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# taz.de -- Tagebuch-Roman von Dirk von Lowtzow: Aus dem Schlund am Friedrichsh…
> In seinem Buch „Ich tauche auf“ skizziert Tocotronic-Sänger Dirk von
> Lowtzow auch die Phase des Lockdowns. Ein Leben ohne Auftritte.
Bild: Der Volkspark Friedrichshain im Frühling 2021
Erinnern wir uns noch an die Tage der Entschleunigung? Als das Leben
stillzustehen schien. Bars, Restaurants, Kinos, Theater und Konzerthallen
während der Pandemie schließen mussten. Keine Reisen mehr. Für viele war es
ein gewaltiger Einschnitt. Man musste seine Gewohnheiten ändern. Zweisame
Spaziergänge statt gesellige Runden. Parks und städtische
Naherholungsgebiete erlebten eine Renaissance.
Vieles was zuvor Spaß versprach, galt nun als risikobehaftet. Immerhin nahm
für kurze Zeit die Feinstaubbelastung ab. Branchen standen ökonomisch unter
Druck. Vielen Freischaffenden in der Kultur oder der Gastronomie ging es
schlecht.
Bereits 2019 hatte Tocotronic-Sänger und Autor Dirk von Lowtzow [1][in
seinem ersten Buch „Aus dem Dachsbau“ von Kindheit und Jugend] in der
Schwarzwald-Hölle erzählt. In literarischen Miniaturen hier den Aufbruch
geschildert und das was ihn biografisch und künstlerisch prägte.
„Ich tauche auf“ ist nun eine Art Fortsetzung. Als das Buch zwischen Verlag
und Autor vereinbart wurde, war die Pandemie nicht in Sicht. Und auch
nicht, dass [2][das schon komponierte 13. Tocotronic-Album „Nie wieder
Krieg]“ erst nach dem Ausbruch eines Angriffskriegs Russlands gegen die
Ukraine erscheinen würde.
## Schlafender Seehund unterm Bett
Für von Lowtzow hatte das Schreiben während der Pandemie sicherlich etwas
Tröstliches. „Ich tauche auf“ nimmt die chronologische Form eines Tagebuchs
ein. In der Aufzeichnung vom 25.Januar 2021 protokolliert er: „Es ist
unvorstellbar, aber ich habe seit über einem halben Jahr meine Gitarre
nicht angefasst. Der schwarze Koffer liegt unter dem Bett wie ein
schlafender Seehund. Ich wage nicht, ihn zu wecken, geschweige denn, sein
Maul zu öffnen. Es ist gut möglich, dass ich mir durch mein Verhalten
alles, was ich mir die letzten Jahre aufgebaut habe, verdorben habe. Der
Lord of Song bemerkt meine Verachtung. Er schweigt, doch er verzeiht
nicht.“
Die Leser werden sich bei der Lektüre von „Ich tauche auf“ an eine Phase
erinnern, die noch nicht weit zurückliegt und den Alltag allgemein
bestimmte. „22.März Berlin: Im Park versuche ich, entgegenkommenden
Spaziergängern weiträumig auszuweichen, und komme mir dabei vor wie eine
Figur in einem Videospiel.“
Und er erzählt von seinen Ausflügen ins Umland zu den archaisch anmutenden,
stillgelegten Rieselfeldern im Nordosten Berlins: „29. März Berlin: J. Und
ich machen eine Expedition ins Marschland. Wir parken neben einem kleinen
Imbiss, wie immer, wenn wir diese seltsame Landschaft aufsuchen, die dort
beginnt, wo Berlin aufhört. Jenseits der elektrischen Zäune steht eine
Gruppe von Eseln. Die Tiere blicken verschämt zu uns herüber, als hätten
sie vor Kurzem etwas ausgefressen.“
Doch von Lowtzow ist kein Naturalist. Er versieht auch die Rieselfelder,
ehemalige Kloake von Berlin, mit einer geheimnisvollen Stimmung: „Wir haben
eine verbotene Zone aufgesucht, in deren Zentrum wir alles über unser
Schicksal erfahren konnten.“ Zu diesem Tagebuch-Eintrag findet sich auf der
gegenüberliegenden Seite eine assoziativ wirkende Schwarz-Weiß-Fotografie.
Sie zeigt eine kleine Fußgängerbrücke, die über einen von dichtem Wald
umsäumten, schmalen Kanal mit Sumpfgräsern führt.
## Bären-Vignetten
Neben einigen vom Autor selbst gezeichneten Bären-Vignetten, sind dem Buch
weitere atmosphärisch wirkende Aufnahmen beigefügt. Von Kellern,
zerknautschter Bettwäsche, Containern am Straßenrand. Vom Himmel, von Ästen
und Bäumen. Sind die Motive Hinweise auf eine Pararealität, wie sie bereits
Lars von Trier in der Miniserie „The Kingdom“ (1994) inszenierte und der
Bilderwelt des Mainstreams entgegensetzte? Schwarze Romantik?
Es stellt sich auch die Frage, wie stark man diese Literatur biografisch
deuten sollte. Der Autor erzählt von Begegnungen mit Künstlerinnen und
Musikern oder spricht über das, was er gerade liest. Und er gibt Einblicke
in die erstaunlichen Assoziationsketten seiner Gedankenwelt.
„Im August des Jahres 2019 komponierte ich im Schatten eines Baumes an
einem Brandenburger See, dessen Liegewiese von mit Runen tätowierten
Badegästen in Beschlag genommen war, in Gedanken das Lied Sirius,“ erinnert
er sich in einer Rückblende. Zuvor hatte er notiert: „Auch die Hitze machte
mir zu schaffen, besonders in den letzten Tagen des August, den Tagen des
Sirius, des Hundsterns, über den W. G.Sebald zu Beginn der ‚Ringe des
Saturn‘ schreibt.“ Sebald, Von Lowtzow und ein Brandenburger See.
## Ich ist ein Dritter
Die szenische Verkettung des Besonderen mit dem Alltäglichen macht die
Notizen auf unprätentiöse Weise vielschichtig lesbar. In einer knappen
Szene konfrontiert Theaterintendant René Pollesch den Autor: „Du bist erst
dann zufrieden, wenn es in deiner Wahrnehmung nicht mehr du bist, der da
singt, sondern ein Dritter.“
Ich ist ein Dritter. Eine elektrisierende Erkenntnis, attraktiv für einen
Autor, der in seinen Songs zuweilen nicht nur von Schatten, sondern von der
eigenen Hand gejagt wird.
Das Irdische, das Außerirdische und das Transzendente. Der lyrische Schlund
kann den Musiker und Autor in die geheimnisvolle Unterwasserwelt Undines
führen oder direkt zum Tocotronic-Song „Ich tauche auf“, dessen Titel das
Buch trägt. Dieses Ich will kein Bildungsbürger sein. Doch konstatiert es
auch: „Entdeckungen und Verweise machen die Arbeit erst zu dem, was sie
ist.“
11 Mar 2023
## LINKS
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[2] /Neues-Album-der-Band-Tocotronic/!5827238
## AUTOREN
Andreas Fanizadeh
## TAGS
Tocotronic
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