchten und Heimatlosigkeit ging es beim Festival Radar Ost im | |
> Deutschen Theater Berlin. Mit Künstlern aus der Ukraine, Belarus und | |
> Georgien. | |
Bild: Bilder des Unbehausten: Aus Ljubilana in Slowenien kam das Stück „Cris… | |
Hier ist der ultimative Geheimtipp, wie man einen Löwen loswird in den | |
osteuropäischen Wäldern: Zuerst macht man den Löwen besoffen. Während er | |
seinen Rausch ausschläft, rasiert man ihm das Fell ab. Dann wird ihm kalt | |
und er zieht ab – dorthin, wo es wärmer ist. | |
Es ist vier Uhr früh am Samstag, als der Schauspieler Bernd Moss, auf dem | |
Boden im Foyer des Deutschen Theaters in Berlin sitzend, lakonisch die | |
Vertreibung des Löwen beschreibt. Um ihn herum Lachen. Moss und seine | |
Kolleg*innen vom Deutschen Theater lesen Märchen aus Belarus, Georgien | |
und der Ukraine. Danach gibt es einen Animationsfilm von fünfzig | |
belorussischen GrafikerInnen zu sehen, der Rot und Weiß, die Farben der | |
dortigen Opposition, fünfzig Mal, immer wieder neu, zu einem | |
vielschichtigen Bildkommentar zusammenfügt. | |
Es ist wieder Zeit für [1][Radar Ost]. Das DT-Festival, das seit 2018 die | |
Theaterlandschaft in Ostmittel- und Osteuropa erkundet, beweist einmal mehr | |
seine Kraft in Krisen und Katastrophen. Mittendrin diesmal die Lesenacht | |
„(Alb)Traum Europa“. Zu Beginn der langen Nacht stellt Festivalkuratorin | |
Birgit Lengers das Motto als Frage in den Raum: Ist Europa ein Traum oder | |
ein Albtraum? Eine Handvoll Hände votiert für Albtraum. | |
## Vor dem Krieg davonlaufen | |
Dann kommt Pavlo Arie, Dramatiker und Dramaturg am Kyjiwer Left Bank | |
Theatre, auf die Bühne der Box und bricht eine Lanze für den Traum Europa, | |
der für Freiheit und Frieden steht. Elias Ahrens, Bernd Moss, Linda Pöppel | |
und Birgit Unterweger lesen seine dokumentarische Erzählung: „Mein Freund | |
Rawil oder Dreimal bin ich vor dem Krieg weggelaufen“. Arie beschreibt das | |
Schicksal von Rawil, der in den 90ern aus dem Kaukasus nach Donezk flieht, | |
von dort nach Kyjiw und in der ukrainischen Hauptstadt wieder vom Krieg | |
eingeholt wird. | |
In der Westukraine wird er nach Kriegsbeginn wegen seiner ostukrainischen | |
Meldeadresse der Illoyalität zum ukrainischen Staat verdächtigt, was zu | |
immer neuen Verhören durch die nationalen Sicherheitsbehörden (SBU) führt. | |
Arie schildert eine kafkaeske Situation. Im nachfolgenden Bühnengespräch | |
übt er Kritik an der pauschalen Vorverurteilung ukrainischer | |
Staatsbürger*innen aus den russisch besetzten Gebieten durch den SBU. | |
Der Autor Pavlo Arie hat nach Kriegsbeginn in Berlin seine Exilheimat | |
gefunden, ein Teil seiner Kolleg*innen vom Left Bank Theatre auch. In | |
Zusammenarbeit mit dem Deutschen Theater haben sie für Radar Ost eine | |
Hamlet-Inszenierung, deren Proben sie am 24. Februar 2022 abbrechen | |
mussten, unter den veränderten Umständen weiterentwickelt. Aus „Hamlet“ | |
wird „Ha*l*t“, vor dem eisernen Vorhang stehen fünf schwarze Stühle und, | |
was man im Zuschauerraum sehr schnell kapiert, vor der Vorstellung ist hier | |
nach der Vorstellung. | |
Die Schauspieler*innen suggerieren, sie hätten gerade Hamlet gespielt. | |
Der Weg der Bewusstseinswerdung bis zum völligen Begreifen, dass Krieg | |
herrscht in der Ukraine und dass man nicht im eigenen Theater, sondern im | |
Exil ist, wird durch eine kluge dialogische Situationskomik greifbar | |
gemacht. Das Einbrechen einer komplett neuen, nicht fassbaren Realität, die | |
jegliche Normalität außer Kraft setzt, wird gerade dadurch nachvollziehbar. | |
Sein oder nicht sein meint nun ganz konkret die Existenz als | |
Schauspieler*in in einem Land, das sich im Kriegsmodus befindet und | |
verteidigt werden muss. | |
## Die Stille, die wehtut | |
Heimatlos, unbehaust wirken die Schauspieler*innen nun auf der ihnen | |
plötzlich fremden Bühne, auf der sie weiter stehen, denn sie haben ein | |
Publikum. Zuerst die Flucht zu den bekannten Hamlet-Monologen. Die behalten | |
– ausgesprochen von Darsteller*innen im Schockzustand – ihr klassisches | |
Versmaß, verzerren sich aber inhaltlich zu aktuellen Kommentaren, als hätte | |
sich ein fremder Geist an Shakespeare vergriffen. Danach die Flucht zur | |
Musik mit dem stillsten und traurigsten Moment der Aufführung: [2][Oleh | |
Stefan] hält ein imaginäres Akkordeon in der Hand. Als er die rechte Hand | |
gefühlvoll durch die Luft zieht, meint man das Akkordeon zu sehen und zu | |
hören. Die Stille, die aus der Abwesenheit entsteht, tut weh. | |
Inzwischen gibt der hochgezogene Vorhang den Blick auf sechs rote | |
Plastiktannen frei. Als sich das Ensemble an einem ukrainischen Volkstanz | |
zur Unterhaltung des Publikums versucht, reißt der Krieg die ganze Regie an | |
sich: zuerst lautes Jauchzen, dann immer wieder ein Schrei mit der Nennung | |
eines im Krieg umgekommenen Künstlers. | |
Das letzte Wort hat Volodymyr Kravchuk, der eigentlich Fortinbras hätte | |
spielen sollen. Er ist einer von zwölf Theaterangestellten, die an der | |
Front kämpfen. Er wird über Video zugeschaltet, erzählt von einem Traum und | |
fleht: „Lass andere Tage kommen.“ | |
Die [3][Regisseurin Tamara Trunova, deren Inszenierung „Bad Roads“ über den | |
Krieg im Donbas] vor drei Jahren bei Radar Ost zu sehen war, hat mit | |
„Ha*l*t“ eine nuancenreiche Inszenierung über die eigene Befindlichkeit | |
geschaffen, die in dieser Qualität nur möglich ist aus einer gewissen | |
Distanz heraus. Dass sie und die Schauspieler*innen in dieser | |
Extremsituation fähig sind, sich mit dem Blick von außen selbst zu | |
sezieren, ist bewundernswert. | |
Was nach fünf Tagen Radar Ost mit weiteren Inszenierungen aus der Ukraine, | |
aus Georgien, Belarus und Slowenien auffällt, ist der Rollkoffer als | |
Bühnenrequisit. Nur Medea vom Royal Distrikt Theatre aus Tiflis hat keinen | |
dabei. Aber auch sie ist am Ende von Paata Tsikolias Mythen-Überschreibung | |
auf der Flucht. | |
## Kritik am toxischen Patriarchat | |
Sie flieht vor Missbrauch und Unterdrückung in der eigenen Familie. Auf dem | |
Fluchtboot, das vom Boot ihres Vaters verfolgt wird, tötet sie ihren | |
kleinen Bruder, den der Vater zurückhaben will. Ekaterine Demetradzes Medea | |
hört sich vorher scheinbar stoisch die endlosen Zuschreibungen und | |
Beleidigungen ihres Bruders an, der im Publikum sogar über ihren Ausschluss | |
aus der königlichen Familie abstimmen lässt. Die Kritik am toxischen | |
Patriarchat im Gewand einer antiken Tragödie, die im antiken Kolchis, dem | |
heutigen Georgien, spielt, ist gerade dort brisanter | |
gesellschaftskritischer Kommentar. | |
Es gibt noch etwas, das auffällt beim komparativen Schauen: die Kraft des | |
Gesangs, die gerne genutzt wird. So setzt das Londoner Belarus Free Theatre | |
in einer regelmäßigen Reihenfolge szenisches Spiel, Tanz und | |
(A-cappella-)Gesang in seiner Dramatisierung des Science-Fiction-Romans | |
„Dogs of Europe“ von [4][Alhierd Bacharevi]č ein. Mit grafischen | |
computerspielartigen Animationen wird es zum schnellatmigen | |
Gesamtkunstwerk. | |
Hauptprotagonist des in Belarus verbotenen Romans ist ein im Jahr 2049 in | |
Berlin verstorbener belorussischer Dichter. Die Suche nach der Identität | |
des Toten führt einen Agenten durch ganz Europa und dann hinter die | |
Grenzmauer in eine Diktatur, in der nur russisch gesprochen wird. Dass die | |
belorussische Sprache bald ausgestorben sein wird, weil sie unterdrückt | |
wird, ist die Kernbotschaft. Am Ende ist die Bühne dunkel und die Bücher in | |
den Händen der Darsteller*innen brennen. | |
Zurück zu den Koffern: Bei den Kyjiver [5][Dakh Daughters] stehen | |
mindestens zehn auf der Bühne. Sie werden unermüdlich gerollt und geworfen, | |
am Ende stehen sie geöffnet als kleine Textilkunstwerke da. Nicht selten | |
tippen die fünf Musikerinnen ihre Instrumente nur für ein paar Takte an und | |
lassen es in Wiederholung laufen, weil sie zu den Koffern müssen. Nur | |
selten gelingt ein ganzes Lied. Und dann kommt der Luftalarm. Maryna | |
Klimova sagt in „Ha*l*t“: „Ich bin der Krieg. Und wenn ich sterbe, weiß … | |
nicht, wohin man meinen riesigen Grabstein stellen wird.“ | |
13 Mar 2023 | |
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## AUTOREN | |
Katja Kollmann | |
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