| # taz.de -- Tocotronic-Konzert in Berlin: Scheitern, scheitern, scheitern | |
| > Grundsolide Performance mit erstaunlicher Hitdichte: Tocotronic spielt | |
| > zum Abschluss ihrer Tour in Berlin – mit wenig Spektakel und viel Seele. | |
| Bild: Im Zweifel gegen das Spektakel: Die Bühnenshow von Tocotronic bleibt sch… | |
| BERLIN taz | Zitate sind so etwas wie die Grundbausteine einer jeden guten | |
| Pop-Inszenierung. So geht das Adidas-Polyesterjäckchen | |
| (Erwachsenen-Edition), das Dirk von Lowtzow trägt, als er am Montagabend um | |
| kurz nach neun die Bühne betritt, wohl locker als erstes Zitat eines | |
| referenzreichen Abends durch. Mit Trainingsjacken aus Herzogenaurach, | |
| damals in der abgeranzten Variante, hatte alles angefangen bei Tocotronic, | |
| als sie 1993 auf der Bildfläche erschienen. | |
| Nun stellt die Gruppe „Die Unendlichkeit“, [1][ihr bereits zwölftes Album], | |
| vor. Und feiert Jubiläum: „25 Jahre Tocotronic!“ ruft von Lowtzow triumphal | |
| und mit krächzendem Baritontimbre zwischen zwei Songs aus, einen | |
| Sternenhimmel als Bühnenhintergrund im Rücken, eine große, einsame | |
| Discokugel wie den Mond über sich. Zwei Abende nacheinander spielten | |
| Tocotronic zum Tourabschluss in der ausverkauften Berliner Columbiahalle. | |
| Sie sind eine der letzten Konsensbands, auf die sich das | |
| liberal-progressiv-humanistische (call it what you want) Spektrum einigen | |
| kann; und sie sind längst ihre eigene Referenz. | |
| Auf „Die Unendlichkeit“ erzählt Sänger und Gitarrist von Lowtzow seine | |
| eigene Geschichte – die des Provinzjungen, der sich neu erfinden, sich | |
| selbst erfinden kann, als der Pop in sein Leben tritt. Das Schlüsselstück | |
| „Electric Guitar“ spielen Tocotronic gleich als zweites, darin ist wiederum | |
| zitatreich vom „Teenage Riot im Reihenhaus“ und von der „Manic Depression | |
| im Elternhaus“ die Rede. Aber es geht nicht nur um von Lowtzows, es geht um | |
| unser aller Erweckungserlebnisse – viel treffender kann man die Jugend | |
| vieler Anwesender wohl nicht beschreiben, wie auch im später noch folgenden | |
| „Hey Du“. | |
| Das Set, das Tocotronic in den insgesamt knapp zwei Stunden spielen, passt | |
| gut zu dieser Erzählung der Selbstbehauptung, Selbstbefragung und | |
| Selbstverortung. Mit den Stücken „Drüben auf dem Hügel“, „Ich bin viel… | |
| lange mit Euch mitgegangen“ und „Letztes Jahr im Sommer“ gibt es die ganze | |
| Palette an Adoleszenz-Songs, die sie im Angebot haben. Sie erzählen vom | |
| Zweifel als ständigen Begleiter – dafür müssen sie den Song „Im Zweifel … | |
| den Zweifel“ gar nicht spielen. Und sie erzählen von Neuanfängen, vom | |
| Wiederaufstehen – zum Beispiel in „This Boy Is Tocotronic“. | |
| ## Politische Mutmacher mit Klassenfahrtfeeling | |
| Tocotronic geben aber auch die Mutmacher: „Scheitern, scheitern, | |
| scheitern“, ruft von Lowtzow aus, nein, das sei gar nichts Schlimmes: „Nur | |
| wenn wir uns unsere Schwächen eingestehen, können wir uns näherkommen, auch | |
| auf der Tanzfläche“, sagt er und schlägt die erste Akkorde von | |
| „Kapitulation“ an. Auch in politischer Hinsicht sind Tocotronic Mutmacher, | |
| so rufen sie etwa dazu auf, Mitglied der Menschenrechtsorganisation Pro | |
| Asyl zu werden, mit der sie kooperieren. | |
| Abgesehen vom stellaren Bühnenbild gibt es wenig Inszenierung, nur bei „Sag | |
| alles ab“ entsteht durch das Licht ein cooler Zeitraffereffekt. Text und | |
| Musik stehen im Vordergrund, so wie eigentlich immer bei Tocotronic, und | |
| wie eigentlich immer ist es ein grundsolides Konzert mit erstaunlicher | |
| Hitdichte. Viel anders als auf den Alben sind die Stücke dabei nicht. Etwas | |
| ausgedehnter, etwas mehr Live-Überraschung dürften sie dem Publikum ruhig | |
| mal zumuten. | |
| Ein bisschen Klassenfahrtfeeling stellt sich bei Tocotronic-Konzerten ein, | |
| die Besucher singen viele Texte wie im Schlaf mit. Die etwas peinlichen | |
| Momente fängt von Lowtzow mit Ironie ein. Nachdem jemand als Gipfel der | |
| Selbstvergewisserung „Nazis raus“ anstimmen will, sagt von Lowtzow nur | |
| trocken: „Du nimmst mir das Wort aus dem Mund.“ | |
| Erfreulich gut ist der Auftritt der ersten Band des Abends, Ilgen-Nur – die | |
| Band um die Gitarristin und Sängerin gleichen Namens. Dass die 22-jährige | |
| Hamburgerin im vergangenen Jahr erst ihre Debüt-EP veröffentlicht hat, | |
| merkt man kein bisschen: Sehr selbstbewusst rockt sie ihre Slackersongs | |
| runter, wird von Stück zu Stück besser. Vor allem die letzten beiden | |
| Lieder, „Cool“ und „No Emotions“, zeigen ihr Potenzial und lassen hoffen | |
| auf die Next-Indie-Generation. | |
| Das große Spektakel ist dieser Konzertabend nicht, aber das muss er auch | |
| gar nicht sein. Als Tocotronic um kurz vor elf die Bühne nach der dritten | |
| Zugabe (natürlich „Freiburg“) endgültig verlassen, hat man einige Déjà-… | |
| durchgemacht, rekapituliert, woher man kommt, wer man war, wer man ist, als | |
| hätte man noch mal eine kleine Evolution durchlaufen. Und man hat sich in | |
| der Hitze des Konzertabends einiges von der Seele getanzt. Es endet mit | |
| Gitarrenfeedback – und natürlich mit einem Zitat. Dirk von Lowtzow leiht | |
| sich einen Albumtitel von Albert Ayler und gibt ihn uns mit in die Nacht: | |
| „Music is the healing force of the Universe.“ Verdammt, ja. | |
| 17 Apr 2018 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jens Uthoff | |
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