| # taz.de -- Neues Album von „Tocotronic“: Über die Dörfer fliegen | |
| > Vorwort, Kindheit, Erwachsensein, Zukunft, Nachwort: Das Autobiografische | |
| > ist in „Die Unendlichkeit“ Konzept. Es ist das zwölfte Album der Band. | |
| Bild: „Tocotronic“ ist der Inbegriff der Hamburger Schule | |
| Mit einer Begegnung endete das bisher letzte, „rote“ Album von Tocotronic. | |
| Dirk von Lowtzow begegnet Dirk von Lowtzow, verbringt mit seinem Alter Ego | |
| die Nacht in einer Naturkulisse voll romantischer Bilder zwischen | |
| Fruchtbarkeit und Verfall. „Sein Innerstes quillt nach außen“, heißt es da | |
| vieldeutig. Versteht man dieses Innerste als persönliche Erfahrungen, liegt | |
| es nun, ein Album später, auf dem Seziertisch. Denn das neue | |
| Tocotronic-Werk ist ein Konzeptalbum: „Es ist eine Autobiografie, meine | |
| Biografie“, stellt von Lowtzow im Gespräch klar. | |
| Die mit überbordenden Naturmotivik durchsetzte halluzinöse Selbstbegegnung | |
| des Hidden Tracks von 2015 erfährt dabei eine 180-Grad-Wende. Der Titel des | |
| neuen Albums „Die Unendlichkeit“ führt nur scheinbar den psychedelischen | |
| Anklang von „Date mit Dirk“ weiter. Denn was nun geschieht, wird ganz | |
| konkret: „Darstellungsrealistisch“ nennt Dirk von Lowtzow die | |
| Herangehensweise auf Tocotronics Album Nummer zwölf. | |
| Die Band, 1993 in Hamburg gegründet, ist bekannt als Liebling von | |
| Intellektuellen, Inbegriff der Hamburger Schule, erwachsen gewordener | |
| Teenager-Outbreak-Traum. In Internetforen und Dissertationen wird | |
| Neuerfindungen wie Inszenierungsstrategien dieser Band nachgegangen. | |
| Seit ihrem Debüt „Digital ist besser“ (1995) wurden Tocotronic zu den | |
| Meistern des sloganartigen Popsongs, von „Pure Vernunft darf niemals | |
| siegen“ bis „Die Revolte ist in mir“ oder „Wie wir leben wollen“. Der… | |
| der Band ging vom alltäglichen Erlebnis zur analytischen Verklausulierung | |
| und Parolenhaftigkeit. Dennoch versteht die Band ihren aktuellen Ansatz | |
| nicht als „Back to the roots“-Gedanken: „Die ersten vier Alben, die wir in | |
| den 90ern gemacht haben, waren auch autobiografisch. Weil sie sehr | |
| persönlich waren und unseren Alltag in Platten gegossen haben. Da waren wir | |
| sehr mitteilungsintensiv.“ | |
| Jugendlichem Leichtsinn sei das geschuldet gewesen, meint von Lowtzow. Nun | |
| das Autobiografische als striktes Konzept: Vorwort, Kindheit, | |
| Erwachsensein, Zukunft, Nachwort. Das funktioniere nur, weil Tocotronic | |
| mittlerweile mehr als ihr halbes Leben zusammenspielen und der 46-jährige | |
| Protagonist der Erzählung etwas hat, auf das er zurückblicken kann. | |
| Und so erzählt dieser von der badischen Provinz, in der er aufgewachsen | |
| ist, davon, nach Hamburg zu gehen, von durchzechten Nächten, davon, | |
| jemanden zu verlieren, gerettet zu werden, zu lieben. Der Wendepunkt heißt | |
| wie das Jahr, in dem er stattfand „1993“, das Jahr der Bandgründung und von | |
| Lowtzows Weggang aus der „Schwarzwaldhölle“. Er beginnt mit einer | |
| „Alarmsirene“, wie Jan Müller, Tocotronic-Bassist, zugibt: ein | |
| Vocoder-Effekt, der markiert, dass hier etwas Einschneidendes passiert. In | |
| den Songs davor stehen die Jugenderfahrungen im Mittelpunkt: Das Ich als | |
| Außenseiter, wie das Stück „Hey du“ mit einer der wütendsten Zeilen | |
| verdeutlicht: „Bin ich etwas, das du nicht kennst / dass du mich Schwuchtel | |
| nennst? / Ist mein Stil zu ungewohnt / für den Kleinstadthorizont?“ | |
| „Ich war als Kind ziemlich schmächtig und unsportlich und habe sehr | |
| gelitten unter der Demonstration von Stärke und Dominanzverhalten von | |
| männlichen Mitschülern. Mit 12 oder 13 Jahren hab ich eine E-Gitarre | |
| geschenkt bekommen, und das klingt kitschig, aber sie war meine Rettung“, | |
| erklärt von Lowtzow auch den Song „Electric Guitar“. Darin nimmt das | |
| Teenager-Ich durch das Musikersein eine Identität an und findet auch | |
| körperlich zu sich: „Ich zieh mir den Pulli vor dem Spiegel aus / Teenage | |
| Riot im Reihenhaus.“ Eine Erfahrung, die nicht nur von Lowtzow kennt. | |
| Parallel fanden Arne Zank und Jan Müller (heute Schlagzeug und Bass bei | |
| Tocotronic) ihren Ausweg in Rock ’n’ Roll oder Hardcore-Punk, Rick McPhail | |
| (heute Keyboard) im US-Ostküstenstaat Maine im Punk. Die archetypische | |
| Rockbandbesetzung aus Schlagzeug, Bass, Gitarre und Keyboard produziert bei | |
| Tocotronic längst nicht mehr bloß Rock. Wie abwechslungsreich und | |
| überraschend deutschsprachiger Indie-Rock sein kann, zeigten die Künstler | |
| mindestens seit den epischen, synthesizergesteuerten Instrumentalpassagen | |
| auf „K.O.O.K.“. | |
| Auf „Die Unendlichkeit“ gesellen sich zu McPhails intensiven Gitarren nun | |
| auch Farfisa- und Hammond-Orgeln, Streicherarrangements, diverse | |
| Synthesizer, Stimmverzerrung und andere Effekte. Mit Toningenieur Moses | |
| Schneider ergründen Tocotronic weiter, wie sich Musik und Text aufeinander | |
| beziehen können, nicht illustrativ, sondern assoziativ: „Die Erzählungen | |
| rufen oft eine Musik ins Gedächtnis, die wir alle gehört haben in der Zeit, | |
| zu der der Text spielt“, sagt von Lowtzow. | |
| Die Bandmitglieder sind in unterschiedlichen Ecken der Welt groß geworden, | |
| ihre musikalische Sozialisation ähnelt sich aber. So verstehen sie etwa die | |
| Überdrehtheit des US-Postpunk-Trios Hüsker Dü, die sich in den | |
| Tocotronic-Track „Wilder Wirbel“ geschrieben hat: „Der Song hat das Gefü… | |
| der ersten erfüllten Liebe zum Gegenstand, und wie man dadurch in einen | |
| Rausch gerät. Man denkt, dass man durch das Gefühl der Liebe aus dem | |
| Provinzalltagstrott emporgehoben werden kann. Die Vorstellung, wie in einem | |
| Wirbel über die Dörfer zu fliegen. Hüsker Düs Wirbeligkeit hat eine enorme | |
| Emotionalität“, so von Lowtzow. | |
| Über ihr jetziges Konzept sagen Tocotronic: „Man darf sich nicht durch die | |
| Hintertür wieder raustricksen. Wenn man diesen Weg wählt, dann setzt man | |
| einen Prozess in Gang, der hat etwas Analytisches oder Therapeutisches. Man | |
| durchlebt etwas noch mal.“ Trotz des Credos zeichnen sich große Strecken | |
| von „Die Unendlichkeit“ auch dadurch aus, dass allzu Eindeutiges kunstvoll | |
| verschleiert wird. So ist nicht nur gewährleistet, dass die Band Kollektiv | |
| bleibt und von Lowtzows Erfahrung ein Stück weit für alle vier gelten | |
| können, sondern auch, dass HörerInnen sich die geschilderten Gedanken und | |
| Gefühle zu eigen machen können. | |
| In den Songs, die die früheste Erinnerung zum Thema haben, lösen einzelne | |
| Bilder die durchgehende Erzählung ab: „In den Bäumen rauscht der Wind / Du | |
| bist noch ein Kind / In die Brückenpfeiler / saust bestimmt /ein Lied.“ | |
| Zulässig sei diese Abstraktion, meint Bassist Müller und von Lowtzow fügt | |
| hinzu: „Dass ich mich selbst mit einem ‚Du‘ anrede, erscheint mir an der | |
| Stelle logischer. So wird auch der Erwachsene deutlich, der auf das Kind | |
| blickt – der, der man jetzt ist.“ Viel Wahrheit steckt darin, interpretiert | |
| hier nicht nur der 46-jährige von Lowtzow seine Erfahrungen, sondern | |
| konstruiert seine Erinnerungen im Nachhinein zu solchen, die ihn geprägt | |
| haben. In anderen Worten: Wäre er nicht Musiker, sondern Handwerker | |
| geworden, würde er sich nicht an die erste E-Gitarre, sondern an seinen | |
| ersten Schraubendreher erinnern. | |
| Damit erzählt dieses Album „Die Unendlichkeit“ letztendlich mehr über das | |
| „Jetzt“ des Erinnernden als über das „Gestern“. Die Vergangenheit wird… | |
| weit offengelegt, wie es für die Identitätskonstruktion ausschlaggebend | |
| ist. Somit holen Musik und Songtexte auch die Interpretationshoheit über | |
| das eigene Ich zurück, die in „Hey du“ fremdgedeutet wird. Am Ende dieses | |
| Albums fühlt man sich diesen Menschen, die da „Ich“ sagen, vertrauter als | |
| zuvor. Doch beginnt man dann, „Die Unendlichkeit“ noch einmal zu hören, | |
| findet man sich plötzlich in der allzu tocotronischen Doppelbödigkeit | |
| wieder, offenbaren sie doch bereits im Epilog: „Ich habe dich vielleicht | |
| belogen / Und zwar immer dann / wenn wir uns am nächsten waren.“ | |
| 26 Jan 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Diviam Hoffmann | |
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