| # taz.de -- Tocotronics neues Album „Golden Years“: Vom Versuch, sich Mut z… | |
| > Bye-bye Berlin: Tocotronic bleiben auf ihrem neuen Album „The Golden | |
| > Years“ melancholisch. | |
| Bild: Arne Zank, Dirk von Lowtzow und Jan Müller (v.l.n.r.) | |
| Wie sprechen mit einer Band, über die alles – wirklich alles – gesagt ist? | |
| An der man haften bleibt und gleichzeitig abprallt. Die dazu beigetragen | |
| hat, eine linke Haltung so dezent, so filigran in die Pop-DNA dieses Landes | |
| einzuspeisen, dass man heute manchmal gar nicht mehr weiß, wo zwischen | |
| Linkssein und Pop die Grenze verläuft. | |
| „Hallo“, sage ich zur Begrüßung. „Hi, hi, hi,“ entgegen alle drei Mus… | |
| sehr höflich. Wir sitzen in einem Interviewraum des Majorlabels Sony Music | |
| in Berlin. Tocotronic sind nach 14 Jahren bei dem Sublabel Vertigo vom | |
| Universal-Konzern nun also zu Epic gewechselt, einem Sublabel, das wiederum | |
| zum Sony-Konzern gehört. | |
| Das neue Tocotronic-Werk, „Golden Years“, ist – in einem Satz – ein | |
| widersprüchliches Album. Nach dem musikalisch versierten, autobiografisch | |
| geprägten [1][Konzeptalbum „Unendlichkeit“ (2018)] und dem verletzlichen, | |
| [2][während der Coronapandemie erschienenen „Nie wieder Krieg“ (2022)] – | |
| veröffentlicht, kurz nachdem Russland die Ukraine überfiel – erhofft sich | |
| die Band nun „positive Ereignisse“, wie Schlagzeuger Arne Zank erklärt. | |
| ## Der kalte Mundkuss für rechts | |
| Also gut, gleich nachgefragt: Ist die eingängige Single-Auskopplung „Denn | |
| sie wissen, was sie tun“, die sich auf rechts außen bezieht, eine | |
| pazifistische Mahnung? Darin singen Tocotronic: „Wenn wir sie auf die | |
| Münder küssen / Machen wir sie schneller kalt“. Das sei kein Pazifismus, | |
| versichert Bassist Jan Müller, sondern ein „Protest-Song“. | |
| Und Sänger Dirk von Lowtzow pfeffert nach: „Es ist fast eine | |
| Tötungsfantasie. Jemanden auf den Mund zu küssen, sodass man ihn kalt | |
| macht, bedeutet, dass man dem Gegenüber die Luft zum Atmen nimmt.“ Das | |
| stünde im Widerspruch zur Aussage davor, „aber niemals mit Gewalt“. Also | |
| eher nicht so positiv, sondern typisch tocotronisch verdreht? Vieles auf | |
| dem Album ist typisch tocotronisch. | |
| Da ist der ruhige, melancholische Auftaktsong „Der Tod ist nur ein Traum“, | |
| der so eine Drehung im Songtext vollführt: „Du kannst mir fast vertrauen“. | |
| Das Wort „fast“ – in so einem bedeutungsvollen Satz. Dieses Coole, immer | |
| schon Durchreflektierte, verstärkt auch Dirk von Lowtzows | |
| ostentativ-näselnde Stimme über einer Bassvibration. Das war schon immer | |
| typisch Tocotronic. Hingabe ja, aber nur gebrochen. | |
| ## So richtig Hamburger Schule | |
| In diesem Sinne vertraut „Golden Years“ auf Altbewährtes. „Denn sie | |
| wissen, was sie tun“ hat im Post-Chorus eine markige Basslinie, getragen | |
| von einem hellen Gitarrenanschlag, von Lowtzow betont jeden Buchstaben ein | |
| bisschen extra, ein dudeliger, unaufdringlicher Song; erinnerungswürdig, | |
| aber auch zum Vergessen, so richtig Hamburger Schule. | |
| „Mein unfreiwillig asoziales Jahr“ bekommt durch von Lowtzows ruhige, tiefe | |
| Stimme, die dann schnell mal hoch singt und dann wieder extra tief, | |
| natürlich auch über einer Bassvibration, so ein ironisches Pathos, das man | |
| auch von Tocotronic kennt. | |
| Dann sind da die starken Songs „Bye-bye Berlin“ und „Der Seher“, Erster… | |
| mit waschechter Punk-Bassline und fetzigen Gitarrenakkorden, was zarte | |
| Erinnerungen an die ersten vier Alben weckt. Aber nur zarte. Ein paar Dinge | |
| sind auch neu auf „Golden Years“: Max Rieger, Sänger unter anderem von Die | |
| Nerven, hat das Album produziert. | |
| Nach Fertigstellung der Produktion bat außerdem Gitarrist Rick McPhail nach | |
| 20 Jahren als Teil der Band um eine Auszeit, „aus gesundheitlichen | |
| Gründen“, wie mitgeteilt wurde. Mehr wollen Tocotronic dazu nicht sagen. | |
| Gitarrist Felix Gebhard wird die Band auf der kommenden Tour live | |
| verstärken. | |
| ## Schräg und schön | |
| Zuletzt war es Schlagzeuger Arne Zank, der Aufmerksamkeit erregte, als er | |
| eine Solo-EP veröffentlichte: „Dasu Isuto Aresu“. Musikalisch irgendwo | |
| zwischen DJ Kozes Songwriter-House, Japan-Pop, Acid, Jazz, und Dub: | |
| experimentell, elektronisch, schräg. Und schön. | |
| Was hat es auf sich mit „Golden Years“? Zunächst ist es auch der Titel | |
| eines David-Bowie-Songs vom Album „Station to Station“ (1975). Darin wird | |
| eine Begleitung vom lyrischen Ich beschworen, geschützt und abgeschirmt: | |
| „In the back of a dream car twenty foot long“ weist in eine bessere | |
| Zukunft, fahren Richtung „golden years“. | |
| Diese Art von Zweckoptimismus bringt die fahle Stimmung des | |
| Tocotronic-Albums vielleicht auf den Punkt. Viele Lieder haben einen | |
| hellen Gitarrensound, zeigen unbeschwert nach vorne. Nur wollen die | |
| Songtexte nicht so recht dazu passen. „Vergiss die Finsternis“ heißt ein | |
| Song, ein anderer „Bleib am Leben“. Das klingt verzweifelt. „Vergiss die | |
| Finsternis“ ist Verdrängung, eher Todesangst als Optimismus. | |
| Zu einigen Songs des Albums will man deshalb keinen Zugang finden. | |
| Musikalisch klingt vieles einen Tick zu bekannt, zu routiniert. Was nicht | |
| heißt, dass das Album als Ganzes schlecht ist. „Ich baue stapelweise Mist / | |
| Bin ein verklemmter Hedonist“, solche Zeilen gibt es, und sie sind gut. | |
| Auch musikalisch funktionieren viele der neuen Songs. Doch zu gegensätzlich | |
| sind teils Songtexte und Musik, zu depressiv letztlich die Melange aus | |
| Positivität und Verzweiflung. | |
| ## Melancholisches lyrisches Ich | |
| Auf „Golden Years“ klingt das an, was Erich Kästner mal „Die kleine | |
| Freiheit“ nannte und Walter Benjamin „linke Melancholie“, eine Stimmung, | |
| die man in allen Gedichten Kästners nachlesen kann: Darin versucht ein | |
| melancholisches lyrisches Ich, sich selbst Mut zuzureden. Es sucht das | |
| Glück in der Badewanne, im zwanghaften Optimismus, in der Vermeidung. | |
| Auch in der zweiten Strophe von „Golden Years“ – eingebettet in so ein | |
| helles, gitarrenlastiges Lied mit Country-Einschlag – gibt es eine Szene, | |
| so von Lowtzow, wo der Protagonist im Zug sitzt und die Sonne steigt über | |
| die Gleise: „Das ist wie im Film so ein zufälliges Hereinbrechen des | |
| Jenseitigen in den Alltag durch einen Beleuchtungswechsel.“ | |
| Dieser Eskapismus ist auch reflektiert: Im kraftvollen „Der Seher“ singt | |
| von Lowtzow von dem „Hedonisten“, der gleichzeitig ein Seher ist. Nur, was | |
| sieht er eigentlich? Während seiner Tour zu „Station to Station“ gab David | |
| Bowie ein Interview, in dem er, wie auch an anderen Punkten seines Lebens, | |
| Begeisterung für den Faschismus ausdrückte. Noch im selben Gespräch deutete | |
| er an, er habe es nicht so gemeint. | |
| Das kennt man heute von Leuten wie Höcke oder Kickl. Darauf kommen auch | |
| Müller und von Lowtzow zu sprechen, auf die Taktik der Neuen Rechten. „Sich | |
| aus der Verantwortung ziehen“, so sagt es Müller, ganz bewusst. | |
| ## Finstere Miene bei von Lotzow | |
| Aber: So seherisch wirkt das auch nicht, diesen Zusammenhang zu erkennen. | |
| Und: arbeiten Tocotronic nicht schon immer genau so? Die Band, die in Songs | |
| wie [3][„Aber hier leben? Nein danke“] im Antifaschismus gleich die Heimat | |
| an sich schredderte. Aber so geschickt, dass man sich immer rausreden kann. | |
| Müller und von Lowtzow gucken ziemlich finster, wenn das Gespräch auf die | |
| AfD kommt. So sehr, dass, wenn von Lowtzow von „Ressentiment“ spricht, man | |
| nicht weiß, ob er diesen Begriff nun analytisch meint oder selbst fühlt. | |
| Wie staatstragend sind Tocotronic? Eine provokante Frage. Man positioniere | |
| sich gegen rechts, während Corona für Impfungen, nach dem 7. Oktober gegen | |
| Antisemitismus. Das spiele nicht so eine Rolle, meint Müller. Nur etwas | |
| nicht zu tun, „weil es sich zufällig mit den Interessen des Staates | |
| überschneidet“, sei zynisch, erklärt von Lowtzow. „Das ist das Bedürfnis, | |
| auf Teufel komm raus egdy sein zu müssen.“ | |
| Aber Tocotronic sind doch edgy? Wie gehen die Künstler damit um, jung | |
| geblieben und im Mainstream angekommen zu sein? „Dagegensein gehört zu | |
| unserer DNA“, sagt Müller, „aber wenn man als Band mit politischen Themen | |
| konfrontiert ist, ist es nicht mehr jugendlich, dann ist es kindisch.“ In | |
| dem Fast-Punk-Song „Bye-bye Berlin“ klingt die Edgyness auch auf „Golden | |
| Years“ noch einmal durch. | |
| ## „partying at the end of history“ | |
| „Dein Berghain brennt“ heißt es darin, das druckvollste Lied. Nur „Der | |
| Seher“ ist noch runder, tanzbarer. „Bye bye Berlin“, das auf das | |
| postmoderne Gemälde „Bye bye Berghain“ des US-Malers Austin Martin White | |
| rekurriert, nach Selbstaussage „a painting about partying at the end of | |
| history“, ist ein Abgesang auf Berlin, den Tocotronic so nicht verstanden | |
| wissen möchten. Auch die Uckermark fällt im Song als Option weg. Schon | |
| wieder eine Entfremdung. Aber wohin geht es dann? In den Tod? Er ist auf | |
| „Golden Years“ so häufig Thema wie bisher noch nie bei Tocotronic. | |
| Am Ende bleibt nur die Negativität als Option. Und dazu: Etwas „partying at | |
| the end of history“. | |
| 8 Feb 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jens Winter | |
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