# taz.de -- Tanz-Performance über Fluchterfahrungen: Ein Meer ganz ohne Ufer | |
> In „La Mer en moi“ erkunden der Bremer Choreograf Helge Letonja und der | |
> togolesische Tänzer Kossi Aholou-Wokawui die körperliche Erfahrung der | |
> Flucht. | |
Bild: Dem Meer entkommt Kossi Aholou-Wokawui auch tanzend nicht | |
Der Theatersaal ist dunkel, die Requisiten auf der Bühne können nur erahnt | |
werden. Dann schwenkt ein Scheinwerfer durch den Raum: Der Boden ist | |
vollständig mit Wasser bedeckt. Aus dem Hintergrund erklingen abwechselnd | |
schrille und dumpfe Töne. Eine Person liegt zusammengekauert auf einer Box | |
mit Rollen. Daneben eine lange Tafel, die mit einem Teller und Besteck | |
gedeckt ist. | |
Bewegung füllt den Raum. Der Protagonist regt sich erst sanft und langsam, | |
dann etwas schneller und hektischer. Das Wasser plätschert, spritzt. Die | |
Musik stoppt, ein Zwiegespräch zwischen Mutter und Sohn wird vom Band | |
abgespielt. | |
Die [1][Performance „La mer en moi“], die der [2][Choreograf Helge Letonja] | |
und der togolesische Tänzer [3][Kossi Aholou-Wokawui] entwickelt haben, | |
begibt sich künstlerisch auf eine Spurensuche danach, wie Menschen ihre | |
Fluchterfahrungen über das Mittelmeer verarbeiten und erinnern. Das Wasser | |
auf der Bühne ist dabei zentrales Element der Performance: Es ist die | |
Fläche, auf der die Spurensuche ausgetragen wird. Mal ist es still und | |
ruhig, mal lauter und wilder, aber es ist permanent da. | |
Die Protagonisten Ahoulou-Wokawui und Médoune Seck füllen diesen Ort mit | |
Leben. Durch ihren Tanz im Wasser spiegeln sie die körperliche Erfahrung | |
der Flucht wider. Poetin und Künstlerin Ela Fischer ergänzt die | |
tänzerischen Eindrücke durch Rück- und Vorblenden, die die Erinnerung an | |
die Flucht, die Sehnsüchte und Ängste, die Trauer und Hoffnung, die Liebe | |
und den Schmerz illustrieren. | |
## Hommage an die Kraft des Herzens | |
„Das Stück ist eine Hommage an die Kraft des Herzens vieler Menschen“, | |
erklärt sie. „Deine Füße sind nass, dein Haupt ist geneigt und trotzdem | |
stehst du jeden Tag auf.“ Denn viele von ihnen begeben sich mit anderen | |
Männern, Frauen und Kindern, umhüllt von der Unendlichkeit des Meeres, auf | |
eine Reise ins Ungewisse. Während ihrer Flucht machen sie traumatische | |
Erfahrungen, die sie auch nach der Ankunft in Europa nicht mehr loslassen. | |
Und obwohl sich viele dieser Bilder einbrennen, verlieren sie nicht den | |
Mut. | |
Auf diese Umstände deutet auch der Titel „La mer en moi“ hin, auf Deutsch | |
„Das Meer in mir“. Die See wird auf dem Schlauchboot zu einer | |
unberechenbaren Gefahr, der niemand entfliehen kann. Ängste, Sorgen und | |
Hoffnungen begleiten die unsichere Reise nach Europa. Der Titel verweist | |
darauf, dass „das Meer in der Erinnerung der Menschen weiterlebt – sei es | |
in ihren Träumen, in ihrem Alltag“, erklärt [4][Choreograf Letonja]. | |
Die Ankunft allein lässt nicht vergessen, was erlebt und zurückgelassen | |
wurde. Geliebte Menschen zurücklassen zu müssen, hinterlässt ein Loch im | |
Herzen. Gleichzeitig leben auch sie in der Erinnerung der Menschen weiter, | |
die ihre Heimat verlassen haben – daher kann der Titel auch „Die Mutter in | |
mir“ bedeuten, so Letonja. | |
Unmittelbar greifbar werden diese Elemente durch die Rück- und Vorblenden, | |
die das Stück begleiten. Sie bringen Licht ins Dunkel: Wie fühlen sich | |
Menschen nach ihrer Ankunft? Worüber denken sie nach? Sie erzählen von den | |
Fluchterfahrungen, die sie nicht loslassen, von der Sehnsucht nach der | |
eigenen Heimat und von der Hoffnung, in einem fremden Land eine neue Heimat | |
zu finden. | |
## Realität jenseits stereotyper Narrative | |
Und sie erzählen von den Sorgen einer Mutter, die ihr Kind nicht freiwillig | |
gehen lassen hat. „Sie sind ein Wellengang der eigenen Existenz und fragen: | |
Wo beginnst du als Rinnsal und wo endest du als Ozean?“, sagt Fischer. Das | |
Stück gibt Betroffenen eine Stimme und macht ihre Lebensrealität jenseits | |
von stereotypischen Narrativen sichtbar. Es soll daran erinnern, dass sich | |
hinter den vielen Gesichtern Menschen verbergen, die weit mehr sind als | |
ihre Fluchterfahrung. Sie alle haben eine individuelle Geschichte, die sie | |
ausmacht und Anerkennung verdient. | |
„Mit dem Stück möchten wir Menschen mit ihren Sinnen ansprechen. Jeder von | |
uns kann sich einfühlen, wenn er zuhört. Das passiert in der Begegnung und | |
die Begegnung versuchen wir herzustellen“, erklärt Dramaturgin Anke Euler. | |
Gleichzeitig ist das Stück eine Kritik daran, dass wir Menschen in Europa | |
unsere Augen vor der grausamen Realität an den Grenzen Europas | |
verschließen. | |
Anstelle auf die Betroffenen zu hören und ihnen einen Neuanfang in | |
Sicherheit und Geborgenheit zu ermöglichen, schotten wir uns zunehmend ab | |
und reproduzieren entmenschlichende Erzählungen über Menschen aus dem | |
globalen Süden. Dadurch würden wir unsere eigene Moral und unsere eignen | |
Werte über Bord werfen, so Letonja. | |
11 May 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://www.schwankhalle.de/de/veranstaltungen/steptext-la-mer-en-moi | |
[2] /!5883811/ | |
[3] https://www.theaterbremen.de/de_DE/ensemble/kossi-sebastien-aholou-wokawui.… | |
[4] https://letonja.de/ | |
## AUTOREN | |
Sarah Lasyan | |
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