# taz.de -- Techno-Album von Speaker Music: Arbeitskräfte der Zukunft | |
> Der US-Produzent Speaker Music veröffentlicht das neue Album „Techxodus“. | |
> Das überführt sein Buch „Assembling a Black Counter Culture“ in Musik. | |
Bild: Illu „The Ancient and the Rhythmanalyst“ von AbuQadim Haqq für das A… | |
„Workers of the Future Operating the Machinery of a New Reality“ ist der | |
Titel eines Gemäldes des [1][US-Illustrators AbuQadim Haqq,] das von Ferne | |
an die Industrieästhetik der Neuen Sachlichkeit erinnert. Das Bild wurde | |
digital erstellt und stammt von 2019. Bekannt wurde Haqq als Illustrator | |
von Alben und 12inches des [2][Detroiter Technoduos Drexciya]. | |
Seine Bildsprache wirkte aktiv mit an der SciFi-Anmutung der elektronischen | |
Musik und ihrer geheimnisvollen, oft in fiktionalen Unterwasserwelten | |
angesiedelten Titeln. Sie spielen auf eine Sage an, wonach die Babys von | |
schwangeren Sklavinnen, die bei ihrer Verschleppung aus Westafrika in die | |
USA während der Überfahrt über Bord geworfen wurden, in der Tiefsee | |
überlebt hätten und als Fabelwesen mit übersinnlichen Kräften weiterwirken. | |
2020 ist aus dieser Erzählung auch die erste von mehreren Graphic Novels | |
geworden, in denen Haqq mit dem japanischen Anime-Autor Dai Satō die | |
Drexciya-Vorstellungswelten zu Superheldengeschichten ausgearbeitet hat. | |
Im Bildvordergrund von „Workers of the Future“ sind vier Schwarze in | |
dunkelgrünen Overalls zu sehen. Zwei tragen Kopfhörer. Alle vier machen | |
sich an einer von dunklen Wolkenkratzern umgebenen Maschine zu schaffen. | |
Von ihr zeigt ein Rohr in Richtung eines fernen, von gleißend hellen Ringen | |
umkränzten Planeten. Haqqs Gemälde ziert das Cover von DeForrest Brown Jrs. | |
Sachbuch „Assembling a Black Counter Culture“. Mit ihm erzählt der in | |
Kanada lebende US-Musiker und Autor die Geschichte von Detroit Techno aus | |
afroamerikanischer Perspektive. | |
## Richtung Weltraum | |
Sein Buch ist ein Steinbruch, manchmal etwas fußnotenlastig, bisweilen | |
schlampig lektoriert, aber oft informativ. Es ist das Ergebnis einer großen | |
Rechercheleistung. In den Tiefen des Netzes verstreut publizierte Essays | |
und Interviews zum Thema Detroit Techno und seine internationale Rezeption | |
hat der Autor in seine Forschung eingebettet. | |
DeForrest Brown Jr. aktualisiert damit nicht nur die Geschichte einer | |
ökonomisch prekären Musikszene, sondern bereichert damit auch das | |
kulturelle Wasteland des US-Musikdiskurses. Auslöser war der politische und | |
juristische Backlash nach dem Abebben der Black-Lives-Matter-Proteste in | |
den USA, erklärt Brown Jr. Mit seinem Buch wolle er dem Schulterzucken | |
[3][angesichts der Diskriminierung von Schwarzen etwas Positives | |
entgegensetzen]. | |
## Divergierende Sichtweise | |
Sein Buch erzählt die Self-Empowerment-Geschichte von Detroit Techno, | |
bislang fast ausschließlich von britischen und deutschen Autor:Innen | |
geschildert. In Europa ist Detroit Techno umkultet, während die Musik in | |
den USA ein Randphänomen geblieben ist. DeForrest Brown Jrs. Sichtweise ist | |
divergierend. Anders als etwa [4][der britische Autor Simon Reynolds], | |
sieht er Detroit Techno nicht als Teil des „Hardcore Continuum“, der | |
schnell ändernden Stile und Moden des britischen Dancefloors an. Ein | |
ausführliches Kapitel hat Brown Jr. der Geschichte des Duos Drexciya | |
gewidmet. | |
Unter seinem Künstlernamen Speaker Music veröffentlicht DeForrest Brown Jr. | |
nun auch ein [5][eigenes neues Soloalbum: „Techxodus“ setzt die | |
Zusammenarbeit mit AbuQadim Haqq] auf musikalischer Ebene fort. Musik und | |
Illustrationen ergänzen sich und funktionieren wie ein Epilog zum Buch und | |
dessen Thesen. | |
Der taz schreibt Speaker Music: „Haqqs Bild ist im Jahr 2100 angesiedelt, | |
Maschine und Personal spiegeln die Hörerfahrung wider, also die | |
Möglichkeit, durch Musik aus der tristen Gegenwart in eine bessere Zukunft | |
katapultiert zu werden, ohne dass man sofort Assoziationen hat, wie diese | |
Musik klingt.“ | |
## Bereichernd für Körper und Geist | |
Der Albumtitel „Techxodus“ setzt sich aus den Worten Technologie und Exodus | |
zusammen. „Besondere Aufmerksamkeit lege ich auf den positiven Effekt, den | |
Technologie auf Körper und Geist ausüben kann. Ich beziehe mich hierbei auf | |
ein Konzept von Rayvon Fouché und Nettrice Gaskins, die in diesem | |
Zusammenhang von ‚Black vernacular technological creativity‘ gesprochen | |
haben.“ Speaker Music bezeichnet damit den Einfallsreichtum und den | |
D-i-Y-Geist, der am Anfang der Detroiter Technoszene zwangsläufig entstand: | |
Den Produzent:Innen sei es gelungen, einer kulturellen, segregierten | |
und ökonomischen Wüste mit moderner Technik zu entfliehen. | |
In den mittleren Achtzigern lag Detroit wirtschaftlich und sozial am Boden. | |
Weiße Mittelklasse zog in Scharen in Vorstädte, während innerstädtische | |
Bezirke verödeten und ihre schwarze Bevölkerung zunehmend verarmte. Die | |
Autoindustrie entließ massenhaft Personal, auch die Plattenfirma Motown, | |
einst von Schwarzen in Detroit gegründet und längst in Kalifornien | |
ansässig, wurde von einem Investor gekauft und an die Wand gefahren. Die | |
lokale Musikszene darbte. | |
Technopioniere wie der Produzent Juan Atkins machten aus Mangel an | |
Labelunterstützung im rudimentär ausgestatteten Homestudio mit wenigen | |
Analogsynthesizern und einem Sequenzer Musik, nahmen diese mit | |
Kassettenrekorder auf und arrangierten die Tapes auf Vierspur-Mischpulten. | |
Ihre Musik brachten sie auf Kleinstlabels heraus. „Detroit Techno lieferte | |
damit eine Antwort auf die Automatisierung der Großindustrie und | |
Massenentlassungen in der Stadt.“ Die Musiker benutzten moderne Technik | |
lieber selbst, als dass ihre Arbeitskraft von der Technik überflüssig | |
gemacht wurde. | |
## Letzte Station vor der Freiheit | |
Detroit ist nicht nur von der Autoindustrie, den Migrationsbewegungen aus | |
dem Süden und den ökonomischen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts geprägt. | |
Im 19. Jahrhundert hatte es bis weit nach Ende des US-Bürgerkriegs eine | |
besondere Bedeutung als letzte Station auf der Fluchtroute der | |
Schleuserorganisation Underground Railroad. Von Detroit aus wurden | |
entflohene Sklaven und Schutzsuchende Schwarze über den Fluss Detroit River | |
nach Kanada gebracht, wo sie sicher vor Verfolgung und rassistischer Gewalt | |
waren. | |
Das stilbildende Detroiter Technolabel Underground Resistance hat seinen | |
Namen daran angelehnt. „Die Stadt hat große Bedeutung für die Geschichte | |
des Schwarzen Amerika, Detroit Techno ist Teil davon. Auch meine Musik | |
spricht aus einem Verständnis, wie Black Music durch meine Familie von | |
Süden nach Norden gewandert ist. Meine Verwandtschaft stammt aus Birmingham | |
in Alabama. Und von dort sind sie nach dem Abebben der | |
Civil-Rights-Bewegung nach Detroit, Chicago und New York migriert.“ | |
Als Kind hat Brown Jr. Trompete in einer Blaskapelle gespielt. Er habe mit | |
dem Schreiben begonnen, weil er nicht einverstanden damit war, wie wenig | |
sinnlich vielerorts über Musik geschrieben wurde. | |
## Auftritt Dr. Blowfin | |
In den beiden Illustrationen vom Speaker-Music-Albumcover hat AbuQuadim | |
Haqq die Figur des Drexciya-Wissenschaftlers „Dr. Blowfin“ an die Seite | |
eines jungen Mannes gestellt, der DeForrest Brown Jr. ähnlich sieht. | |
Vielleicht auch eine Anspielung auf den britischen Autor Kodwo Eshun, | |
dessen Buch „Heller als die Sonne“ Blaupause für das Schreiben von | |
DeForrest Brown Jr. ist. Auf der Frontseite des Albums ist eine kreishafte | |
Timeline zu sehen, die Speaker Music wiederum der [6][Drexciya-Mythologie] | |
entlehnt hat und das Überleben der Unterwasser-Wesen in einer | |
subaquatischen Stadt verortet. | |
Auch die Tracktitel erinnern an Drexciya und andere Tropen des | |
Afrofuturismus und heißen etwa „Holosonic Rebellion“, „Techno-Vernacular | |
Phreak“ oder „Futurhythmic Bop“. Wo das Duo Drexciya in seiner Musik an | |
Funk, Bionic-Boogie und Electrosound anknüpfte, klingt Speaker Music | |
tumultuös und rumorend. Statt der uptempo Straightness von Detroit Techno, | |
channelt Speaker Music einerseits Jazz und zeitgenössische | |
Dancefloorstile wie Footwork. Andererseits läuft auf inspirierende Weise | |
in seinem Sound wie in einem Mikado-Ausgangswurf alles durcheinander. | |
Momente, die an Freejazz-Energy-Drumming erinnern, werden von geisterhaften | |
Hallfahnen und Noise-Ausbrüchen abgelöst. Aber forcierte | |
Rhythmus-Exerzitien, Samples von afrikanischen Chants, stehende Töne und | |
zischelnde Hihats rühren die geisterhafte Atmosphäre zu etwas sehr | |
Eigenständigem an. | |
## Musik mit Technologie zum Sprechen bringen | |
„Meine Musik bringe ich durch die Technologie zwar zum Sprechen, aber es | |
geht mir nicht darum, auf Geräte als Fetische abzuheben. Ich kreiere Sound | |
mit der digitalen Klangsphäre der Musiksoftware Ableton und abstrahiere | |
damit nichtquantisierten Touchpad-Audio-Input von meinem iPad. Alle Tracks | |
wurden mehrfach aufgenommen und bei Auftritten im Livekontext | |
weiterentwickelt. Durch das Zwischenspeichern hat sich allmählich eine | |
unheimliche Latenz im Beatdesign ergeben.“ | |
Besonders drastisch und verzerrt klingt die Klangästhetik beim | |
Körperfresser-Track „Dr. Rock’s PowerNomics Vision“. Aus ihm wehen | |
Stimmfetzen von scheinbar fernen Galaxien herüber, Drucklufthupen-Stabs | |
werden durch 1.000 Echokammern gejagt und wirblige Drums sorgen quer zum | |
melodiösen Geschehen für maximale Unruhe. Und trotzdem klingt „Techxodus“ | |
nie zu schwer oder zu ausgedacht. Die Musik mag in erhöhter | |
Alarmbereitschaft sein, DeForrest Brown Jr. klingt trotzdem gechillt. | |
„Musik interessiert mich, wenn sie jenseits von stereotypen Genrebegriffen | |
existiert.“ | |
Speaker Music veranschaulich mit „Techxodus“ und seiner vitalen | |
Ernsthaftigkeit den Titel zum Gemälde „Arbeitskräfte der Zukunft bedienen | |
Geräte einer neuen Realität“. Keine geringe Leistung. | |
17 Aug 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Neuer-afroamerikanischer-Comic/!5686227 | |
[2] /Elektronischer-Unterwasserkosmos/!5102766 | |
[3] /Elektronikproduzent-ueber-Lage-der-USA/!5739260 | |
[4] /Musikessays-von-Simon-Reynolds/!5953526 | |
[5] https://speakermusic.bandcamp.com/album/techxodus | |
[6] /Afrofuturismus-Schau-in-Dortmund/!5493592 | |
## AUTOREN | |
Julian Weber | |
## TAGS | |
Techno | |
Detroit | |
Neues Album | |
Buch | |
Chicago | |
Jazz | |
elektronische Musik | |
Installation | |
Museum | |
Musik | |
Black Lives Matter | |
Schwerpunkt Rassismus | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Chicagoer Produzent Traxman: Sounds, die die Beine kreisen lassen | |
Im Kopf eines Elektronikproduzenten: Das Album „Da Mind of Traxman“ des | |
Chicagoer Künstlers Traxman verbindet Uptempohouse mit virtuosen | |
Dancemoves. | |
Jazzalbum von Jeff Parker: Adrenalin, ohne Wurzeln zu schlagen | |
„The Way out of Easy“, ein unglaublich tolles neues Jazzalbum von dem Jeff | |
Parker ETA IVtet, ist inspiriert von den Klangwelten des HipHop. | |
Nkisi live bei Berlin Atonals Openless: Die Zukunft des Trommelns | |
Nkisi verbindet kongolesische Musik mit Industrial zu polyrthythmischen | |
Arrangements. Am Samstag performt sie Berlin Atonals Openless Festival. | |
Künstlerin Sandra Mujinga in Leipzig: Zwischen Alien und Ding | |
Sandra Mujingas kreatürliche Installationen im Museum der bildenden Künste | |
Leipzig erzählen von einem Zusammenleben über Spezies und Zeit hinweg. | |
Techno-Museum in Frankfurt am Main: Geschichten zurechtrücken | |
Richtiger Schritt, richtiger Ort: Eine Ausstellung im MOMEM in Frankfurt am | |
Main durchleuchtet die Techno-Verbindungen zwischen Detroit und Berlin. | |
Vier Bilanzen des Popjahres 2021: Melancholie in Lichtgeschwindigkeit | |
Einige wollten es nicht wahrhaben, aber Pop stand 2021 im Zeichen der | |
Coronapandemie. Sie lähmte das Biz und machte sich im Sound bemerkbar. | |
Elektronikproduzent über Lage der USA: „Systematische Benachteiligung“ | |
Der New Yorker Künstler DeForrest Brown Jr. tritt beim Berliner Festival | |
CTM auf. Hier spricht er über Kybernetik als Waffe und Techno-Automation. | |
Neuer afroamerikanischer Comic: Die Wellenspringer schlagen zurück | |
Der schwarze Atlantis-Mythos von Drexciya träumt sich aus der Sklaverei in | |
ein Science-Fiction-Abenteuer. Jetzt erschien ein prachtvoller Comic. |