# taz.de -- Tocotronic-Sänger über Antisemitismus: „Es gibt noch zu wenig S… | |
> Dirk von Lowtzow ist Pate der Aktionswochen gegen Antisemitismus der | |
> Amadeu Antonio Stiftung. Er spricht über Verantwortung und das Politische | |
> in der Kunst. | |
Bild: Nach dem Attentat von Halle: Solidaritätsgesten vor der Neuen Synagoge B… | |
taz: Herr von Lowtzow, beim Aktionstag #UnplugAntisemitism wird es um | |
Antisemitismus in der Popkultur gehen. Hat Kunst überhaupt eine | |
gesellschaftliche Verantwortung – oder nur die Akteurinnen und Akteure, | |
die sie hervorbringen? | |
Dirk von Lowtzow: Das ist eine hochkomplexe Frage, die ich für mich noch | |
nicht erschöpfend beantworten konnte. Über die Verantwortung von Kunst, die | |
Politizität und gesellschaftliche Wirkmacht von Kunst kann man sich | |
jahrzehntelang den Kopf zerbrechen, und das haben weisere Menschen als ich | |
auch schon getan. Ich finde aber schon, dass die Akteure eine Verantwortung | |
haben. | |
Wir sehen ja an einer Tat wie dem Anschlag von Halle, wie dringend | |
notwendig das ist. So ein rechtsextremistischer Terrorangriff wird als | |
„Alarmsignal“ gewertet, was lachhaft ist, denn Alarmsignale gibt es genug, | |
und das schon seit Jahrzehnten. Deshalb finde ich es wichtig, sich | |
gesellschaftlich gegen Antisemitismus, Rassismus und Antifeminismus zu | |
positionieren. | |
Aber nicht notwendigerweise in der Funktion des Künstlers? | |
Wenn sich eine Band wie Tocotronic zivilgesellschaftlich engagiert, zum | |
Beispiel für Pro Asyl oder eben für die Aktionswochen gegen Antisemitismus, | |
dann sickert das ohnehin irgendwie in die Kunst ein. Einen konkreten Song | |
zum Thema zu machen, ist ein bisschen, wie eine Hausarbeit zu schreiben, | |
eher unangenehm und misslich. Aber ich will nicht ausschließen, dass es | |
gelingen kann. Für meinen Geschmack sind wissenschaftliche Arbeit, Analyse | |
und Theorie fast besser geeignet, um Themen wie Antisemitismus zu | |
bearbeiten. | |
Wie sollte man Ihrer Auffassung nach mit Kunstschaffenden umgehen, die | |
antisemitische Stereotype verbreiten? | |
Ich fände es ethisch geboten von großen Plattenfirmen, so einen Dreck nicht | |
mehr zu veröffentlichen. Aber ich befürchte, dass das nicht so große | |
Auswirkungen hätte. Dann gründen Künstler halt eigene Labels, das meiste | |
läuft eh über Streamingplattformen. Plattenfirmen spielen heute nicht mehr | |
die Rolle, die sie früher gespielt haben, Songs verbreiten sich auch ohne | |
ihr Zutun. | |
Es ist sehr schwer, die Verbreitung antisemitischer Inhalte zu unterbinden | |
– es sei denn, sie sind ganz klar strafrechtlich relevant, und meistens | |
schrammen ja solche sogenannten Künstler immer haarscharf an der Grenze des | |
Legalen entlang, genau wie Rechtspopulistinnen und Rechtspopulisten. Ich | |
bin kein Jurist und kann nicht sagen, ab wann Kunst strafrechtlich relevant | |
ist, wann Instrumente wie eine Indizierung greifen müssen – wobei wir ja | |
auch wissen, dass das die Sache für eine bestimmte Klientel eh nur | |
interessanter macht. Umso wichtiger ist sachkundige Aufklärungsarbeit, die | |
der Aktionstag der Amadeu Antonio Stiftung am 15. Oktober leistet. | |
Verbote sind also nicht hilfreich? | |
Es ist wichtig, dass Diskussionen angestoßen werden. Deshalb fand ich es | |
gut, dass über die Vergabe des Nelly-Sachs-Preises an die Autorin und | |
BDS-Unterstützerin Kamila Shamsie debattiert wurde. Bislang war BDS ja eher | |
ein Phänomen im Popbereich, das sich auf Veranstaltungen wie das Berliner | |
Pop-Kultur-Festival ausgewirkt hat. Eine breite, bildungsbürgerliche | |
Öffentlichkeit hat die BDS-Debatte vielleicht nicht mitbekommen, das hat | |
sich nun geändert. | |
Wie bewerten Sie die Entwicklung, dass Kunstschaffende, die sich zu BDS | |
bekennen, ihrerseits immer häufiger „zurückboykottiert“ werden – wie et… | |
die Band Young Fathers, die im vergangenen Jahr von der Ruhrtriennale | |
ausgeladen wurde? | |
Ich kann nur für mich sprechen: Ich habe mich entschlossen, | |
BDS-Unterstützer zu boykottieren, ich kann mir nicht mehr guten Gewissens | |
ihre Musik anhören oder ihre Bücher lesen. Da fällt es einem schon schwer, | |
Person und Werk zu trennen. | |
Fänden Sie es also richtig, BDS-Unterstützern gar keine Bühne mehr zu | |
bieten? | |
Das kommt immer auf den Kontext an. Natürlich darf jeder | |
Konzertveranstalter eine Band einladen, auch wenn sie BDS unterstützt. Es | |
gibt da ja auch Abstufungen, was die Radikalität betrifft. Aber ein | |
Festival wie die Ruhrtriennale ist ein staatlich subventioniertes Event. | |
Ich finde es schon skandalös, wenn Künstler dort auftreten dürfen, die eine | |
vom Bundestag als antisemitisch eingestufte Organisation unterstützen. Das | |
kann sich kein staatlich gefördertes Festival erlauben, und das ist richtig | |
so. | |
Im vergangenen Jahr wurde im Zuge der Echo-Verleihung an die Rapper | |
Kollegah und Farid Bang viel über Antisemitismus im HipHop diskutiert. In | |
den Workshops des Aktionstags #UnplugAntisemitism geht es nun auch um | |
Antisemitismus in anderen Genres, etwa Noise und Hardcore. Welche | |
Berührungspunkte haben Sie in ihrem kreativen Umfeld mit dem Thema? | |
Antisemitismus kommt ja sehr vielfältig daher. Ich kenne schon Künstler, | |
vor allem aus dem englischen Sprachraum, mit denen man sehr schwer über BDS | |
und Israel diskutieren kann, weil sie von einem extremen Misstrauen und | |
Ressentiment gegenüber Israel heimgesucht sind. | |
Der Attentäter von Halle hat seinen Anschlag live auf Twitch übertragen, | |
einem Portal, auf dem sich die Gaming-Szene vernetzt. Haben wir es | |
verpasst, in bestimmten Szenen genauer hinzuschauen? | |
Ich würde da auf die sehr interessante Studie „Digitaler Faschismus“ von | |
Maik Fielitz und Holger Marcks verweisen, die untersucht, wie soziale | |
Medien zur Faschisierung beitragen und ein willkommenes Transportmittel | |
sind, zumindest mehr als ein neutraler Container. Ich selbst habe zu | |
bestimmten Phänomenen auch keinen Zugang. Aber die Verknüpfung von sozialen | |
Medien, Gaming, einer bestimmten Form von politisch unkorrekter Satire, | |
Spielen mit Doppeldeutigkeiten – all diese Kulturtechniken können | |
sicherlich zur Radikalisierung von Tätern beitragen. Aber man muss immer | |
betonen: zusätzlich zur gesamtgesellschaftlichen Stimmung, die durch eine | |
Partei wie die AfD geschaffen wird. | |
Alexander Gaulands „Vogelschiss“ oder die Forderung nach der „Entsorgung�… | |
von Migrantinnen und politischen Gegnern wäre noch vor einigen Jahren | |
undenkbar gewesen. Eine solche Rhetorik führt zur Entgrenzung und kann nur | |
als Aufforderung zum Mord verstanden werden. Da ist es wichtig – und das | |
geschieht noch viel zu wenig –, klar Solidarität mit den in Deutschland | |
lebenden Jüdinnen und Juden zu zeigen. | |
15 Oct 2019 | |
## AUTOREN | |
Julia Lorenz | |
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